Reitschule – Hauptstadt-Brief #411

Donnerstag, 9. Januar – die Themen: Gewalt, Anwaltsausbildung, Direktionsverteilung, Stadtratspräsidium, Schulmobiliar, Museum.

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(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

Das seit 1987 existierende autonome Kulturzentrum Reitschule schliesst aus eigenem Antrieb wegen mehrerer Gewaltvorfälle vorübergehend die Tore. Bis zum 22. Januar bleibt es für Besucher*innen geschlossen. In einer Medienmitteilung schreiben die Reitschul-Betreiber*innen, sie seien seit jeher mit den Folgen der Asyl-, Drogen- und Sozialpolitik konfrontiert. Aber: «In den vergangenen Wochen eskalierte die Gewalt um und in der Reitschule massiv.» 

Am 13. und am 28. Dezember 2024 kam es auf dem Vorplatz der Reitschule zu je einem gewalttätigen Streit, wobei je eine Person durch Schnitte schwer verletzt wurde. Beim einen Vorfall verlagerte sich die Auseinandersetzung im Nachgang sogar ins Reitschul-Restaurant Sous le Pont. Mitarbeitende der Reitschule leisteten laut einer Reitschul-Meldung auf Instagram erste Hilfe und versuchten zu deeskalieren. Diese Situation ist gemäss mehrerer Quellen für die Mitarbeitenden der Reitschulbetriebe sehr belastend. 

Für die Reitschule sind die Ursachen der Gewalt klar: «Eine repressive Asylpolitik, eine gescheiterte Drogenpolitik und der Abbau sozialer Infrastruktur haben zu einer unhaltbaren Situation geführt.» Konkret zeige sich dies in Drogendeal, Bandenkrieg, Perspektivlosigkeit sowie psychischem und sozialem Elend. «Wenn sich solch gewaltvolle Strukturen auf der Schützenmatte und dem Vorplatz etablieren, können wir unserem Anspruch als emanzipierter Freiraum nicht gerecht werden.» Man wolle nun Ressourcen bündeln sowie Perspektiven für die Wiederaufnahme des Gastro- und Kulturbetriebs schaffen.

Die Stadt Bern unterstützt die Reitschule über einen Leistungsvertrag finanziell. Diese Unterstützung ist Teil der städtischen Kulturbotschaft und deshalb ein Dossier der Stadtpräsidentin. Kaum eine Woche im Amt, nahm Marieke Kruit (SP) gestern auf Anfrage erstmals zu diesem heiklen Thema Stellung: «Der Entscheid der Reitschule für die temporäre Schliessung zeigt, dass auf allen Seiten ein Interesse besteht, Massnahmen gegen die aktuelle Situation zu finden.» 

Regelmässig trifft sich eine Delegation der Behörden mit Vertreter*innen des Kulturzentrums zum Gespräch – letztmals am 2. Dezember 2024. Nun suche der Gemeinderat, so Marieke Kruit, rasch erneut das Gespräch mit allen beteiligten Akteuren – insbesondere Reitschule, Kantonspolizei und weiteren städtischen Stellen. 

Laut Kruit geht die Gewaltentwicklung «in erster Linie von der Szene von vorwiegend ausländischen, im Drogendeal tätigen und selbst Drogen konsumierenden und teilweise bewaffneten und gewaltbereiten Menschen aus». Eine schnelle Lösung hat die Stadtpräsidentin nicht: «Die Ursachen für die aktuelle Situation liegen zu grossen Teilen in gesamtgesellschaftlichen Problemen, die sich am Brennpunkt Schützenmatte kristallisieren.» Man müsse ehrlich sein: «Wir werden als Stadt diese grundsätzlichen Probleme nicht allein lösen können.» Der Gemeinderat sei bei der Lösungsfindung zudem «an die geltende föderale Arbeitsteilung mit Bund und Kanton» gebunden. So verbiete etwa das übergeordnete Recht sogenannte Dealer-Corner. Diese hatte im Dezember eine Vernetzungsgruppe rund um die Reitschule gefordert.

Dennoch will die Stadt «weiter nach gezielten und umsetzbaren Massnahmen suchen». Hier steht laut Kruit «durchaus auch die Reitschule in der Verantwortung».

