Eine Schulreise, die Leben verändert

43 Schüler*innen des Gymnasiums Burgdorf reisten in den Herbstferien in den Balkan. Sie lernten viel über Genozid, Krieg – und sich selbst.

Gruppenbild Mostar_Stefan Schmid
Offen für das Unbekannte: Die Reisegruppe aus Burgdorf vor der Alten Brücke in Mostar (Bosnien-Herzegowina). (Bild: Stefan Schmid/zvg)

19. September, 22.15 Uhr, Besammlung am Bahnhof Burgdorf. 43 Schüler*innen des Gymnasiums Burgdorf steigen in einen Reisecar. Er wird sie an einen Ort bringen, über den sie im Unterricht bisher so gut wie nichts gelernt haben: den Balkan.

«Identität(en) und Herkunft» heisst die Fachkurswoche, die der Geschichts- und Geografielehrer Stefan Schmid zusammen mit seinen Kollegen Irfan Dedović und Wilfried Meichtry organisiert. Wie leben Menschen dort, wo vor 30 Jahren einige der schlimmsten Kriegsverbrechen des 20. Jahrhunderts verübt wurden? as macht das mit ihnen? Und was mit jenen, die darüber lernen?

Die Reise der Burgdorfer Schüler*innen wird Thema am erstmaligen Berner (Hi)Story Festival sein, das am Sonntag beginnt. In einer Serie von Veranstaltungen befasst sich das Festival mit der Frage, ob 30 Jahre nach Ende des Kriegs in Ex-Jugoslawien wirklich Friede eingekehrt sei.

Die Schüler*innen aus Burgdorf werden ihre Eindrücke bis zum Ende der Reise reflektieren – sei es in einer Reportage, einem Videoblog, einem Fototagebuch, einem Essay. Ausgewählte Arbeiten diskutieren sie am 17. Oktober an ihrem Gymnasium mit dem bosnisch-österreichischen Politikwissenschaftler Vedran Džihić als Programmpunkt des Festivals.

Dieser Text begleitet die Burgdorfer Reisegruppe in den Balkan. Schüler*innen und Lehrer berichten von unterwegs über das, was sie auf ihrer Reise erleben. Und was es in ihnen auslöst. Auch die Fotos in dieser Reportage stammen von der Reisegruppe.

So gut vorbereitet wie möglich

Ein Blick ins Reiseprogramm zeigt: Es wird anstrengend. Lange Busstrecken nach Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina, organisierte Stadtführungen, Aktivitäten in Kleingruppen, Präsentationen im Car, pittoreske Ortschaften im schnellen Wechsel mit Gedenkstätten für Tausende Ermordete.

«Diese Reise ist freiwillig», betont Deutsch- und Französischlehrer Irfan Dedović am Tag der Abreise am Telefon. Die Teilnehmenden seien so gut wie möglich vorbereitet worden. Alle wissen, dass der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 eine zentrale Rolle spielen wird. Alle haben das Buch «Herkunft» von Saša Stanišić gelesen.

Lehrer Wilfried Meichtry, Irfan Dedovic und Stefan Schmied_Autor unbekannt
Wilfried Meichtry, Irfan Dedović, Stefan Schmid: Die drei Lehrer unterwegs mit den Schüler*innen im Balkan. (Bild: zvg)

Dedović und seine Kollegen bereiten sich innerlich darauf vor, dass ihre Schüler*innen emotional reagieren könnten. Wilfried Meichtry war noch nie in Bosnien-Herzegowina und sitzt im selben Boot wie viele Teilnehmende – er weiss nicht genau, was ihn erwartet. Irfan Dedović stammt aus Bosnien und weiss genau, was alle erwartet. Vor einer Station hat er deshalb «Bammel». Dazu später.

Konfrontation mit dem Balkan – und sich selbst

Jonas Boltshauser (16), Muriel Bossert (16), Aleena Karabas (17) und Selma Oesch (17) möchten all das erleben. Sie sind Teil der 43-köpfigen Schüler*innengruppe und melden sich vor, während und nach der Reise per Whatsapp und Telefon.

Muriel war noch nie auf dem Balkan. «Ich freue mich darauf, diese andere Kultur kennenzulernen.» Aleena ist zuhause mit drei Kulturen aufgewachsen, auch der bosnischen. Aus Bosnien aber bleiben ihr nur frühe Kindheitserinnerungen. Diese Reise werde für sie wohl ein «kleiner Kulturschock», einer, auf den sie sich auch freut.

