Frau sein nach der Flucht
Nour Abdin hat miterforscht, wie es um die Gesundheit geflüchteter Frauen steht. Ihre Arbeit zeigt: Diskriminierung, fehlende Privatsphäre und ungenügender Zugang zu Verhütungsmitteln belasten deren Alltag.
Vertrauen ist ein zentraler Faktor für Nour Abdin. Denn dieses braucht es, um Menstruation, Sexualität, Verhütung, Schwangerschaft und damit verbundene gesundheitliche Probleme zu thematisieren. Für eine Studie der Berner Fachhochschule (BFH) hat Nour Abdin als interkulturelle Dolmetscherin und Projektmitarbeiterin geflüchtete Frauen zu ihren Erfahrungen mit sexueller und reproduktiver Gesundheit in der Schweiz interviewt.
Nun sitzt Nour Abdin an einem Tisch im Berner Generationenhaus und fasst die Ergebnisse des im Mai erschienen Forschungsberichts zusammen, an dem sie als Co-Autorin beteiligt ist: «Für viele geflüchtete Frauen in Kollektivunterkünften ist es schwierig, schwanger zu sein. Gleichzeitig empfinden es viele auch als schwierig, nicht schwanger zu werden. Es ist schwierig, Mutter zu sein. Und es ist schwierig, Sexualität zu leben.»
Nour Abdin ist es wichtig zu betonen, dass es auch Frauen gibt, die dies anders erleben. Die für die Studie befragten Frauen hätten aber alle von gesundheitlich belastenden Situationen berichtet.
Erfahrung als Ressource
Vor zehn Jahren ist Nour Abdin mit ihren Eltern und Geschwistern aus Syrien in die Schweiz geflüchtet. «Zu Beginn hatte ich viele Schwierigkeiten in der Schweiz, habe Rassismus und Diskriminierung erlebt», sagt sie. In Syrien hatte sie einen Bachelor in Erziehungswissenschaft abgeschlossen, in der Schweiz begann sie, ehrenamtlich für andere Geflüchtete zu dolmetschen. «Ich wollte den Leuten helfen und ihnen ihre Rechte zeigen, damit sie das, was ich erlebt habe, nicht auch erleben.»
Ihre Dolmetscherinnentätigkeit führte zu bezahlten Anstellungen. Zurzeit arbeitet Nour Abdin als Lehrerin an der Schule des Berner Bundesasylzentrums im alten Zieglerspital. Für die Studie der BFH ist sie im Stundenlohn angestellt. Mit ihr sind fünf andere Frauen als sogenannte Co-Forschende an der Studie beteiligt. Sie alle haben selber Fluchterfahrung und sind oder waren im Asyl- oder Gesundheitsbereich tätig.
«Wir wollen die Stimmen der geflüchteten Frauen transportieren», sagt Nour Abdin. Ein zentraler Teil der Arbeit sei es gewesen, den befragten Frauen das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht nur als Informantinnen dienten, sondern dass sie Expertinnen für ihre Situation sind und damit zu neuen Erkenntnissen beitragen können.
Erschöpfung nach der Ankunft
Die Gründe dafür, dass viele geflüchtete Frauen ihre gesundheitliche Situation als schwierig empfinden, sind gemäss der Studie eng mit den Strukturen des Schweizer Asylsystems verknüpft.
Das beginnt in den Bundesasylzentren unmittelbar nach der Einreise in die Schweiz. Innerhalb von drei Tagen nach ihrer Ankunft müssen alle geflüchteten Menschen Fragen zu ihrem Gesundheitszustand beantworten. Das System ist computergestützt und erlaubt nur Ja- und Nein-Antworten, zum Beispiel bei der Frage nach Schwangerschaft. Weiter werden sexuell übertragbare Krankheiten thematisiert, Fragen zu frauenspezifischer Gesundheit oder möglicherweise erlebter sexualisierter Gewalt fehlten bisher.