Federkleid auf Eis und Schnee (1)
Bilderserie von Liv Walker (3/12): Federkleid auf Eis und Schnee. (Bild: Liv Walker)

Und jetzt noch zu anderen Themen des Tages:

  • Anwaltsausbildung: Anwält*innen haben oft sehr respektable Löhne. Anders sieht es in der Ausbildung aus. Viele Anwaltspraktikant*innen arbeiten im Kanton Bern im Vollzeitpensum für 2000 Franken im Monat, wie meine Kollegin Jana Schmid in ihrem Artikel aufzeigt. Eine Gruppe Berner Jurist*innen fordert nun höhere Löhne für Praktika. Die Anwaltsausbildung im Kanton Bern lasse sich kaum ohne externe Mittel finanzieren. Das schaffe Ungleichheit. Beim Anwaltsverband und einem Teil der Kanzleien finden sie kein Gehör.
  • Direktionsverteilung: Stadtpräsidentin Marieke Kruit (SP) kritisiert Regierungskollege Alec von Graffenried. Dieser hatte sich im «Hauptstadt»-Interview enttäuscht über die Direktionsverteilung gezeigt. Statt seiner Wunschdirektion Finanzen bekam er von den Kolleg*innen die Sicherheitsdirektion zugeteilt. Sich unzufrieden über die Direktionsverteilung zu äussern, sei «nicht normal», sagte Kruit gestern gegenüber Radio SRF. «Wir sollten innere Differenzen im Gemeinderat ausdiskutieren und dann gegen aussen einheitlich und geschlossen auftreten.» Es liege aber in der Natur der Sache, dass eine Direktionsabteilung, in der alle Direktionen neu besetzt werden, zähflüssig sei, so Kruit.
  • Stadtratspräsidium: Die Fraktion Grünes Bündnis/Junge Alternative JA! hat Jelena Filipovic als kommende Vize-Präsidentin des Stadtrats nominiert. Das bestätigt diese auf Anfrage. Die Wahl erfolgt voraussichtlich an der ersten Parlamentssitzung am 23. Januar. Die seit 2021 im Stadtrat aktive Filipovic wird demnach im Jahr 2026 das Präsidium von Tom Berger (FDP) übernehmen, der das Amt Ende Januar dieses Jahres antritt.
  • Überbauung: Die Stadt Bern hat die Überbauungsordnung Weyermannshaus West öffentlich aufgelegt. In Ausserholligen soll ein dichtes und durchmischtes Stadtquartier mit rund 1000 Wohnungen, Gewerbe, Läden, Büros und Gastronomie entstehen, wie die Stadt gestern mitteilte. 
  • Schulmobiliar: Der Gemeinderat Zollikofen bewilligt für die Primarschule laut zwei Medienmitteilungen den Kauf von neuem Schulmobiliar im Umfang von 143'000 Franken und von neuen Beamern für 70’000 Franken.
  • Museum: Das Naturhistorische Museum Bern verzeichnete 2024 im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang an Besuchenden. Dennoch war es für das Museum mit 141'420 Besuchenden das drittbeste Jahr seiner Geschichte, wie es am Mittwoch mitteilte. Ab dem kommenden Herbst will das Museum in einer neuen Dauerausstellung Objekte wie Nashornschädel, Ammoniten und fossile Hölzer zeigen. Eine Ausstellung mit dem Titel «Mensch, Erde! Das Klima im Wandel» soll im Oktober eröffnen. 

PS: Religion und Lichtshow. Das bringt das Künstlerkollektiv Projektil bis zum 29. Januar in der Heiliggeistkirche zusammen und projiziert laut Veranstalter*innen Tag vier bis sieben der Schöpfungsgeschichte an die Kirchendecke. Heute Abend ist ab 18 Uhr die erste Vorstellung. Weitere kuratierte Ausgehtipps meiner Kollegin Andrea von Däniken findest du wie gewohnt im Bärner Nachtläbe.

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Diskussion

Unsere Etikette
Hans Joss
09. Januar 2025 um 16:15

«Wir werden als Stadt diese grundsätzlichen Probleme nicht allein lösen können.» Ja, hier ist ein professionelles Krisenmanagement gefragt, unabhängig von den politischen Mehrheitsverhältnissen in der Stadt Bern. Kurz-mittel-und langfristig, sollen spürbare Weiterentwicklungen möglich sein. Wahlslogan RGM stimmt nicht: "Bereit für Berns Zukunft". Da besteht beachtlicher Nachholbedarf. Im Aufarbeiten von Altlasten.