Wut und Wandel
Das Hängelequartier am Rand von Kehrsatz gilt seit Jahren als sanierungsbedürftig. Bewohner*innen und Gemeinde kämpfen dafür, den Ort trotzdem lebenswert zu machen – zum Beispiel mit dem «Zobo»-Spielmobil.
Das Etikett der «Problemsiedlung» ist schnell vergeben. Es kann ein Stigma sein, ein Schatten in der Biografie, wenn man «von dort» kommt. In der Hängele-Siedlung der Gemeinde Kehrsatz ist das grundsätzlich nicht anders – aber es hat sich ein Kollektiv aus Gemeinde, Kirche, Jugendarbeit und Freiwilligen aus der Bevölkerung gebildet, um Menschen mit schwierigen Startbedingungen zu helfen, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Es sind Farbtupfer vor grauem Beton.
Ein Mittwochnachmittag am Eingang der Siedlung, die oberhalb des Dorfkerns an der Zimmerwaldstrasse liegt und von den Bewohner*innen wahlweise Tannacker oder «die Hängele» genannt wird. Daniela Gloor steht vor einer neuen Spielkiste, die gerade von fünf Kindern bemalt wird. In grossen Lettern steht «Zobo» darauf. Der Name hat sich für das wöchentliche Spielangebot auf dem grauen Vorplatz der fünf Wohnblöcke etabliert. Einen eigentlichen Spielplatz gibt es nicht. An diesem Nachmittag sind rund 30 Kinder anwesend – blickt man in ihre freudigen Gesichter, wird deutlich, dass viele von ihnen Wurzeln ausserhalb Europas haben.
Draussen daheim
Gloor ist in Kehrsatz seit zwei Jahren die erste Ansprechperson für soziale Themen. Die Hängele mit ihren 329 Einwohner*innen aus mehr als zwanzig Nationen beschäftigt sie immer wieder. Unterstützung bekommt sie dabei unter anderem von sogenannten «Schlüsselpersonen», welche die jeweilige Sprache der Bewohner*innen sprechen und bei der Sozial- und Integrationsarbeit eine Brückenfunktion übernehmen.
«Der Aussenraum wird hier aufgewertet», sagt die Sozialarbeiterin und schaut auf den gepflasterten Platz vor ihr, auf dem aktuell neben der neuen Spielkiste nur eine verwitterte Tischtennisplatte steht. Schon bald sollen neue Möbel und Tische dazukommen. Ausserdem wird ein Balanciermikado die Motorik der Kinder schulen und ein Klettergerüst errichtet. Die Gemeinde konnte sich dafür die Unterstützung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Schweiz und der Roger Federer Foundation sichern – es handelt sich dabei laut der Sozialarbeiterin um eines von schweizweit nur fünf Pilotprojekten.
In der Woche vom 3. bis 6. Juni verlegte die Redaktion der «Hauptstadt» ihr Büro nach Kehrsatz ins Oekumenische Zentrum. Kehrsatz ist ein vergleichsweise kleiner Vorort von Bern. Was macht ihn aus? Was fehlt ihm? Und wie sieht es mit dem gastronomischen Angebot aus? Das soll in dieser Woche ausgeleuchtet werden.
Neben Gloor sind an diesem Nachmittag Freiwillige aus dem Quartier, aber auch Mitarbeitende der katholischen Kirche und der Jugendarbeit Köniz anwesend – letztere leitet den Treff im Auftrag der Gemeinde. Jugendarbeiter Hansjürg Hofmann mischt gerade Farben an und hilft den Kindern anschliessend beim Händewaschen. Er schätzt es, dass die Kinder in der Hängele das Spielangebot so gut annehmen und «generell weniger vorm Computer sitzen als anderswo». Die Hängele und die Blöcke an der Bernstrasse seien die «Meltingpots» von Kehrsatz.
