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Regierungsverantwortung? Nein danke.

SP und Grünes Bündnis gehen in Bern wegen des Demoverbots juristisch gegen ihre eigenen Gemeinderät*innen vor. Ein seltsames Vorgehen im Regierungsbündnis Rot-Grün-Mitte.

Demo Sonntag 10. Dezember
Demonstrationen sind in der Adventszeit in der Berner Innenstadt nicht erwünscht, so auch eine unbewilligte Demonstration am 10. Dezember. (Bild: Manuel Lopez)

Das Verbot für Grosskundgebungen und Umzüge, das die Berner Stadtregierung Anfang November verkündete, gilt noch bis Weihnachten. Die politische Kontroverse darum wächst sich aber aus zu einer politischen Krise im Regierungsbündnis Rot-Grün-Mitte (RGM), die sich ins bevorstehende Wahljahr hineinziehen wird. 

Das deshalb, weil die beiden Parteien SP und Grünes Bündnis (GB) nun sogar juristisch gegen das aus ihrer Sicht «faktische Demonstrationsverbot» der Stadtregierung vorgehen. Sie haben zusammen mit den Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern beim Regierungsstatthalteramt Beschwerde gegen den Gemeinderatsbeschluss und die Medienmitteilung vom 8. November eingereicht. SP und GB erhoffen sich laut einer Mitteilung vom Dienstag, dass der Gemeinderatsbeschluss als rechtswidrig eingeordnet wird.

Die beiden Parteien sind offensichtlich nicht zufrieden mit den Erklärungen und Einordnungen von Sicherheitsdirektor Reto Nause (Mitte) und Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) in der Stadtratsdebatte von Mitte November. Von Graffenried hatte damals kommunikative Fehler eingeräumt. Beide Gemeinderäte erklärten, dass trotz der restriktiven Richtlinie vom 8. November jedes einzelne Gesuch geprüft werde und kein generelles Demonstrationsverbot bestehe.

Konflikt mit den eigenen Gemeinderät*innen

Dass nun SP und Grüne juristisch gegen die Regierung vorgehen, wirft Fragen auf zur Funktionsweise des Regierungsbündnisses RGM. Die beiden Parteien haben mit Marieke Kruit (SP), Michael Aebersold (SP) und Franziska Teuscher (GB) im fünfköpfigen Gemeinderat eine Mehrheit. 

Wenn die beiden Parteien also nach den Erklärungen in der Ratsdebatte noch immer der Meinung sind, die Regierung müsse den Demoverbots-Entscheid ändern, sollten sie das eigentlich innerhalb der Regierung erwirken können.

Und was, wenn die drei Regierungsmitglieder von SP und GB gute Gründe haben, nicht auf den Entscheid zurückzukommen? Dann müssten sie ihre eigenen Parteien doch argumentativ überzeugen können, ihre Regierungsverantwortung gemeinsam wahrzunehmen und von einem juristischen Hickhack abzusehen. 

Beide Wege scheinen für RGM nicht zu funktionieren. Statt einer politischen Lösung suchen SP und GB im Konflikt mit ihren Gemeinderät*innen nun die juristische Assistenz von Regierungsstatthalterin Ladina Kirchen. 

Demo Sonntag 10. Dezember
Die Berner Kantonspolizei unterband am Sonntag 10. Dezember in Bern eine nicht bewilligte Kundgebung. (Bild: Manuel Lopez)

SP-Stadtrat Dominic Nellen begründet das Verhalten seiner Partei mit einer kategorischen Argumentation: Der Gemeinderat habe der SP keine andere Wahl gelassen. «Weil die Regierung den Entscheid bis zum Ablauf der Beschwerdefrist am 8. Dezember nicht zurückgenommen hat, blieb der SP nichts anderes übrig, als Beschwerde zu führen», sagt er zur «Hauptstadt».

Der Gemeinderat sei zwar nach dem Entscheid kommunikativ zurückgerudert, habe diesen aber nicht korrigiert. Damit bleibe die Signalwirkung bestehen. Die Beschwerde sei kein Misstrauensvotum gegen die eigenen Gemeinderät*innen, beteuert Nellen, sondern: «Das ist ein Misstrauensvotum gegen diesen Beschluss des Gemeinderats.» Die SP wolle verhindern, dass in Zukunft noch einmal ein solches Demoverbot ausgesprochen werde.

Auch das Grüne Bündnis sieht kein Problem darin, mit einer Beschwerde gegen die eigenen Regierungsmitglieder vorzugehen. So sagt Co-Fraktionschefin Lea Bill auf Anfrage: «Ja, SP und Grüne sind sich mit ihren Gemeinderät*innen nicht einig.» Man habe angeregt, dass die Regierung ihren Entscheid revidiert. Jetzt solle die Regierungsstatthalterin die Frage einschätzen: «Diese Differenzen sind nicht ungewöhnlich, da Parteien und Gemeinderäte unterschiedliche Rollen haben.»

