Die Mörderin ist immer die Autorin
Regine Frei schreibt Krimis, die in Bern spielen. Mal liegt die Leiche am Fuss der Nydeggtreppe, mal am Ufer des Egelsees. Eine Geschichte über das Geheimnis des perfekten Tatorts.
Es ist ein Tag wie jeder andere, als die unscheinbare Besitzerin eines kleinen Bed and Breakfasts tot am Ufer des Egelsees zusammenbricht. Es passiert in den frühen Morgenstunden. Die Wasseroberfläche liegt spiegelglatt da, nur ein paar Enten sind Zeugen des Geschehens – und ein Mann auf der anderen Uferseite.
Was ist passiert? Ist der Frau beim Mischen ihres geliebten Kräutertees ein fataler Fehler unterlaufen? Hat jemand ihre Leidenschaft brutal ausgenutzt? Führen die Spuren womöglich zu ihrer Brieffreundin nach Deutschland?
Es gibt nur eine Person, die genau weiss, was vorgefallen ist. Sie hat alle Fäden in der Hand, ist Zeugin und Mörderin zugleich: Regine Frei. Wenn die Polizei an ihre Grenzen kommt, dann blüht sie so richtig auf. Sie kennt die verwinkelten Gassen Berns und die Arbeitspläne der Bernmobil-Busfahrer. Sie weiss, wer die Nydeggtreppe fegt und wer im Tierpark die Robben füttert.
Regine Frei, 1965 in Visp geboren, schreibt seit über 20 Jahren Kriminalromane. Der Tatort: Bern. Mal liegt die Leiche am Fuss der Nydeggtreppe, mal vor dem Bernabrunnen beim Bundeshaus, mal am Ufer des Egelsees. «Die Faszination des Krimis», sagt Frei, «ist das Böse, das plötzlich an einem schönen Ort auftaucht.» Frei ist eine Meisterin darin, in den idyllischsten Orten den perfekten Schauplatz eines Verbrechens zu erkennen.
Regionalkrimis erleben derzeit einen Boom. 2019 registrierte das Verzeichnis lieferbarer Bücher in Deutschland mehr als 470 Neuerscheinungen. Was macht das Genre so beliebt? Und was erzählen Regine Freis Krimis über den Alltag in Bern? Ein Stadtrundgang mit der Autorin und Buchhändlerin führt uns zu ungewöhnlichen Tatorten und schafft einen Einblick, warum Krimis mehr Relevanz haben, als ihnen oft zugestanden wird.
Seit 1987 arbeitet Regine Frei in der Stauffacher-Buchhandlung in Bern. Da betreut sie bis heute die Krimi-Abteilung – wenn auch zunächst eher zögernd. Als Frei bei Stauffacher anfängt, kann sie mit dem Genre wenig anfangen. «Aber wenn du eine Abteilung betreust», sagt Frei, «dann hast du zwei Möglichkeiten: Entweder du staubst das Regal nur ab – oder du beschäftigst dich mit den Büchern, die dort stehen.»
Frei wählt die zweite Option. Sie tauscht sich mit Kund*innen aus, lernt den Unterschied zwischen Krimi und Thriller kennen und beginnt, sie selbst zu lesen. Wenn heute Kund*innen den Laden betreten und peinlich berührt sagen, der Ehemann lese eben «nur» Krimis, sagt Regine Frei: «Das sind nicht ‹nur› Krimis, das ist eine literarische Gattung.» Der schlechte Ruf des Krimis habe sich über die Jahre zum Glück etwas verbessert.
Es ist gegen Ende der 90er Jahre, als Frei mit einem Kunden über einen schlechten Krimi herzieht. Während sie lästern, spürt Frei auf einmal selbst die Ungerechtigkeit dieser Kritik: «Ich fragte mich: Kann ich es denn besser?», erinnert sie sich. «Was braucht es überhaupt, um einen guten Krimi zu schreiben?» Also beginnt sie 1999 mit dem Schreiben ihres ersten Romans, «Gerechtigkeit für Veronika». 2003 ist das Buch fertig. Frei bietet es auf gut Glück Verlagen an, wird aber abgelehnt, unter anderem mit der Begründung, das Buch sei zwar schön geschrieben, entspräche aber nicht dem typischen Kriminalroman. Frei sieht das positiv: «Ich dachte, wenn die Geschichte gut ist, nur nicht in ein Raster passt, ist das doch gut!» 2005 veröffentlicht sie das Buch bei der Self-Publishing-Plattform Books on Demand.