«Die Frauen haben zum Teil beschwerliche Fluchtwege hinter sich, manche sind über das Mittelmeer gekommen oder haben lange Strecken zu Fuss durch Wälder zurückgelegt», sagt Nour Abdin. Seien die Frauen erst mal in der Schweiz angekommen, gelte ihre grösste Sorge dem Asylverfahren. «Manchen fehlt schlicht die Kraft, aber auch das Vertrauen, einer fremden Person zu erzählen, wie es ihnen wirklich geht.» Dazu komme mangelndes Wissen über Gesundheit oder darüber, welche Rechte eine Frau in der Schweiz hat.
Selbst wenn Frauen ihre Beschwerden äussern konnten, passierte es laut Abdin häufig, dass ihre gesundheitlichen Probleme erst nach mehrmaligem Insistieren behandelt wurden.
Angst und fehlende Privatsphäre
Nach der Ankunft in der Schweiz befinden sich die Frauen entgegen ihren Hoffnungen in einer unsicheren Situation. Es ist unklar, ob sie im Land bleiben dürfen und wie viele Monate oder Jahre sie in kollektiven Unterkünften wohnen werden. Das Leben dort sei für Geflüchtete ohnehin belastend, für Frauen kämen zusätzliche Schwierigkeiten hinzu, sagt Nour Abdin: Sie äusserten beispielsweise Angst vor Gewalt in den Asylzentren und berichteten von Stress beim Duschen oder beim Toilettengang, wenn nur wenige Sanitäranlagen zur Verfügung stehen oder diejenigen von Frauen und Männern nah beieinander liegen.
In der Schwangerschaft oder während der Menstruation verschärften sich diese Probleme noch. Allgemein bleibe in den von mehreren Menschen bewohnten Zimmern kaum Raum für Privatsphäre oder Sexualität. Diese Umstände beeinflussten die Familienplanung. «Viele Frauen möchten in dieser Situation nicht schwanger werden», sagt Nour Abdin.
In einem Bericht von 2019 konstatierte das Staatssekretariat für Migration (SEM), dass für Personen in Asylstrukturen in der Schweiz eine umfassende Information über Familienplanung und Verhütungsmittel, die einen selbstbestimmten Zugang zu diesen Mitteln ermöglicht, nicht gegeben sei. Da Verhütungsmittel in der Schweiz nicht zu den Pflichtleistungen der Krankenkassen gehören, entscheiden die Gemeinden im Einzelfall, ob die Sozialhilfe dafür aufkommt.
Holschuld als Hindernis
Im Kanton Bern sollten Verhütungsmittel gemäss Auskunft der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion auf Antrag der Sozialhilfebeziehenden von den Gemeinden übernommen werden. Diese Holschuld sei für geflüchtete Frauen ein Hindernis: «Viele Frauen wissen nicht Bescheid über die in der Schweiz möglichen Verhütungsmethoden», sagt Nour Abdin.
Zwar bietet die Aids Hilfe Bern Kurse für Migrantinnen an, in denen Verhütung, sexuelle Rechte und Gesundheit thematisiert werden. Gemäss der Studie hängt es aber von den Betreiber*innen der Kollektivunterkünfte ab, ob diese Kurse durchgeführt werden. Ein flächendeckender Zugang zu niederschwelligen und auf die Bedürfnisse geflüchteter Frauen zugeschnittenen Informationen ist nicht gewährleistet.
«Manche der Frauen erzählten, sie hätten das Gefühl, sie dürften in den Asylzentren keinen Geschlechtsverkehr haben», sagt Nour Abdin. Einzig Kondome sind dort kostenlos erhältlich. «Dafür benötigt es aber das Einverständnis des Partners: Selbstbestimmte Verhütung ist damit nicht möglich».
Abtreibung statt Verhütungsmittel
Besonders prekär ist die Situation der abgewiesenen asylsuchenden Frauen: Sie sind von der Sozialhilfe ausgenommen und erhalten nur Nothilfe. Nour Abdin erläutert das an einem Beispiel, das sich ihr besonders eingeprägt hat: «Eine der befragten Frauen hat im Rückkehrzentrum wiederholt um die Finanzierung von Verhütungsmitteln gebeten, da sie in ihrer Situation keinesfalls ein drittes Kind wollte. Ihr wurde gesagt, dass sie sich selbst darum kümmern müsse, was mit Nothilfe von 10 Franken pro Tag nicht möglich ist», erzählt sie. In ihrem Gesicht steht Unverständnis. «Als die Frau schwanger wurde, wurde ihr angeboten, eine Abtreibung zu bezahlen. Wie kann es sein, dass Verhütungsmittel nicht bezahlt werden, eine Abtreibung aber schon?»