Jonas kommt vom Land, in der Schule bekam er nichts über den Balkan vermittelt, aus seinem Umfeld spüre er oft Vorurteile gegenüber Menschen aus Ex-Jugoslawien. Nun will er lernen. Angst vor schweren Themen hat er nicht, «aber Respekt».

Jonas sagt, dass er sich auf dieser Reise auch mit sich selbst konfrontieren möchte, mit seiner Herkunft. «Bin ich vielleicht ein anderer Mensch, wenn ich zurückkehre?»

22.30 Uhr, Abfahrt Richtung Slowenien. Bled, der Ort mit dem schönen See und Schloss, und danach Ljubljana. Eine nahbare, hübsche Stationen mit gut ausgebauter touristischer Infrastruktur. Ein «problemloser Einstieg», wie Stefan Schmid es nennt. Er ist der Kopf hinter der Reise und war schon mit mehreren Klassen auf dem Balkan unterwegs.

Motiviert von persönlichen Geschichten

Warum all diese Mühen, warum diese Reise, geht das nicht auch im Klassenzimmer? «Wo soll ich anfangen?», fragt er zurück.

Der Balkan, die Kriege der 90er-Jahre und deren Folgen – auch für all die Menschen und Familien, die heute in der Schweiz leben –  werden an hiesigen Schulen bis heute stark vernachlässigt. Oft fehle es an guten Unterrichtsmaterialien, oft fürchteten sich Lehrpersonen, Schüler*innen oder Eltern zu nahe zu treten oder Diskussionen nicht fachkundig genug führen zu können.

Es bleibt stark von der individuellen Motivation der Lehrpersonen abhängig, ob Schweizer Schüler*innen etwas über diese Region lernen. Einige werden bis zum Ende ihrer Schulkarriere nie vom Genozid in Srebrenica, dem grössten Verbrechen auf Europäischen Boden seit Ende des Zweiten Weltkrieges, gehört haben. Einige werden nur dank dieser Reise zum ersten Mal davon erfahren.

«Dieses Schweigen über die Kriege in Ex-Jugoslawien hat mich extrem geschmerzt.»

Irfan Dedović, Lehrer

Hinter dem Effort der drei Burgdorfer Lehrer stehen auch persönliche Geschichten. Stefan Schmid ist ursprünglich mit dem Nachnamen Slepcevic aufgewachsen – die Wurzeln seiner Vorfahren liegen zwischen Slowenien und Bosnien-Herzegowina. Heute will er seinen Schüler*innen zeigen: Ich sehe eure Geschichten. Er steht dem dominierenden Geschichtskanon in Lehrplänen kritisch gegenüber, plädiert für weniger Perspektiven «alter weisser Männer» und für mehr Heterogenität.

Irfan Dedović kam vor dem Krieg aus Bosnien in die Schweiz. Als er in den 90er-Jahren ins Gymnasium ging, wurde dort nicht über die Kriege in seinem Geburtsland gesprochen: «Dieses Schweigen hat mich extrem geschmerzt.» Bis heute beschäftigen ihn Fragen rund um Identität und Migration, während die Kriege in Ex-Jugoslawien hierzulande bei vielen anderen aus dem kollektiven Gedächtnis zu verschwinden scheinen. 2022 nannte etwa Bundesrätin Karin Keller-Sutter Russlands Angriff auf die Ukraine den ersten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Lernen, um aktuelle Gefahren zu erkennen

Aber ist es für jungen Menschen überhaupt relevant, sich an Kriege zu erinnern, zu deren Zeit sie nicht mal geboren waren? «Ja», sagt Dedović bestimmt. Denn Kriege würden Menschen prägen. «Erfahrungen machen Identität aus, man kann sie nicht einfach wegwischen.» Um Leute aus der Region besser zu verstehen, helfe es, zu verstehen, was sie erlebt und überlebt haben. Und das wiederum helfe, auch aktuelle Gefahren besser zu erfassen – denn die tödlichen Ideologien von damals bestehen weiter, in einigen Fällen kosten sie auch bis heute Menschenleben. 

Für Dedović  ist diese Reise somit mehr als ein Ausflug, der in seine persönlichen Interessen passt. «Was passiert mit einer Gesellschaft, mit einer Stadt, wenn plötzlich ein grosser Teil der Menschen, die sie ausmachten, nicht mehr da sind?» 

