Schutzstatus S – Prinzip Hoffnung?
Fast 5000 Geflüchtete aus der Ukraine leben im Kanton Bern bei Gastfamilien. Bald läuft die Zeit von drei Monaten, für die viele Wohnraum zur Verfügung stellen, ab. Welche Lösungen hat der Kanton Bern?
Das politische Bern pflegt enge persönliche Beziehungen zur Ukraine. Stadtpräsident Alec von Graffenried (Grüne Freie Liste) und seine Frau haben bekanntlich in ihrem Haushalt eine geflüchtete ukrainische Familie aufgenommen. Regierungsrat Christoph Ammann (SP) ist mit einer Ukrainerin verheiratet, und gestern liess der kantonale Wirtschaftsminister die Medien kurz an seiner persönlichen Befindlichkeit teilhaben. «Ich habe den Krieg in der Wohnstube», sagte Ammann.
Seine Frau sei logischerweise mit zahlreichen Ukrainer*innen – ob geflüchtet oder noch in der Heimat – in Kontakt. Zudem leben derzeit Familienangehörige aus der Ukraine in Ammanns Haushalt. Der mentale Status der meisten Ukrainer*innen, die in die Schweiz gekommen sind, sei der gleiche, so Ammann: Sie sitzen auf gepackten Koffern (sofern sie überhaupt mit Koffern kamen und nicht mit Plastiksäcken). Fast alle möchten nichts anderes, als so schnell wie möglich wieder nach Hause zurückzukehren.
Die Rückkehrmöglichkeiten hängen vom Kriegsverlauf ab. Parallel zur Hoffnung, heimreisen zu können, stellen sich im Alltag in der Schweiz immer neue praktische Fragen, je länger der Aufenthalt dauert. Zum Beispiel müssen sich Geflüchtete aus der Ukraine ab Ende Mai an ein neues Mobilitätsregime gewöhnen. Bis jetzt verkehrten sie im schweizerischen ÖV gratis. So fuhren Dutzende Ukrainer*innen auch aus Bern etwa am Freitagmorgen früh nach Zürich, um sich an einschlägigen Abgabeorten mit stark verbilligten Lebensmitteln und Kleidern einzudecken. Ab 1. Juni müssen alle Geflüchteten mit Status S den regulären Ticketpreis bezahlen.
Die Wohnungsfrage
Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto komplizierter wird für die Geflüchteten in der Schweiz die Wohnungsfrage. Die Unterbringung bei Gastfamilien, sozusagen das Rückgrat der Ukraine-Solidarität in der Schweiz, sei eine Übergangslösung, sagte etwa Nathalie Barthoulot, Präsidentin der kantonalen Sozialdirektor*innen, unlängst. Längerfristig brauche es andere Lösungen, deshalb würden an verschiedenen Orten Containerdörfer gebaut.
Zum Beispiel auf dem Viererfeld in der Stadt Bern. Dort entsteht für Kosten von laut Kantonsbehöreden 10 Millionen Franken ein Containerdorf, in dem 1000 Menschen Platz finden sollen – allerdings nicht als dauerhafte Wohnsituation, sondern als Übergangslösung, wie betont wird.
Was ist in Bern Übergangslösung und was nicht?
Aktuell leben 6600 Geflüchtete aus der Ukraine im Kanton Bern, 4700 von ihnen wohnen bei Gastfamilien.
Letztere haben in der Regel die Garantie abgegeben, ihre Unterkunft für mindestens drei Monate zur Verfügung zu stellen. Am kommenden Dienstag ist es drei Monate her, seit Russland den Krieg gegen die Ukraine startete. In wenigen Tagen läuft deshalb in vielen Gastfamilien die «Drei-Monats-Frist» ab. Ungeklärt ist, was dann passiert und wer die Initiative übernimmt.
Gefragte Gastfamilien
Gundekar Giebel, Sprecher der Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern, bestätigt: «Wir wünschen uns, dass die Gastfamilien die Geflüchteten aus der Ukraine für mindestens drei Monate aufnehmen.» Von einer erwarteten Beendigung nach drei Monaten gehen die Behörden aber nicht aus. Giebel formuliert es so: «Müsste eine Unterbringung nach drei Monaten beendet werden, sind die regionalen Partner im Asylwesen eine erste Ansprechstelle.» In der Stadt Bern und Umgebung wäre das der Asylsozialdienst der Stadt Bern (für die anderen Regionen des Kantons sind diese Anlaufstellen zuständig).
