Rechnen mit Aristoteles

Trotz eines budgetierten Defizits von 41 Millionen Franken schreibt die Stadt Bern in der Rechnung 2021 einen Überschuss von fünf Millionen Franken gut. Leider löst das kein Problem. Nicht einmal, wenn Aristoteles mitrechnet.

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Stirn in tiefen Falten: Finanzdirektor Michael Aebersolds Sorgen trotz schwarzer Zahlen. (Bild: Sandro Arnet)

Es sei unwahrscheinlich, dass der Stadtberner Finanzdirektor Michael Aebersold (SP) plötzlich schwarze Zahlen verkünde, schrieb die «Hauptstadt» in ihrem morgendlichen Brief am Donnerstag. Wir hatten einen Blick nach Zürich geworfen, wo der grüne Finanzvorstand Martin Leupi vor wenigen Tagen einen Überschuss von über 100 Millionen Franken verkündete (nachdem man mit einem Defizit von fast 300 Millionen Franken gerechnet hatte). Es werde unterhaltsam, schrieben wir, sollte Michael Aebersold das unwahrscheinlicherweise ebenfalls gelingen.

«Zur Wahrscheinlichkeit gehört auch, dass das Unwahrscheinliche eintritt», zitierte Aebersold an die «Hauptstadt» gerichtet den griechischen Philosophen Aristoteles, als er am Vormittag die Rechnung präsentierte. Weil: Aebersold präsentierte schwarze Zahlen für das Corona-Jahr 2021. Gut, eher ein Überschüsschen als einen Überschuss, aber immerhin: Schwarz, ein Plus im Umfang von gut fünf Millionen Franken, nachdem das vom Volk im Herbst 2020 gutgeheissene Budget ein Defizit von 41 Millionen Franken enthalten hatte. 

In echte Unterhaltungslaune geriet Aebersold trotzdem nicht. Bei einem Gesamtvolumen der städtischen Rechnung von 1,3 Milliarden Franken liege eine Budget-Ungenauigkeit von 46 Millionen Franken im nicht kalkulierbaren Toleranzbereich.

Aebersolds Stirnfalten

Die Steuerausfälle waren weniger hoch als befürchtet, und es resultierten unerwartete Steuererträge aus Grundstückgewinnen, Schenkungen und Erbschaften. Zudem gab es weniger Ausgaben, zum Beispiel für Kita-Betreuungsgutscheine, weil die Kitas wegen Corona weniger besucht werden konnten. Das sind Gründe, warum die Rechnung besser aussieht als befürchtet. Es sind Gründe, die sich wohl nicht wiederholen.

Deshalb legte Aebersold seine Stirn in tiefe Falten. Die Falten sind bedeutsam, weil Aebersold 2017 als lupenreiner Linker sein Regierungsamt angetreten hatte. Er betreibt etwa Wohnbaupolitik aus dem linken Lehrbuch, weil er eine aktive Rolle der Stadt auf dem Wohnungsmarkt engagiert befürwortet und die Zusammenarbeit mit Wohnbaugenossenschaften vorantreibt. 

«Zur Wahrscheinlichkeit gehört auch, dass das Unwahrscheinliche eintritt.»

Aristoteles

Gestern allerdings klang Aebersold wie einer, der der ausgabefreudigen rot-grünen Mehrheit im Stadtparlament präventiv ins Gewissen redete. Er hielt sich nicht lange mit dem Überschüsschen von fünf Millionen Franken auf, sondern kam direkt auf das finanzielle Hauptproblem für die Zukunft der Stadt Bern zu reden: die steigende Schuldenlast.

Paradoxe Situation

In den kommenden beiden Jahren rechnet die Stadt ohnehin wieder mit roten Zahlen, doch gravierender ist der unter 50 Prozent liegende Selbstfinanzierungsgrad der Investitionen. Laientauglich übersetzt: Unbestritten dringende Investitionen – etwa angesichts der wachsenden Schüler*innenzahlen in Schulhäuser oder in die maroden Schwimm- und Sportanlagen – kann die Stadt nur tätigen, wenn sie mehr als die Hälfte des dafür nötigen Betrags als Schulden aufnimmt, die wiederum verzinst werden müssen. 