Allein an diesem sonnigen Nachmittag sind Kinder aus der Türkei, Afghanistan, Syrien, Albanien und Eritrea anwesend. «Es läuft immer etwas», sagt er.
Sanierungsstau
«Ich sehe die Menschen, die im Hängelequartier wohnen, als Bereicherung für unser Dorf», sagt die Gemeindepräsidentin von Kehrsatz, Katharina Annen (FDP). «Aber manchmal packt mich auch die Wut, wenn ich an der Siedlung vorbeifahre». Die FDP-Politikerin, welche seit über zehn Jahren im Amt ist und dieses im Herbst abgibt, meint damit den baulichen Zustand der Siedlung. Dieser sorgte schon häufiger für Negativschlagzeilen, zum Beispiel 2013:
Schimmel im Badezimmer, ein Wasserschaden, der monatelang nicht behoben wurde, Heizkörper, die sich nicht regulieren lassen.
2017 kam es zu einem tragischen Vorfall mit einem Föhn, bei dem zwei Buben aus der Siedlung an der Hängelenstrasse zu Tode kamen. Damals stand der Vorwurf im Raum, die elektrischen Anlagen der Häuser seien nicht in Ordnung. «Zumindest sind in der Zwischenzeit Sicherheitsschalter eingebaut worden», sagt Annen.
Die grösste Kritik ziehen jene Blöcke auf sich, die von der Axxina verwaltet werden. Fragt man dort nach dem Zustand der Liegenschaften, heisst es, dass man leider unterbesetzt sei und aus diesem Grund überlastet. Mit einer Antwort könne man frühestens im August rechnen.
Dass Probleme weiter bestehen, zeigt ein Rundgang mit einer Bewohnerin des Häuserblocks mit der Hausnummer 1, die anonym bleiben möchte. Die Frau mit Wurzeln in Syrien führt durch die Räume ihrer Fünfeinhalb-Zimmer-Wohnung, in der sie mit ihren fünf Kindern und ihrem Mann wohnt. Im Kinderzimmer ist die erste Scheibe eines doppelt verglasten Fensters zerborsten. Vor das scharfkantige Glas hat die Frau behelfsmässig einen Vorhang geschoben. Direkt daneben liegt die Matratze ihres Kindes. Man habe den Schaden schon vor drei Monaten bei der Liegenschaftsverwaltung gemeldet, sagt die Frau. Zwar habe jemand den Schaden begutachtet, aber er sei immer noch nicht repariert worden.
Sie wollen Goals
Allen baulichen Mängel zum Trotz – Gemeindepräsidentin Annen sieht die Integration im Hängelenquartier auf einem guten Weg. «Unsere Arbeit trägt Früchte», sagt sie. Das sei auch möglich, weil sich so viele Menschen der Gemeinde mit viel Herzblut engagieren. Sie geht dabei mit gutem Beispiel voran: Fünfmal in der Woche ist sie in der Küche des Ökumenischen Zentrums anzutreffen, um gemeinsam mit zwei anderen Frauen für die wöchentlich 320 Schulkinder den Mittagstisch zu kochen.
Zurück auf dem Vorplatz des Zobo-Mobils. Die Buben tragen Shirts grosser Fussballvereine. Ein kleiner «Mbappé» dribbelt über das Pflaster. Er blickt auf die gegenüberliegende Wiese, auf dem ein Fussballtor notdürftig mit einem Stock vor dem Umfallen bewahrt wird. «Wir brauchen neue Goals», sagt der Junge. Doch das alleine wird für ein regelmässiges «Schutten» auf dem Rasen nicht reichen. Es fehlt noch ein hoher Zaun, der verhindert, dass der Ball auf die stark befahrene Strasse nebenan fliegt. «Doch dafür müssten sich der Kanton, die Gemeinde und die verschiedenen Wohnungsbesitzer einigen», sagt Sozialarbeiterin Gloor.
«Mbappé» muss sich also noch gedulden. Gerade jongliert er den Ball – 72 Mal hat er das schon geschafft