Kehrsatz Spezial

Das Dorf hofft auf ein Zentrum

Mit dem grossen Bauprojekt «Kehrsatz Mitte» könnte endlich ein Dorfzentrum in Kehrsatz entstehen. Einen massgeblichen Einfluss darauf werden die im Herbst neu gewählten Gemeinderät*innen haben.

Kehrsatz
 grüne Wiese neben dem Bahnhof, wo eine grosse Überbauung mit Dorfzentrum entstehen soll
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Auf dieser Wiese soll in den kommenden Jahren eine Überbauung mit einem neuen Dorfzentrum entstehen. (Bild: Danielle Liniger)

Die FDP Kehrsatz lädt diesen Samstag zum Risotto auf der grünen Wiese neben dem Bahnhof. Damit wird der Wahlkampf eingeläutet. An dem Ort, auf dem die Zukunftshoffnung von Kehrsatz liegt. Denn auf dieser grünen Wiese entstehen eine grosse Überbauung, gleichzeitig eine neue Umfahrung und, was die Leute umtreibt, endlich ein Zentrum für Kehrsatz.

Das Dorf freue sich auf das Projekt, sagt der amtierende Gemeinderat René Walker (FDP), der im Oktober erneut für das Amt kandidieren wird.

Für Laura Rossi, grüne Gemeindepräsidiumskandidatin des Bündnisses «Kehrsatz Links der Mitte» ist es gar mehr: «Wer in Kehrsatz die nächsten Jahre das Sagen hat, bestimmt auch, wie das neue Dorfzentrum aussieht», sagt sie.

Denn ein Dorfzentrum gibt es in Kehrsatz bisher nicht. Die weitläufige Gemeinde besteht aus vielen in sich geschlossenen Quartieren, verbunden durch die grosse Bernstrasse, die Zimmerwaldstrasse, die Talstrasse. Dazu kommen die nicht zu unterschätzenden Höhenunterschiede im Dorf. Vereine treffen sich im Ökumenischen Zentrum etwas weiter unten, im Ristorante Brunello in der Mitte oder beim Schulareal Selhofen am Rand des Dorfes.

Ein Generationenprojekt

Doch nun steht in Kehrsatz ein Generationenprojekt an – und das direkt neben dem zentral gelegenen Bahnhof, der Unter- und Oberdorf trennt. Nach über 20 Jahren Planung, einem zeitweiligen Stopp und einer Ortsplanungsrevision 2019, sollen Ende der nächsten Legislatur auf der Bahnhofmatte die Bagger auffahren.

Kehrsatz Spezial
Kehrsatz Spezial

In der Woche vom 3. bis 6. Juni verlegte die Redaktion der «Hauptstadt» ihr Büro nach Kehrsatz ins Oekumenische Zentrum. Kehrsatz ist ein vergleichsweise kleiner Vorort von Bern. Was macht ihn aus? Was fehlt ihm? Und wie sieht es mit dem gastronomischen Angebot aus? Das soll in dieser Woche ausgeleuchtet werden.

Beim Bauprojekt, das die Gemeinde gemeinsam mit der Landbesitzerin Burgergemeinde Bern, mit der BLS und dem Kanton stemmt, geht es auch um Verkehr. Die Strasse von Zimmerwald wird nicht mehr automatisch über den Bahnübergang und durch Kehrsatz führen, neu wird der Durchgangsverkehr von und zum Längenberg mit einem Kreisel umgelenkt.

So soll das Zentrum von Kehrsatz beruhigt, der Stau an der Bahnschranke reduziert werden. «Grosse Teile des Dorfes werden vom Durchgangsverkehr befreit, was die Lebensqualität erhöht und Raum für zusätzliche Begegnungszonen schafft», sagt René Walker.

Auf der Matte sollen gemäss einer vor einigen Jahren durchgeführten Testplanung dereinst 300 Wohnungen und laut Website des Projekts ein «grosser, publikums-orientierter» Platz entstehen. Es ist dieses Zentrum, mit dem verschiedene Hoffnungen verbunden sind.

Und wer im Herbst in den Gemeinderat gewählt wird, hat die Chance, das Generationenprojekt, das Kehrsatz prägen wird, weiterzuführen und mitzugestalten.

Nicht zuletzt darum gibt es im Dorf in diesem Jahr einen ungewöhnlich engagierten Wahlkampf. Es gibt Bündnisse, Anlässe, es wird ausgeteilt von links gegen rechts, von rechts gegen links.

«SP/Grüne malen in ihrem Positionspapier ein viel zu düsteres Bild von Kehrsatz, das so nicht stimmt. Kehrsatz ist ein schönes, buntes und lebenswertes Multikultidorf. Unter anderem dank der kooperativen und zukunftsgerichteten Politik der FDP Kehrsatz. Und vergessen wir nicht, der Gemeinderat ist eine Kollegialbehörde», lässt sich etwa der bisherige Gemeinderat René Walker in einer FDP-Medienmitteilung zitieren. Und Linksgrün macht in seinen Positionen klar: «Wir haben genug von Gemeinde-Filz und von Projekten, die nur auf den kurzfristigen Vorteil bedacht sind – langfristig aber nur Stillstand bringen!»