Die Situation ist paradox: Die Investitionen der Stadt befinden sich gezwungenermassen auf Rekordhöhe, leisten könnte sie sich dies jedoch eigentlich nur, wenn sie laut Aebersold pro Jahr Überschüsse von 20 Millionen Franken oder mehr produziert. Davon ist sie meilenweit entfernt. Deshalb steigt gemäss den Prognosen die Schuldenlast bis 2026 auf 1,8 Milliarden Franken.

Aebersold kündigte gestern an, dass ihn der Gemeinderat beauftragt habe, ein weiteres Sparpaket ab 2025 anzudenken. Das dürfte nach den heftigen Sparübungen der letzten beiden Jahre für die rot-grüne Mehrheit nur schwer verdaulich sein.

Teufelskreis der Stadtfinanzen  

«Finanzdirektor Aebersold hat meine volle Unterstützung», sagt hingegen FDP/JF-Stadträtin Florence Schmid auf Anfrage. Sie gehört der Opposition an und findet die Finanzpolitik der rot-grünen Parlamentsmehrheit unverantwortlich. Es störe sie aber überhaupt nicht, den Linken Aebersold zu loben, wenn er ein Problem korrekt benenne.

Schulden könnten, wenn die Zinsen steigen, sehr schnell zu einer schwer beherrschbaren Last werden, die den finanziellen Handlungsspielraum einenge, warnt Steuerrechtlerin Schmid. Seit über 20 Jahren befindet sich die städtische Finanzpolitik in einer Art Teufelskreis.

Der rot-grünen Mehrheit gelang es zwar, die desaströsen Folgen der Rekorddefizite aus der bürgerlichen Zeit vor 1992 abzufedern und den städtischen Finanzhaushalt zu stabilisieren. Das war die Grundlage dafür, dass die Stadt, aus der die Menschen in den 1990er-Jahren abwanderten, wieder attraktiv wurde. Der Preis dafür bestand darin, dass man Investitionen in die Infrastruktur nach hinten verschob. Deshalb muss heute gleichzeitig die veraltete Infrastruktur erneuert werden, aber angesichts des Bevölkerungswachstums auch beispielsweise der Schulraum erweitert.

«Ich befürchte, dass wir nicht aus diesem Teufelskreis herauskommen, sondern tiefer in ihm versinken», sagt Florence Schmid. Es dürfe jedoch nicht wieder passieren, dass man nötige Investitionen verschieben müsse. weil man es nicht auf die Reihe kriege, die Ausgaben zurückzufahren. Nur so könne man regelmässig hohe Überschüsse erziele, mit denen man die Investitionen selber finanzieren könne.

«Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen.»

Aristoteles

Trotz der angespannten Lage rechnet die Stadt Bern fürs kommende Jahr mit der Schaffung von rund 50 neuen Stellen. Aebersold betonte, 38 davon seien sogenannte «gebundene« Stellen, also Stellen, welche die Stadt etwa aufgrund von Volksentscheiden schaffen müsse. Ein Beispiel: 2023 wird die neue Schwimmhalle eingeweiht und dort braucht es Hauspersonal.

«Konstruierte Finanzkrise»

Naturgemäss sieht die politische Seite, der Michael Aebersold entstammt, die Dinge komplett anders. Die SP will die neue Rechnung zuerst noch genauer analysieren, das Grüne Bündnis hingegen hat bereits Schlüsse gezogen: «Der Abschluss zeigt eindrücklich, wie stabil die Berner Steuereinnahmen sind – und wie konstruiert die Finanzkrise der letzten Jahre ist», schreibt das GB.

Es brauche nun eine unabhängige Untersuchung der bisherigen und künftigen Prognosen des Gemeinderats, «um die städtische Finanzpolitik wieder auf eine solide Grundlage zu stellen». Weitere Sparpakete, wie sie von Aebersold angemahnt werden, brauche es nicht. Das letzte sei das Resultat einer «kurzsichtigen Überreaktion». Stattdessen seien Investitionen in Klimaschutz und Service public nötig.

Was man sicher sagen kann: In Aristoteles hat Michael Aebersold in finanzpolitischen Fragen einen guten Freund gewonnen. «Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen», sagte der weise Grieche zum Beispiel auch. 

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