Stadtpräsident sucht das Gespräch

Stadtpräsident Alec von Graffenried sieht das anders. Er zeigt sich sehr überrascht, dass SP und GB gegen den Demoverbots-Entscheid juristisch vorgehen. «Mir war nicht bewusst, dass nach der Debatte im Stadtrat und unseren Erläuterungen zum Entscheid vom 8. November noch Klärungsbedarf bestand», sagt von Graffenried zur «Hauptstadt» und ergänzt: «Ich hatte den Eindruck, die Sache sei erledigt, da von den Parteien SP und Grünes Bündnis auch niemand auf den Gemeinderat zukam und das Gespräch suchte.»

Er werde nun die beiden Parteien zum Gespräch einladen. «Ich stand und stehe für die Parteien immer für Gespräche zur Verfügung und will nun versuchen, die Sache zu klären», sagt von Graffenried.

Die Gemeinderät*innen Franziska Teuscher (GB) und Michael Aebersold (SP) wollen sich auf Anfrage nicht zur Beschwerde äussern und verweisen beide auf die Aussagen des Stadtpräsidenten.

Eine politische Klärung des Konfliktes innerhalb des Regierungsbündnisses, wie sie von Graffenried nun trotz eingereichter Beschwerden anstrebt, würde eine gute Diskussionskultur zwischen Parteien und Regierungsmitgliedern bedingen. Nimmt man die aktuellen Stellungnahmen der Protagonist*innen als Massstab, sind diesbezüglich Zweifel angebracht. 

Politisch brisant ist, dass die beiden Parteien SP und GB die Regierungsverantwortung just ein Jahr vor den städtischen Wahlen nicht mittragen wollen. Ein gut funktionierendes Regierungsbündnis könnte solche Differenzen wohl ohne juristischen Beistand der Regierungsstatthalterin lösen. So aber zeigen die beiden grössten linken Parteien, wie weit sie von ihren eigenen Gemeinderät*innen entfernt sind. Ein ziemlich befremdlicher Start ins Wahljahr, in dem die RGM-Mehrheit womöglich von einer grossen bürgerlichen Koalition herausgefordert wird.

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Diskussion

Unsere Etikette
Adrian Kim
16. Dezember 2023 um 11:18

Das Wort "Grundrechte" wird von den Linken Kreisen missbraucht und wird immer mehr zu einem Unwort. Zuerst kommt die Bundesverfassung und deren Zweck. Es gibt viele Grundrechte, welche teilweise ziemlich widersprüchlich bzw. schwierig unter einen Hut zu bringen sind. Dazu gehören auch die Bürgerrechte und Sozialziele, welche das ganze etwas präzisieren. Weihnachten mit den festlichen Aktivitäten und Anlässen ist ebenfalls ein Grundrecht. Ein Grundrecht, welches vor Weihnachten viel Platz beansprucht. Desshalb müssen andere Grundrechte kürzer tretten und können an anderen Jahreszeiten dafür mehr Platz einnehmen. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn jemand gegen das Demonstrationsverbot klagen würde. Somit hätte man dann juristische Klarheit und könnte allenfalls auch das Gesetzt anpassen oder präzisieren.

Ruedi Muggli
16. Dezember 2023 um 09:51

Joel Widmer scheint - meiner Meinung nach zu Unrecht - anzunehmen, dass es in einem heterogenen Wahlbündnis eine Art Führungsgremium gebe, das die Exekutivmitglieder zurückpfeifen könne. Beim vom Gemeinderat kommunizierten „Demoverbot“ geht es zudem um fundamentale grundrechtsfragen, die einer Klärung bedürfen. Hat sich der Gemeinderat vor seinem fragwürdigen Beschluss wirklich genügend rechtlich beraten lassen?

Kaspar Wyss
14. Dezember 2023 um 22:55

Eine etwas seichte und sehr verallgemeinernde Analyse legt hier die Hauptstadt vor. Ich wage zu behaupten, dass mindestens eine der beiden Parteien sehr wohl einig mit ihrer GR-Vertretung ist, dies aber aufgrund des Kollegialitätsprinzips nicht kommunizieren darf. Bei welcher Partei der Hund begraben liegt, lässt sich mit etwas journalistischem Elan bestimmt herausfinden...

Manuel C. Widmer
Grossrat / Lehrer / DJ

GB und vermehrt die SP haben den Schritt von der Oppositions- zur Regierungspartei 1992 zwar geschafft, gehen aber diesbezüglich seit einigen Jahren rückwärts. Immer häufiger opponieren diese beiden Parteien gegen die eigene Regierung – auch mit Abänderungsanträgen zu Vorlagen der Regierung. Da werden dann die Parteiprogramme ohne Rücksicht auf irgendwen- oder was in Regierungsvorlagen so eingefügt, dass diese am Schluss zu Scheitern drohen. Das Zeichen an die eigene WählerInnenschaft, dass man kein Millimeter von Maximalforderungen abrückt wird wichtiger als die Mehrheitsfähigkeit der Inhalte. Da stößt man auch mal Bündnis-Partnerinnen vor den Kopf – Hauptsache auf den Sozialen Medien kann kommuniziert werden, dass man „nicht eingebrochen sei.“ Kompromiss und Mehrheitsfähigkeit werden immer häufiger negativ konnotiert. Das Mitnehmen politischer Minderheiten geht dabei vergessen.

Leider sieht man vor lauter Innenwirkung die Aussenwirkung kaum mehr. Wie wärs denn mit zäme rede?