«Books on Demand» druckt Bücher nur so lange, wie ein Bedarf besteht. «Gerechtigkeit für Veronika» hält sich inzwischen seit 18 Jahren. Das ist länger, als Regine Frei jemals erwartet hätte. «Ein Buch ist ein Sandkorn in der Wüste. Ich bin dankbar, überhaupt so viele Leser*innen zu haben.» Wie viele das sind, kann Frei nicht genau sagen. Ihr jüngstes Buch, «Verlorenes Spiel», wurde 2022 in einer Auflage von 950 gedruckt. 800 Exemplare wurden seit Oktober an Buchhandlungen und Privatpersonen geliefert, davon gingen allein bei Stauffacher bisher 330 Stück über die Ladentheke.
Es ist ein besonders schöner Frühlingstag im März. Regine Frei bleibt am Ufer des Egelsees im Obstbergquartier stehen und fotografiert zwei Schwäne, die elegant über das Wasser gleiten. Sie trägt eine graue Übergangsjacke, ihre kurzen Haare, erzählt sie vergnügt, sind frisch geschnitten. Freis Blick schweift über den Spazierpfad am Ufer entlang zur Bank, auf der sie 2020 in ihrem Buch «Letzte Nachricht» die Leiche der Bed-and-Breakfast-Besitzerin platziert hat. Um die Geschichte glaubhaft erzählen zu können, ist Frei mit einer Freundin einmal um den See spaziert. Die Freundin hat den Tod des Opfers sogar nachgespielt, damit Frei von der anderen Seeseite aus beobachten konnte, wie viel der Zeuge tatsächlich sehen kann.
Die Inspiration für den Roman fand Regine Frei wie so oft in ihrem eigenen Leben. «Wen könnte ich umbringen?» Frei lacht, als sie sich auf die Tatort-Bank setzt. «Während ich mir diese Frage stellte, überlegte ich, was wohl passieren würde, sollte ich selbst zum Opfer eines Mordes werden. Immerhin habe ich 35 Brieffreundinnen auf der ganzen Welt verteilt – die armen Fahnder müssten ja den ganzen Briefverkehr durchgehen!» Auch in «Letzte Nachricht» führt eine der Spuren die Ermittler zu einer Brieffreundin der Toten.
Für jeden ihrer Romane betreibt Regine Frei intensive Recherche. Sie fragt bei der Polizei nach der Beschlagnahmung von Computern, läuft mit der Tierpflegerin im Dählhölzli mit und versucht herauszufinden, wer für die Rasenfläche unterhalb der Nydeggtreppe zuständig ist. «Einmal lag da über Tage hinweg ein verrostetes Fahrrad. Niemand kümmerte sich darum. Ich fragte mich, ob das wohl auch so wäre, wenn da eine Leiche liegen würde.» Sie hat Kontakt zu einem Ermittler beim Kriminaltechnischen Dienst und holt sich bei juristischen Fragen Rat bei einer Staatsanwältin.
Einen Krimi zu schreiben, erklärt Regine Frei, sei wie ein Puzzle. Einen Krimi zu lesen dagegen wie ein Kreuzworträtsel. Regionalkrimis gelten als leicht verdauliche Literatur, die den Lesenden eine schöne, übersichtliche Welt vorgaukelt. Thomas Hauschild, emeritierter Professor für Ethnologie, sieht darin eine Form der Flucht vor dem komplexen Weltgeschehen. Im Gegensatz zu aktuellen Kriegs- und Konfliktsituationen kann im Regionalkrimi einfach zwischen Gut und Böse geteilt werden. Auch Regine Frei spricht von «Wohlfühl-Krimis», wenn sie über ihre Arbeit spricht. «Gruusige» Geschichten, sagt sie, mag sie nicht.