Wilfried Meichtry glaubt, dass man die Vergangenheit verstehen muss, um sich in der Gegenwart zurechtzufinden. Gerade die aktuellen Entwicklungen in den USA mit willkürlichen Verhaftungen, eingeschränkter Meinungsfreiheit, einer bröckelnden Demokratie würden zeigen, wie wichtig es ist, Schüler*innen dafür zu sensibilisieren, was für ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben nötig ist, und wann sie Propaganda und Desinformation aufsitzen.

Minarette, Einschusslöcher, Souvenirs

Dafür nehmen die Lehrer in Kauf, dass ihre Schüler*innen auch grausamen Orten, Fakten und Bildern ausgesetzt sein werden. «Es ist unsere Realität. Sie zu vermeiden wäre kontraproduktiv», sagt Meichtry.

Denkmal für KZ Jasenovac_Leo Conderas
«Eindrücklich und spannend», schreibt Muriel. Die Steinerne Blume bei der Gedenkstätte für das KZ Jasenovac. (Bild: Leo Conderas, zvg)

Der erste Morgen. «Die Nacht war mühsam», schreibt Selma von unterwegs, «Ich habe fast nicht schlafen können», kommt von Aleena per Sprachnachricht, «Aber das ging voll klar.»

Kurze Zeit später schiessen sie Fotos vom türkisblauen Wasser des Bledsees, lernen von einer Touristenführerin in Ljubljana mehr über die Ideen von Tito und seinen Partisanen, essen traditionellen slowenischen Strudel. Am nächsten Tag geht es weiter nach Kroatien, Jasenovac, wo Bogdan Bogdanovics Steinerne Blume an die Opfer des Terrors der kroatischen Ustasha erinnert. «Eindrücklich und spannend», schreibt Muriel. «Ein recht kurzer Einblick und wir haben uns auch nicht wirklich krass darauf vorbereitet», sagt Aleena, «dennoch lehrreich».

Rasch geht es weiter. Der Car überquert die Grenze nach Bosnien-Herzegowina. 

Für Muriel ist es das erste Mal, dass sie in ein Land reist, in dem ein grosser Teil der Bevölkerung muslimisch ist. So viele Minarette und Moscheen zu sehen – «schon neu für mich».

Nächster Halt: Sarajevo.

Sarajevo hat sich in den letzten Jahren zu einer beliebten Reisedestination entwickelt. Guides führen Scharen von Touristen in allen möglichen Sprachen durch das historische osmanisch Marktviertel, die Baščaršija, und den östereich-ungarischen Teil der Altstadt. Parallel dazu sind  Folgen der Belagerung von 1992 bis1995 nach wie vor gut sichtbar. Einschusslöcher, praktisch überall, wo man hinblickt, Gedenktafeln, Krater von Granaten, die heute mit roter Farbe ausgefüllt als «Rosen von Sarajevo» an die an jenen Einschlagorten Getöteten erinnern.

Plötzlich ist der Krieg so nah

Die Schüler*innen erleben diese Gleichzeitigkeit – geniessen es, gemeinsam in Restaurants lokale Spezialitäten zu probieren, schlendern durch Souvenirläden, fotografieren Ausblicke über die hügelige Stadtlandschaft. Und besuchen aber auch Orte wie das «War Childhood Museum», in dem die Kriegskinder von damals anhand persönlicher Erinnerungsstücke erzählen, was sie während der 90er-Jahre erlebt haben. Oder die Schweizer Botschaft, wo sie erfahren, dass im Land bis heute immer wieder Spannungen aufflammen können und gerade viele Junge das Land verlassen, weil sie keine Perspektive mehr sehen. «Ein Dämpfer» für Aleena, «erschreckend» für Jonas.

Schüler über der Stadt Sarajevo_Stefan Schmid
In Sarajevo sehen die Schüler*innen nebst osmanischer Architektur auch die Spuren des Krieges der 90er-Jahre, an Hauswänden, in Museen.

Ein freier Vormittag in Sarajevo. Eine Gruppe beschliesst, das Genozid-Museum nahe der Einkaufsmeile zu besuchen, freiwillig. Die Räume sind eng, die Wände schwarz gestrichen, überladen mit Artefakten aus der über drei Jahre dauernden Belagerung der Stadt und der Verbrechen, die im ganzen Land verübt wurden. Briefe an Angehörige, Kleidungsstücke von Vermissten, selbstgebaute Öfen, um den Winter in einer Stadt zu überleben, die zusammen mit ihren Bewohner*innen hätte getötet werden sollen.

