«Hajde, Prinzessin!»

Livia Maria Chiariello hebt die Rhythmische Gymnastik in der Schweiz in neue Sphären. Und kämpft um mehr Rückhalt für ihre Sportart.

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Livia Maria Chiariello vertritt die Schweiz an der WM in Rhythmischer Gymnastik als erste Einzel-Athletin seit 31 Jahren. (Bild: Danielle Liniger)

Livia Maria Chiariello spricht so, wie sie turnt: on point. Die Sätze durchdacht, gesprochen mit Haltung und Ausdruck, im richtigen Moment energisch und im richtigen sanft. Das Besondere daran: Sie wirkt dabei ganz und gar authentisch.

Die 17-jährige Bernerin ist die beste Rhythmische Gymnastin, die die Schweiz je hatte. Diese Woche startet sie erstmals an den Weltmeisterschaften. «Die Rhythmische Gymnastik ist meine Passion», sagt sie. 

In der Schweiz ist man sich derweilen nicht sicher, ob man ihre Sportart auf Spitzenniveau überhaupt noch fördern soll. Das macht sich bemerkbar an den Voraussetzungen, unter denen Livia trainiert.

Aufwärmen

Eine Sporthalle in Lyss, Montagmorgen um 7:30 Uhr. Drei Gymnastinnen und eine Trainerin machen sich bereit. Die Mädchen tragen schwarze Leggings, straffe Dutt-Frisuren und hautfarbene Schläppchen, die nur Zehen und Fussballen bedecken. Die Trainerin einen grauen Trainingsanzug und Adiletten. Das erste Training der Woche beginnt. Es wird rund vier Stunden dauern. «Für uns ist das kurz», sagt die Trainerin. 

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Die Rhythmische Gymnastik ist eine von wenigen reinen Frauensportarten. Auch deshalb werde sie oft unterschätzt, glaubt Livia Maria Chiariello. (Bild: Danielle Liniger)

Livia Maria Chiariello, ihre 14-jährige Schwester Sophia Carlotta und die dritte Athletin, Shana Bundeli, 16 Jahre alt, wärmen sich auf. 

Dehnen, kräftigen, später den Puls hochbringen. Mit Gewichten und einem Theraband an den Beinen das Schienbein hoch zur Stirn ziehen. Die Zehen nach vorne und nach hinten biegen. Auf Zehenspitzen laufen. Rumpfkraft. Rücken dehnen. Spagat. Es ist still in der Halle. Eineinhalb bis zwei Stunden dauert das Aufwärmen.  

«Die Rhythmische Gymnastik erfordert extreme Bewegungen», sagt die Trainerin Aneliya Stancheva, «deshalb muss von Scheitel bis Fusssohle alles warm sein. Normalerweise ist ein Muskel entweder kräftig oder sehr beweglich. Eine Rhythmische Gymnastin aber braucht beides.» Ihr Akzent ist unverkennbar slawisch. Als Jugendliche turnte sie in der bulgarischen Nationalmannschaft. 

Turbulenzen

Negative Schlagzeilen prägten 2020 in der Schweiz die öffentliche Wahrnehmung der Rhythmischen Gymnastik. In der Kritik standen missbräuchliche Trainingsmethoden, Essstörungen, psychische und physische Gewalt – Ausprägungen des Leistungssports, die immer weniger mit den hiesigen Moralvorstellungen vereinbar sind. 

Im Juni 2020 berichteten ehemalige Rhythmische Gymnastinnen gegenüber dem «Blick» von hochproblematischen Trainingsmethoden. Die sogenannten «Magglingen Protokolle» rüttelten einige Monate später die Schweizer Turnwelt auf. Ehemalige Spitzensport-Athletinnen – darunter etliche Rhythmische Gymnastinnen – erhoben öffentlich erneut Missbrauchsvorwürfe gegen Trainer*innen und Funktionär*innen. 

Die Fälle schlugen hohe Wellen. Der Schweizerische Turnverband (STV) musste handeln. 

Trainer*innen und teilweise auch Sportfunktionär*innen wurden entlassen. Der Verband entschloss sich, in der Rhythmischen Gymnastik die Nationalkadergruppe aufzulösen, keine nationalen Trainerinnen mehr zu stellen, das Förderkonzept zu überdenken und – für aktive Gymnastinnen wie Livia besonders schmerzlich – die nationale Trainingsbasis in Magglingen zu schliessen. 

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Dünner Teppich auf hartem Hallenboden: Seit der Schliessung der Trainingsbasis in Magglingen steht den Schweizer Gymnastinnen kein federnder Unterboden mehr zur Verfügung. (Bild: Danielle Liniger)

Auch Aneliya Stancheva, Livias aktuelle Trainerin, war Teil der Turbulenzen im Nachgang der Vorwürfe. Ihre Anstellung beim STV wurde im Juni 2020 gekündigt. Nach Untersuchungen gegen alle STV-Trainerinnen der Rhythmischen Gymnastik darf sie heute im Einverständnis mit dem Verband und dem Regionalen Leistungszentrum Biel und Region Livia und andere Gymnastinnen wieder trainieren.