Es gebe bisher wenige vorzeitige Abbrüche von Gastfamilien-Aufenthalten, aber es gebe sie, und sie hätten in letzter Zeit leicht zugenommen, sagt Christoph Egger. Er ist Leiter des kantonalen Sonderstabs Ukraine. Laut Gundekar Giebel hat es «schon mehrmals sehr erfreuliche Rückmeldungen von Gastfamilien gegeben, die durch eigene Initiative eine permanente Wohnsituation schaffen konnten, etwa durch die Vermittlung einer Wohnung aus dem Bekanntenkreis». Aktuell leben im Kanton 639 Ukrainer*innen in eigenen Wohnungen.
Der zuständige Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (SVP) verweist auch darauf, dass es im Kanton Bern immer noch viele Familien gebe, die Wohnraum zur Verfügung gestellt haben, aber noch keine Geflüchteten zugewiesen erhielten. Es seien also noch Reserven vorhanden, die in Anspruch genommen werden könnten.
Zumal weniger Geflüchtete eintreffen könnten als zunächst erwartet: Die Kanton hat – gemäss den neuen Zahlen des Staatssekretariats für Migration (SEM) – die Prognosen nach unten korrigiert. Vor wenigen Wochen sprach Schnegg noch von 30’000 Geflüchteten, die bis Ende Jahr in den Kanton Bern kämen, aktuell geht er noch von 10’000 bis 20’000 Personen aus. Eines bleibe aber klar, so Schnegg: «Wir rechnen damit, dass wir bis Ende Jahr noch mehrere Tausend Menschen zusätzlich unterbringen müssen.»
Im Klartext: Im Kanton Bern hängt für eine langfristige Lösung in der Wohnfrage von Geflüchteten sehr viel von der Solidarität und der Initiative der Gastfamilien ab. Und vom Prinzip Hoffnung.
Der schwierige Arbeitsmarkt
Der Schutzstatus S ermöglicht es Ukrainer*innen und Ukrainern, sofort in der Schweiz zu arbeiten. Allerdings erweist sich die Arbeitssuche für die meisten als schwierig bis unmöglich. Laut Christoph Ammann hat der Kanton bisher erst gut 200 Arbeitsbewilligungen für Ukrainer*innen ausgestellt. Vor einem Monat, als die «Hauptstadt» erstmals Zahlen nachfragte, waren es 15 Bewilligungen gewesen.
Der offizielle Weg für Ukrainer*innen, zu einem Job zu kommen, führt über die Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV). Doch dieser Weg führt kaum je zum Ziel, weil für die Anmeldung beim RAV Deutschkenntnisse zwingend sind: Bis jetzt vermittelte der Kanton auf diesem Weg nur gerade acht Ukrainer*innen eine Stelle. Erfolgversprechender sei es, rät Ammann (aus persönlicher Erfahrung, wie er sagte), wenn man direkt bei möglichen Arbeitgeber*innen vorspreche. So fanden im Kanton Bern etwa 90 Ukrainer*innen einen Job in der Gastronomie, die stark unter Personalmangel leidet. 27 Geflüchtete aus der Ukraine arbeiten in der Landwirtschaft, 25 in technischen Berufen, zum Beispiel in der Informatik.
Die ungebrochene Solidarität
Die Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine scheint im Kanton Bern ungebrochen. Auf einen Aufruf für Unterstützung von geflüchteten Kindern an den Schulen meldeten sich – trotz Mangel an Lehrpersonen –- über 1000 Personen, wie Erwin Sommer von der kantonalen Bildungsdirektion sagte. Ein warmes Zeichen sendet auch der Verband bernischer Musikschulen aus, der dieses Wochenende seine Solidaritätswoche Ukraine abschliesst. Die Kollekten aus den zahlreichen Konzerten sollen es geflüchteten Kindern ermöglichen, kostenlosen Musikunterricht an den 28 kantonalen Musikschulen zu besuchen.