Schiessen unterm Radar

Einschusslöcher, Patronenhülsen, ein bleigetränkter Hügel. Im wilden Westen Berns ist die einzige Schiessanlage der Stadt beheimatet – für die «Hauptstadt» hat sie ihre Türen geöffnet.

Schiessanlage Riedbach fotografiert am Dienstag, 27. August 2024 in Riedbach. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Auf 300 Meter Distanz werden Treffer elektronisch erfasst und Kugeln aufgefangen. (Bild: Simon Boschi)

Martin Müller –  Kolleg*innen rufen ihn «Tinu» – hat in einem Vierteljahrhundert bei der städtischen Abteilung Schutz und Rettung so einiges gesehen: Feuerwehrleute bei der Brandlöschung, Rettungssanitäter*innen im Einsatz, Zivilschützer*innen, die für Ukraine-Flüchtlinge eine Nothilfe ermöglichten.

Nur ein Ort blieb dem Kommunikationsverantwortlichen bislang verborgen – die Schiessanlage in Riedbach, ganz im Westen Berns, wo die Stadt nur noch zu erahnen ist und sich zu später Stunde die sprichwörtlichen Fuchs und Hase wohl wirklich im Wald gute Nacht sagen. Vorausgesetzt, sie sind am Tag nicht durch den Schiesslärm verschreckt worden. 

Die einzige Schiessanlage der Stadt ist in der Obhut von Schutz und Rettung. Bern teilt sich die Anlage mit den Gemeinden Frauenkappelen und Ostermundigen. Trotzdem war Martin Müller noch nie da. Offenbar läuft Berns einziger Schiessplatz häufig unter ferner liefen. Auch sein Kollege Stefan Iseli, stellvertretender Bereichsleiter Logistik & Infrastruktur bei Schutz und Rettung, vergleicht seine Tätigkeit mit der «Arbeit im Untergrund» – so abgeschirmt sei das Gebäude. Das führt dazu, dass selbst Angestellte von Schutz und Rettung sich nicht immer im Klaren darüber sind, dass der Schiessbetrieb ihnen angegliedert ist. 

Schiessanlage Riedbach fotografiert am Dienstag, 27. August 2024 in Riedbach. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Am äussersten westlichen Rand der Stadt gelegen: Die Schiessanlage. (Bild: Simon Boschi)

Bekannt dürfte die Anlage allerdings bei den Berner Armeeangehörigen sein. Denn sie müssen dort ihre obligatorischen Schiesstage leisten. Ebenfalls genutzt wird die Schiessanlage von der Schweizer Armee. Sie hat Räumlichkeiten auf demselben Areal und bietet Rekrut*innen für die Wiederholungskurse auf. Die dritte Partei am Platz ist die Kantonspolizei Bern, die dort ihre Hunde für den Dienst ausbildet. 

Ein bisschen ab vom Schuss

Stefan Iseli führt durch die mausgraue Anlage aus den 1960er-Jahren. «Wir sind erkennbar an den grossen Schlüsselbunden», sagt Iseli und spielt damit auf die vielen verschiedenen Gebäude an, zu denen er innerhalb einer Arbeitswoche Zugang hat. 50 Standorte sind unter der Kontrolle von Schutz und Rettung: Feuerwehrmagazine, Lager, Führungsanlagen. «Das Schiessen ist da nur ein kleiner Teil», so Iseli. 

Doch wenn geschossen wird, soll alles an seinem Platz und parat sein. Darum kümmert sich Iseli mit sechs Kolleg*innen. Keine*r von ihnen arbeitet allerdings permanent auf der Anlage, sie kommen jeweils, wenn es sie braucht.

Schiessanlage Riedbach fotografiert am Dienstag, 27. August 2024 in Riedbach. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Stefan Iseli beim Ausfahren einer Schiessscheibe. (Bild: Simon Boschi)

Wenn Schiesstag ist – meist in den Sommermonaten zwischen März und Oktober – heisst es, Storen hochziehen, Absperrungen setzen und Windsäcke montieren. Und dann fahren die Schiessscheiben in Position beziehungsweise werden sie von den Schiessenden selbst gesetzt. In Riedbach gibt es 90 Scheiben für die Distanzen von 25, 50 und 300 Metern. Auf der grössten Distanz verläuft die Trefferrückmeldung elektronisch. Bevor das technisch möglich war, mussten Helfer*innen jeweils in einer Grube ausharren und mit einem Stab Treffer auf der Schiessscheibe über ihren Köpfen markieren.  Kugeln flogen früher ausserdem einfach in einen Erdhügel, wenn sie das Ziel verfehlten. Noch heute ist er von Blei durchsiebt. Mittlerweile sind sogenannte Kugelfänge installiert worden, um zu vermeiden, dass das Metall in die Umwelt gelangt.