Seit 2020 bringt Regine Frei ihre Bücher im Einfach-Lesen-Verlag heraus. Der Verlag befindet sich im Berner Matte-Quartier und wird seit 1996 von Rosmarie Bernasconi betrieben. Zum Verlag gehört auch eine kleine Buchhandlung. Bernasconi veranstaltet hier Vernissagen und Lesungen für ihre Autor*innen. Sie arbeite nach einem Fifty-Fifty-Prinzip, erzählt sie: Der Verlag übernimmt die Druckkosten, danach werden die Einnahmen des Buchverkaufs zwischen Autor*in und Bernasconi aufgeteilt.
Ähnlich wie einst Regine Frei, mag auch Rosmarie Bernasconi Krimis eigentlich nicht besonders. Als die Druckerei Gassmann, bei der Freis Krimis seit 2010 gedruckt wurden, jedoch die Zusammenarbeit aufkündigt, bietet Bernasconi Frei an, die Auslieferung ihrer Bücher zu übernehmen und das nächste Buch zu verlegen. Die Auflagen sind klein. 1000 Bücher gehen jeweils in Druck, viel Profit gibt es nicht. Für Verlegerin und Autorin steht die Leidenschaft ihres Schaffens im Vordergrund. «Die Krimis von Regine gefallen mir, weil sie nicht blutig sind», sagt Bernasconi. «Ausserdem hat sie eine so spannende Art zu schreiben, dass ich beim Layouten sogar aufpassen muss, dass ich nicht von den Geschichten abgelenkt werde.»
Dreh- und Angelpunkt: Stauffacher
Leser*innen besuchen Frei bei Stauffacher, um sich nach neuen Werken zu erkunden oder ihr Feedback zu geben. Einmal sei eine Staatsanwältin in den Laden gekommen, um Frei darauf hinzuweisen, dass die Staatsanwaltschaft in den Büchern fehlte. Seither ist die fiktive Staatsanwältin Therese Marti fester Bestandteil von Freis Geschichten. Aber es sind nicht nur Berner*innen, die Freude an Freis Geschichten finden. Im vergangenen Jahr hat sich über Facebook eine Leserin aus Bremen gemeldet und sogar eine Lesung bei sich zu Hause organisiert: «Sie hat ihre Klöppelgruppe dazu eingeladen», erzählt Frei. «Während die Frauen klöppelten, las ich aus meinem Buch vor.»
Stauffacher zur Mittagszeit. Das Klirren und Klappern von Geschirr und Besteck ist durch das Treppenhaus zu hören, im Café Littéraire im zweiten Stock riecht es nach Suppe und Quiche. Das Stimmengewirr der Gäste ist so laut, dass es fast unmöglich ist, fremden Gesprächen zu lauschen. Es sei denn, man setzt sich mitten in das Geschehen.
Das Café Littéraire ist ein immer wiederkehrender Schauplatz in Freis Romanen. Hier treffen sich ihre Charaktere zum Besprechen der Fälle, manchmal aber auch einfach nur zum Kaffeetrinken – so wie Frei es regelmässig tut. Dabei kommt es vor, dass ihr im Stimmengewirr plötzlich Geschichten zugetragen werden. 2016, erinnert sie sich, habe ein Mann am Nebentisch gerufen: «Den bring ich um, den ‹Cheib›!»
Es geht um eine Affäre, einen scheinbar nichts ahnenden Ehemann, eine zerrüttete Familie und die Frage, ob der Nachbar sich einmischen sollte. «Ich fragte mich», sagt Regine Frei, «wie lange geht einen sowas nichts an?» Später wird sich Frei zu Hause das Leben dieser Menschen ausdenken, ihnen Namen und eine Vergangenheit geben. Ihre Romane spielen im Raum der Frage «Was wäre, wenn…?» Die Möglichkeiten, wie sich eine Geschichte abspielt – und wie sie endet –, sind, einmal angefangen, unendlich.