Die in den Interviews geschilderten Erfahrungen machen deutlich, dass die Lebenssituationen der geflüchteten Frauen in den Asylstrukturen ihre reproduktiven Rechte beschneiden. Das heisst, dass sie auch nach ihrer Ankunft in der Schweiz die Entscheidung, ob, mit wem und unter welchen Umständen sie Kinder grossziehen, nicht völlig frei treffen können.
Fast in jedem Interview seien Diskriminierungserfahrungen erwähnt worden, sagt Nour Abdin. Die Befragten erzählten von Situationen, in denen sie sich von Gesundheitsfachpersonen nicht ernst genommen fühlten oder von Eingriffen, über die sie ungenügend informiert wurden. «Das kann einerseits an mangelnder Empathie liegen, aber auch an Sprachproblemen oder daran, dass die Zuständigen unter zeitlichem Druck stehen», führt Nour Abdin aus. Wohler hätten sich viele der befragten Frauen bei Gesundheitsfachpersonen gefühlt, die selbst eine Migrationsgeschichte haben. «Diese Erfahrung zu teilen, kann Verständnis fördern und Vertrauen schaffen.»
«Keine Studie für die Schublade»
Damit die Ergebnisse der Studie auch für Frauen zugänglich sind, die wenig Deutsch sprechen, haben Nour Abdin und die anderen Co-Forschenden ihren eigenen Forschungsbericht in einfacher Sprache verfasst.
«Unsere Arbeit ist keine Studie für die Schublade», betont sie, ihre Aufgabe bestehe auch darin, sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Am 26. Juni haben die Co-Forscherinnen deshalb zusammen mit Wissenschaftlerinnen von Uni und BFH eine nationale Fachtagung organisiert.
Über 100 Fachpersonen aus dem Gesundheits- und Asylbereich, Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen, geflüchtete Frauen und Freiwillige, die mit Geflüchteten arbeiten trafen sich im Berner Progr und erarbeiteten Ideen, wie die gesundheitliche Versorgung geflüchteter Frauen verbessert werden könnte. Mit dabei waren auch Angestellte des SEM und der Asyldienstleisterin ORS, die Kollektivunterkünfte, Bundesasyl- und Rückkehrzentren betreibt.
«Da sind einerseits die Asylstrukturen, die sich ändern müssten. Das können wir mit unserer Studie nicht leisten», sagt Nour Abdin: «Aber da sind auch die Menschen, die innerhalb dieser Strukturen arbeiten, und diese haben einen gewissen Handlungsspielraum». Viele Teilnehmende hätten gesagt, dass die Erkenntnisse aus der Studie und der Austausch untereinander sie dabei bestärke, Verbesserungsvorschläge in ihre Arbeit einzubringen.
Nicht immer ist der Weg, wie Verbesserungen Eingang ins System finden, klar verfolgbar. Anfragen der «Hauptstadt» bei ORS und beim SEM zeigen aber, dass einige in der Studie kritisierte Punkte von diesen Akteuren aufgenommen wurden. Seit einigen Monaten würden gemäss SEM bei der computergestützten Erstbefragung von geflüchteten Frauen auch «gynäkologische Probleme und der Gebrauch respektive der Bedarf nach Verhütungsmitteln» erfragt. Und ORS plant laut dem Kommunikationsverantwortlichen Lutz Hahn Informationsveranstaltungen für die Bewohner*innen zusammen mit der Aids-Hilfe Schweiz.
Um festzustellen, ob dies in der Realität umgesetzt wird, braucht es wohl Forscherinnen wie Nour Abdin und ihre Kolleginnen von der BFH, die einen Raum schaffen, in dem geflüchtete Frauen ihre Stimmen erheben können: «Veränderung kann auch von unten oder aus der Mitte kommen», sagt sie.