Nach dem Besuch setzen sich die Jugendlichen einer nach dem anderen erst mal aufs Trottoir und wissen nicht recht, was sie sagen sollen.

«Wie will man darauf reagieren?», wird Jonas später am Telefon rhetorisch fragen, als er von diesem Besuch erzählt. Zusammen mit seinen Kolleg*innen habe er versucht, Unbegreifliches einzuordnen. Einige hätten ein seltsames Lächeln auf dem Gesicht gehabt, aber eines, das schnell in ein Weinen hätte kippen können.

Auch Lehrer Wilfried Meichtry denkt viel nach. Darüber, dass für seine Schüler*innen, die nach 2009 geboren wurden, die Kriege der 90er-Jahre sich etwa so anfühlen wie für ihn der Zweite Weltkrieg. Weit weg. Nun merkt er, zusammen mit den Jugendlichen, dass dieser Krieg der 90er-Jahre bis heute lebt. Die Einschusslöcher in den Häusern – auch für ihn «happig».

Dienstag, 23.9. Weiterfahrt nach Srebrenica, beziehungsweise Potočari im Norden des Landes Vor dieser hat Irfan Dedović etwas Angst. Er war bereits zweimal im Srebrenica Memorial Center.

Das Unbegreifliche verstehen wollen

Im Juli 1995 verübten serbische Nationalisten den Genozid von Srebrenica. Sie töteten über 8000 Bosniak*innen, die Mehrheit von ihnen Männer und Jungen. Das Memorial Center befindet sich auf dem Areal der ehemaligen Batteriefabrik in Potočari, wo die Zehntausenden Geflüchteten damals im Juli 1995 Schutz suchten in einer sogenannten «safe area» der UNO. Am Ende waren es die UN-Blauhelme, die zuschauten, wie der bosnisch-serbische General Ratko Mladić und seine Truppen die Schutzsuchenden trennten. Frauen und Mädchen wurden mit Bussen weggefahren, Männer und Jungen in umiliegende Wälder, Schulen, Lagerhäuser geführt und ermordet.

«Ihr könnt rausgehen, wenn es euch zu viel wird», sagen die Lehrer ihrer Gruppe in der Ausstellung. Doch alle bleiben.

Die Führung übernimmt eine Frau, die selbst den Genozid überlebt hat. Unterwegs auf dem riesigen Areal hören die Schüler*innen über Bildschirme unzählige Zeug*innenberichte, sehen die Chronologie der Ereignisse auf grossen Tafeln mit Fotos und Karten. Jonas beobachtet seine Mitschüler*innen. Deren Gesichter verändern sich, wirken abwesend. In vielen Augen sammeln sich Tränen. 

Friedhof und Gedenkstätte in Potocari_Stefan Schmid
Die Tausenden Grabsteine erinnern an die Genozidopfer von Srebrenica. Die Ausstellung im Gedenkzentrum ist für viele schwer zu ertragen. (Bild: Stefan Schmid, zvg)

Der neuere Teil der Ausstellung informiert über den Todesmarsch, die Flucht von Tausenden Männern aus Srebrenica Richtung Tuzla durch dichte, unwegsame Wälder. Ein Martyrium für sich. Sprengfallen, Minen, Granatenbeschuss, Hinterhalte. Hunger, Durst, Verletzte, Tote. Von den 10 bis15’000 Männern überlebten rund 3000.

Der Mann der Museumsführerin ist einer von ihnen. Am Ende der Führung kommt er dazu.

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«Mir ist die Sprache weggeblieben», schreibt Aleena. Memorial Center für den Genozid von Srebrenica in Potočari. (Bild: Stefan Schmid, zvg)

Tage später noch ringen die Lehrer um Worte, wenn sie an diesen Moment zurückdenken. «Da hat sich plötzlich alles in dieser einen Person konzentriert.»«Ich wusste nicht mehr, wie ich mich verhalten soll.» «Vielleicht ist es das erste Mal, dass die Jugendlichen sehen, wozu Menschen fähig sind und was Propaganda und Nationalismus anrichten können.»

Das, was die Schüler*innen auf dieser Reise lernen sollten, überwältigt nun auch jene, die es ihnen haben beibringen wollen.