Verlorene Selbstverständlichkeit

Der Schweizer Sport sah sich mit Grundsatzfragen konfrontiert: Welchen Preis darf Erfolg haben und welche Werte gelten im Spitzensport?

Der STV entwirft derzeit neue Zukunftsszenarien. Im Herbst will er entscheiden, wie die Rhythmische Gymnastik künftig gefördert werden soll – und ob da der Spitzensport auf höchstem Niveau überhaupt noch eingeschlossen ist.

Inmitten dieser Debatten trainiert Livia Maria Chiariello 30 Stunden pro Woche. 

«Ich liebe diesen Sport», sagt sie an einem Sonntagmorgen, als die Berner Länggasse langsam zum Leben erwacht. Es ist der einzige Wochentag, an dem sie nicht trainiert und deshalb Zeit hat für längere Gespräche – oder für Hausaufgaben. Sie besucht die Sportklasse im Gymnasium Neufeld. Dort hat sie zwar weniger Unterricht als reguläre Gymnasiast*innen, aber immer noch 25 Lektionen pro Woche. 

«Das Gefühl, wenn ich an einem Wettkampf die Bühne betrete und zeigen darf, was ich kann, ist unbeschreiblich», sagt sie. «Ich finde es schön, in etwas zu investieren und dann ein Ergebnis zu spüren. Und ich mache es wirklich auch gerne. Es macht mir Freude.» 

Dass sie das überhaupt so betonen muss, spricht für sich. Einem Fussballer würde das kaum passieren.

«Es ist wichtig, die Vergangenheit aufzuarbeiten und daraus die richtigen Lehren zu ziehen», sagt Livia. «Aber nicht der Sport ist das Problem, sondern die Menschen, die im Sport Fehler machen.»

Ganze Übung

Montag, Sporthalle in Lyss, 9:00 Uhr. Das Aufwärmen ist durch. Die Mädchen schnappen sich ihr erstes Handgerät. Bei Livia ist es heute der Reifen.

Die Rhythmische Gymnastik kennt vier Handgeräte: Ball, Reifen, Band, Keulen. In Einzelwettkämpfen wird damit je eine Übung à 90 Sekunden zu Musik geturnt. Es werden dabei tänzerische und akrobatische Elemente kombiniert mit komplexen Würfen und technischen Schwierigkeiten mit den Handgeräten. Seit 1984 ist die Rhythmische Gymnastik olympisch – neben dem Synchronschwimmen als einzige reine Frauensportart. 

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Die Rhythmische Gymnastik kombiniert Akrobatik und Tanz mit technischen Elementen mit Handgeräten. Diese Kombination erfordert einen extrem hohen Trainingsaufwand. (Bild: Danielle Liniger)

Das Training in Lyss folgt klaren Regeln: Jedes Element einer Übung muss von den Athletinnen zehnmal fehlerfrei ausgeführt werden. Die Trainerin notiert die Ausführungen in einem Heft. Danach wird die ganze Übung zu Musik geturnt. 

Die drei Gymnastinnen vollführen auf einem quadratischen Teppich Elemente, die in einer gängigen Vorstellung des menschlichen Bewegungsrepertoires eigentlich nicht möglich sind. 

Livia wirbelt auf Zehenspitzen über den Teppich und ihren Reifen durch die Luft, taucht mit dem Kopf Richtung Boden, während ihre beiden Beine eine perfekte senkrechte Linie darstellen, berührt mit den Zehen ihren Hinterkopf, als sie den Reifen im exakt richtigen Moment fängt, um ihn später mit dem Fuss wieder in die Luft zu schleudern. Dazu läuft die Filmmusik einer Thriller-Netflix-Serie.

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«Ich will Sicherheit, nicht Glück!», sagt die Trainerin, solange nicht alle Tricks perfekt sitzen. (Bild: Danielle Liniger)

Die Trainerin gibt Anweisungen, notiert, klatscht den Takt, ruft:

«Mehr starke Arme! Davai, weiter!»

«Tempo, Tempo, du bist langsam!»

«Artistic, dein Gesicht will ich sehen!»

«Übungen ohne Ausdruck zähle ich nicht mehr.»

Und manchmal, aber sehr viel seltener: 

«Dobre. Besser.»

«Bravo.»

«Hajde, Prinzessin.»

Wenn die Musik verstummt, ist nichts als das schwere Atmen der Athletinnen zu hören. Sie sprechen kaum, handeln strikt nach den Anweisungen der Trainerin, antworten auf Fragen von ihr meist nur mit Nicken oder Kopfschütteln. Zwischen den Übungen, wenn der Ausdruck nicht mehr bewertet wird, ist ihnen die Konzentration ins Gesicht geschrieben.