Wer darf abdrücken?

Auch Vereine sind in Riedbach beheimatet. Im vergangenen Jahr luden sie zu 43 Schiessanlässen ein. Und sie führen die obligatorischen Schiessanlässe für Wehrpflichtige durch.

Unter den Vereinen sind zum Beispiel die Arbeiterschützen, die Scharfschützen oder Union Bern – eigene Schäfte, Abzeichen und Gravuren zeugen davon, wie verwurzelt sie an dem Ort sind. Die Wochenzeitung «Die Zeit» bezeichnete sie einmal als «den Kitt, der Staat und Armee zusammenhält». Die Vereine beziehen über die Schweizer Armee Munition und händigen diese dann ihren Mitgliedern aus. Insgesamt 724 Schütz*innen fanden im vergangenen Jahr den Weg nach Riedbach. Findet das Schiessen auf privater Basis statt, muss die Munition dagegen eigenständig gekauft werden.

Schiessanlage Riedbach fotografiert am Dienstag, 27. August 2024 in Riedbach. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Die Trefferanlage stammt vom Hersteller Polytronic aus dem Kanton Aargau. (Bild: Simon Boschi)

Diese können nicht einfach nach Lust und Laune abdrücken – jeder Schiesstag muss vorangemeldet werden und ist publikationspflichtig. Mitzubringen ist beim obligatorischen Schiessen neben der eigenen Dienstwaffe auch ein Gehörschutz. Ausserdem braucht es eine Aufforderung, dass man überhaupt seine Schiesspflicht erfüllen muss –  die jeweiligen Schüsse werden dann im Schiessbüchlein dokumentiert. Ein kleiner grauer Kasten, der an eine Schreibmaschine aus dem vorherigen Jahrhundert erinnert, spuckt für den jeweiligen Schützen einen Zettel als Nachweis aus.

Stefan Iseli führt weiter durch die Anlage. Das kommt einer kleinen Zeitreise gleich. Doch bei den «Büchsenmachern» ist man nicht etwa auf einem Mittelaltermarkt gelandet, sondern bei der Waffenpflege. «Die Vereine haben jeweils Verantwortliche, die hier mit Drahtbürsten die Ordonanzwaffen reinigen», so Iseli. Anschliessend gehe es ans Einfetten und Polieren.

Welche Zukunft?

Einen Raum weiter dann Holzvertäfelungen und Bilder in Goldrahmen: Hier leben Schütz*innen ihre Tradition – manchmal auch bei einem Glas Bier. Urkunden an den Wänden verraten, dass im 19. Jahrhundert einzelne Stadtberner Quartiere wie die Matte oder Länggasse eigene Schützenvereine hatten. Und dann wäre da noch die Schützenmatte vor der Reitschule, die zwischen 1530 und 1862 tatsächlich als Platz für Schiessübungen diente. Tempi passati.

Schiessanlage Riedbach fotografiert am Dienstag, 27. August 2024 in Riedbach. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Ein bisschen Glanz, ein bisschen Gloria: An den Stammtischen der Schiessvereine. (Bild: Simon Boschi)

Heute müssen die Schützenvereine an einer anderen Front kämpfen. Bis 2027 werde die aktuelle Wehrpflichtverordnung überarbeitet, so Iseli. Auch das obligatorische Schiessen stehe dabei zur Diskussion. Auch wenn es in der aktuellen weltpolitischen Lage nicht danach aussehe, dass es gekippt werde, gehe es um nichts weniger als die «Daseinsberechtigung» der Vereine.

Denn viele Vereine gibt es nur, weil sie das obligatorische Schiessen organisieren. Fiele es weg, könnte das bei den Vereinen für mehr als nur Ladehemmung sorgen. Die Gemeinden würden dann sehr wahrscheinlich nicht mehr im gleichen Umfang Schiessanlagen zur Verfügung stellen, welche diese bislang auch für nicht obligatorisches Schiessen nutzen.

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