Später meldet sich Aleena auf Whatsapp. Der Besuch im Memorial Center habe sie sehr mitgenommen, «mir ist die Sprache weggeblieben.» Die Reisegruppe übernachtet in Potočari, unweit der Gedenkstätte. «Die Stimmung im Hotel war sehr bedrückt. Aber trotzdem konnte es einen mega Switch geben.»

Das Schöne, das Grauen – dicht an dicht

Am Abend geht Aleena mit Freund*innen spazieren, kommt mit einem Mann, der auf der Terrasse seines Hauses sitzt, ins Gespräch. Die Katze, sie sie streichle, heisse Mimi, sagt er. «Wir haben noch mehr Katzen gesehen und ihnen Namen gegeben. Es war fröhlich, es war eine Abwechslung zur Schwere am Nachmittag.»

Andere sitzen bis spät im Hotel beisammen, reden über das Erlebte, stellen Fragen und spielen Gitarre. Irfan Dedović merkt, dass der Tag etwas bewegt hat in der Reisegruppe– die Liste mit den über 8000 Namen auf dem Friedhof, das riesige Gräberfeld.

«Wir haben uns gegenseitig gestärkt, das machte die ganze Reise erträglicher.»

Jonas, Schüler

Am Tag darauf postet Aleena Fotos in ihrer Instagram-Story. Die belebte Altstadt von Sarajevo, ein Minarett, ein lustiger Aufdruck auf einer Stofftasche, eine Srebrenica-Überlebende, die über einen Screen erzählt, Fotos der Ermordeten, zwei streunende Hunde, die alte restaurierte Brücke von Mostar weiter im Süden des Landes, ein Liebesgraffiti. Schönes und Grauenhaftes  dicht an dicht. Alltag in Bosnien-Herzegowina.

Freitag, 26.9. Der letzte Tag vor der Heimreise. «Wir hatten etwas Probleme an der Grenze», schickt Muriel nach Mitternacht per Sprachnachricht. «Aber wir hatten es lustig im Car, haben Spieli gespielt, Bücher gelesen, natürlich am Projekt geschrieben. Ich am Essay», schreibt Jonas.

Crikvenica, Kroatien. Durchatmen am Meer. 

«Die Woche ging schnell durch, ich habe nicht so viel geschlafen, war aber noch aufnahmefähig», schreibt Jonas. Er hat sich für die anstehende gemeinsame Reflexionsrunde bereits unterwegs immer wieder notiert, was ihn beschäftigt – wie nah dieser Krieg am heute ist, wie es wohl sein muss, umgeben von all den Einschusslöchern und den Folgen von Gewalt aufzuwachsen, «das ist bestimmt prägend.» Wie wird es für die Region und all die Menschen weitergehen? Bleiben oder abwandern, auf die EU hoffen, auf mehr Demokratie und weniger Blockade?

Das (Hi-)Story Festival

Vom 12. Bis zum 28. Oktober  findet in Bern das (Hi)Story Festival statt. Es befasst sich mit dem Zerfall Ex-Jugoslawiens in den 90er-Jahren und fragt: «30 Jahre nach dem Krieg – Frieden?» Die Veranstaltungen bringt Autor*innen, Podcaster*innen, Kunstschaffende und Wissenschaftler*innen aus Südosteuropa und der Diaspora zusammen. Es gibt Lesungen, Vorträge, Podien, Musik, Performances und Workshops. Sie blicken zurück, um über die Zukunft nachzudenken, schreiben die Organisatorinnen, die Berner GFL-Stadträtin und Historikerin Tanja Miljanović und die Kunsthistorikerin Marina Porobić.  Mehr Informationen findest du hier. 

Jonas denkt auch an die neuen Freundschaften, die er in den letzten Tagen geschlossen hat. «Wir haben uns gegenseitig gestärkt, das machte die ganze Reise erträglicher.»

Wilfried Meichtry legt sich am Morgen erst mal an den Pool. «Hier geht es mir gut», lacht er ins Telefon, wird aber schnell wieder ernst.

Verarbeiten und Patent Ochsner singen

Er weiss, dass es für die Jugendlichen nicht leicht ist, in einer Gruppe offen darüber zu sprechen, was sie bewegt, erstaunt und erschüttert hat. Er wird in der Reflexionsrunde deshalb auch seine Gefühle zum Erlebten teilen. «Was ich gesehen habe, beschäftigt mich nachhaltig», sagt er und denkt noch immer an die Begegnung mit dem Überlebenden in Srebrenica. Dinge die aufwühlen, können Neugierde entfachen, glaubt Meichtry. Und das wiederum könne ein Leben beeinflussen, ihm eine Richtung geben.