Das Bild verändern

«Ich brauche Kritik, um besser zu werden», sagt Livia an ihrem freien Sonntagmorgen. Man müsse seine Fehler anschauen, und das sei am einfachsten, wenn jemand einen darauf hinweist. «Konstruktive Strenge ist nötig. Ich wäre nicht da, wo ich heute bin, wenn ich nur gelobt worden wäre», sagt die 15-fache Schweizermeisterin. 

«Spitzensport ist nicht leicht. Und er macht ganz unmittelbar auch keinen Spass. Man arbeitet hart an sich. Spass macht es, wenn man etwas davon hat und Fortschritte sieht», sagt sie. 

Damit wolle sie keinesfalls missbräuchliche Trainingsmethoden relativieren. «Eine gesunde Beziehung zwischen Trainerin und Athletin auf Augenhöhe ist absolut notwendig», sagt sie. Dass sich da etwas ändern musste, das habe sie schon lange gespürt, auch wenn sie selbst nie Misshandlungen ausgesetzt war. Livia war als Einzelgymnastin selbst nicht Teil der Nationalkadergruppe, die aufgelöst wurde. 

Sie sagt, es müsse selbstverständlich sein, dass im Sport Ethik-Regeln gelten – genauso wie auch in anderen Lebensbereichen. «Ein Training kann hart sein und trotzdem die Gesundheit und die Grundrechte der Athletinnen schützen.» 

Die Sportart erfordere einen sehr grossen Aufwand von klein auf. «Das ist nicht immer lustig. Aber wenn klare Ziele da sind, die man gemeinsam erarbeitet, dann sind so ein Trainingsumfang und so hohe Anforderungen vertretbar. Dann ist es möglich, ein hohes Niveau zu erreichen, ohne dass es ungesund wird.»

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Livia Maria Chiariello will die Schönheit und Einzigartigkeit ihrer Sportart hervorheben. (Bild: Danielle Liniger)

Livia Maria Chiariello sagt, sie wolle das Bild verändern, das die Schweiz von der Rhythmischen Gymnastik hat. «Ich will zeigen, dass die Kombination aus Schwierigkeit, Eleganz, Interpretation und Emotionen wunderschön und einzigartig ist», sagt sie. Und gerade die harte Arbeit mache die Rhythmische Gymnastik, die als «Mädchensportart» manchmal unterschätzt werde, auch interessant. 

An internationalen Wettkämpfen hingegen wolle sie beweisen, dass die Schweiz überhaupt existiert in diesem Sport. «Und dass wir gar nicht schlecht sind, auch wenn wir nicht dieselben Möglichkeiten haben wie die Athletinnen in anderen Ländern.»

Erschwerte Bedingungen

Livia turnt, die Trainerin kritisiert, Livia wiederholt. 

Und immer wieder, wenn sie ihren Reifen in die Höhe wirft, prallt er an die Decke der Halle und landet unkontrolliert am Boden statt anmutig in Livias wartender Hand. 

«Die Halle ist zu niedrig», erklärt die Trainerin. Die Trainingsbedingungen seien alles andere als optimal: Seit der Schliessung des regulären Trainingsbetriebes in Magglingen fehle sowohl eine Halle mit ausreichender Höhe als auch – besonders wichtig – ein federnder Unterboden, der bei Sprüngen gelenkschonender ist als ein gewöhnlicher Hallenboden.

Die Folge: Livia kann nicht unter Wettkampfbedingungen trainieren und trägt höhere Risiken, sich zu verletzen. Mehrere Ermüdungsbrüche im Vorderfuss hat sie sich bereits zugezogen. Um den Körper nicht übermässig zu belasten, verzichtet sie heute auf Sprünge. Die vertagt sie auf Ende Woche, wenn sie zur WM-Vorbereitung für vier Tage in Magglingen auf dem federnden Unterboden trainieren darf. Den Reifen hebt sie stoisch auf und turnt weiter. 

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Der Ausdruck fliesst in die Wettkampfwertung ein. (Bild: Danielle Liniger)

In der bulgarischen Hauptstadt Sofia, wo Livia Maria Chiariello ab dem 15. September als erste Schweizer Einzel-Athletin seit 31 Jahren startet, trifft sie auf Konkurrentinnen, die wöchentlich 15 Stunden mehr trainieren als sie selbst. Das wären dann 45 Stunden insgesamt. 

«In anderen Ländern, etwa Russland, Bulgarien oder Italien, haben die Athletinnen nur zwei Stunden pro Tag Schule und leben direkt bei den Trainingszentren», sagt Livia. «Das geht bei uns nicht.»

Bildung sei natürlich wichtig, sagt Livia. Sie fühle sich wohl hier und finde es sinnvoll, auch noch ein Leben neben dem Sport zu haben. Zum ersten Mal klingt, was sie sagt, leicht aufgesetzt. Der darauffolgende Satz scheint ihr wichtiger: «Trotzdem würde mich interessieren, was herausschauen würde, wenn ich unter denselben Voraussetzungen trainieren könnte wie die anderen.»

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