Der Abschluss in Crikvenica ist fröhlich. Sonnenuntergang und Lagerfeuer am Strand. Die Weitgereisten spielen Gitarre und Ukulele, singen Patent Ochsner.

Keine 24 Stunden später erreicht der Reisecar mit den 43 Schüler*innen Burgdorf. In den folgenden Tagen treffen von Selma, Aleena, Muriel und Jonas die letzten Whatsapps, Anrufe und Sprachnachrichten ein.

«Positiv überrascht  – die Menschen, die Landschaft, die Kultur», «schockiert», «traurig», «schön», «unvergesslich»..

Mostar_Aleena Karabas
Der Blick über die Stadt Mostar heute ist schön, und doch beschäftigen die Kriegsspuren die Schüler*innen auch hier. (Bild: Aleena Karabas, zvg)

Selma bleiben die ersten Eindrücke überhaupt von einer Region, von der sie «so ziemlich keine Idee» hatte. «Ich wusste zum Beispiel nicht, dass vor nur 30 Jahren Kriege um Ex-Jugoslawien stattfanden!» Sie nimmt mit: «Dass man Menschen nicht mit Vorurteilen gegenüber stehen sollte, vor allem, wenn man nicht weiss, was sie bereits erlebt haben.»

«Ein schöner Prozess», findet Wilfried Meichtry, der in dieser Woche bei vielen beobachten konnte, wie sie ihre Vorurteile und Ängst haben gehenlassen. Er glaubt, dass sich dieser Prozess auf Erfahrungen weit über den Balkan hinaus übertragen kann.

Muriel sendet bereits das PDF ihrer Reportage. Sie hat über Jasenovac und Srebrenica geschrieben, «weil es mir wichtig erscheint, dass man in der Schweiz auch mehr über den Zweiten Weltkrieg und den Bosnienkrieg erfährt.»

Wie nachhaltig wirkt diese Reise wirklich?

Auch Stefan Schmid ist sehr zufrieden mit der Reise. Doch er grübelt. In den Abschlussarbeiten fällt ihm auf, dass es vielen schwerfällt, die grossen Bögen zwischen den Ereignissen zu schlagen und Themen miteinander zu verknüpfen. Stattdessen liest und sieht er viel Episodisches. Haben es die Schüler*innen wirklich geschafft, das vermeintlich «Fremde» aus sich selbst heraus zu begreifen  – und den Reflex, das Fremde mit dem Eigenen zu fassen, zu überwinden? Das fragt er sich. Auf einer nächsten Reise würde er versuchen, mehr mit der lokalen Bevölkerung ins Gespräch zu kommen, das hätten sich einige Schüler*innen gewünscht.

«Ich war überrascht, wie gut sie hend möge dürehebe», sagt Irfan Dedović zurück in Burgdorf. Er habe nur wenige bis gar keine Beschwerden gehört, trotz der wenigen Rückzugsmöglichkeiten und dem straffen Programm. «Ich glaube, dass die Reise vielen was gebracht hat». Horizonterweiterung, Verständnis. Und Fragen, die nicht unbedingt jetzt eine Antwort finden müssen.

Was nimmt Jonas mit, er, der sich fragte, ob ihn diese 8 Tage zu einem anderen Menschen machen würden?

«Diese Reise hat mir den Spiegel vorgehalten», sagt er am Telefon. Schon fast unverschämt nennt er das Privileg, in der Schweiz geboren worden zu sein, nun, da er gemerkt hat, wie es ist, wenn vieles, was hierzulande als selbstverständlich gilt, plötzlich nicht da ist. Im Car habe er Joghurt gegessen, einfach so zum Genuss. Und musste dabei an die Menschen in Sarajevo denken, die während der Belagerung hungerten. «Für sie wäre ein Joghurt überlebenswichtig gewesen.»

Dass die Lehrer mit einer Studienreise das Leben ihrer Schüler:innen verändern können, glaubt Jonas nur bedingt. «Sie geben uns die Möglichkeit dazu, aber verändern müssen wir uns selbst.» Nicht alle hätten sich gleich auf dieses Angebot eingelassen, findet der 16-Jährige. Bei ihm aber habe es geklappt. «Für mich war es eine Reise durch den Balkan, durchs Unbekannte  – und auch eine Reise zu mir selbst. Ich bin als anderer Mensch heimgekommen.»

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