René Walker
Kehrsatz
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René Walker ist amtierender FDP-Gemeinderat und potentieller Kandidat fürs Gemeindepräsidium. (Bild: Danielle Liniger)

Das rot-grüne Bündnis fordert die bisherige bürgerliche Mehrheit heraus, die Grüne Laura Rossi will das Präsidium, zudem kandidieren zwei weitere Kandidat*innen auf der Liste. Weil drei von fünf Gemeinderät*innen, darunter auch FDP-Gemeindepräsidentin Katharina Annen, zurücktreten, ist der Spielraum für neue Kandidat*innen verhältnismässig gross. Bisher ist die Sitzverteilung so: 1 SVP, 2 FDP, 1 SP, 1 Grüne. Für die Wahlen gibt es folgende Listen: Kehrsatz links der Mitte, FDP, Mitte (die beiden bilden gemeinsam eine Listenverbindung) und SVP. Gemeindepräsident*in kann nur werden, wer zuvor in den Gemeinderat gewählt wird.

Für FDP-Gemeinderat René Walker, seines Zeichens OK-Präsident des Chäsitzer Laufs und Redaktor der Dorfzeitung «Chäsitzer», ist klar, dass es besser wäre, wenn jemand Gemeindepräsident*in wird, der oder die schon vorher in der Exekutive sass. Nur, nach dieser Logik kämen nur er oder SVP-Mann Roland Geiger dafür in Frage.

Walker selbst ziert sich noch. «Zur Zeit laufen viele Gespräche mit meinen Arbeitgebern, Geschäftspartnern und der Familie, ob ich genügend Zeit für das Amt hätte», sagt er. Neu soll das Gemeindepräsidium von Kehrsatz ein 30 Prozent Pensum sein.

Auch SVP-Mann Roland Geiger sucht das Präsidium nicht. «Wir sehen uns nicht im Lead, weil die FDP grösser ist. Aber wenn auf bürgerlicher Seite niemand sonst kandidieren würde, müsste ich noch einmal über die Bücher», sagt er.

Spielraum ist eng

Der engagierte Wahlkampf könnte ein Glücksfall für Kehrsatz sein. Wann schon melden sich so viele Regierungswillige in einer kleinen Gemeinde? Lokalpolitik reisst normalerweise niemanden vom Hocker. Zu trocken, und ausserdem ist ja doch das meiste von Kanton und Bund vorgegeben. Bei einer kleinen Gemeinde wie Kehrsatz kommt hinzu, dass sie in vielen Bereichen auf die Zusammenarbeit mit anderen Gemeinden angewiesen ist.

Bei der Jugendarbeit etwa arbeitet sie seit 20 Jahren mit Köniz zusammen. Den regionalen Sozialdienst oder die Feuerwehr und mit ihr den ganzen Sicherheitsbereich organisiert Kehrsatz mit Belp.

Kehrsatz ist zwar offiziell eine unabhängige Gemeinde, der Spielraum für eine eigene Gestaltung ist aber relativ eng.

Laura Rossi
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Laura Rossi von den Grünen fordert die bisherige bürgerliche Mehrheit heraus. (Bild: Danielle Liniger)

Würde Laura Rossi in den Kehrsatzer Gemeinderat oder gar ins Präsidium gewählt, weiss sie genau, wofür sie sich einsetzen möchte: «Auf der Bahnhofmatte soll ein Zentrum entstehen mit öffentlich nutzbaren Räumen.» Sie denke da etwa an einen Dorfplatz, ein Café, eine Bibliothek. Auch bezüglich der sonstigen Gestaltung fordert sie, dass die Gemeinde Einfluss nimmt: «Ich möchte, dass die Gemeinde sich für gemeinnützigen Wohnraum einsetzt.»

Wie viel Einfluss hat Kehrsatz überhaupt?

Aus der Sicht von Kehrsatz stellt sich allerdings die Frage: Wie viel Einfluss kann die Gemeinde überhaupt nehmen? Grundbesitzerin der Bahnhofmatte ist die Burgergemeinde Bern. Kehrsatz kann also höchstens Wünsche anbringen, nicht aber Ansprüche stellen.

Auf Anfrage der «Hauptstadt» teilt die Burgergemeinde mit, dass das Projekt etappiert werde. Nicht alle 300 Wohnungen würden auf einen Schlag gebaut, dies wegen planerischen Fragen, wie etwa der Erschliessung, die es noch zu klären gelte. Vorerst werde die Etappe «Bahnhofmatte Kern» weitergeplant und -gebaut. 118 Wohnungen und 36 Gewerbeobjekte seien vorgesehen. In diesen Perimeter gehören auch der zentrale Dorfplatz und die öffentlichen Nutzungen, auf denen so viele Hoffnungen in Kehrsatz ruhen.

Wie die Burgergemeinde gegenüber der «Hauptstadt» klarstellt, wird sie auf der Bahnhofmatte selber nicht Bauherrin sein. Sie gibt den Boden im Baurecht ab: «Die Burgergemeinde wird die erste Etappe von Kehrsatz Mitte im Verlauf der nächsten Monate für die Vergabe im Baurecht ausschreiben», hält Stefanie Gerber, Sprecherin der Burgergemeinde, fest. Noch offen sei, ob es einen oder mehrere Baurechtsnehmer geben werde. Angestrebt werde ein einzelner Baurechtsnehmer.

Kehrsatz
 grüne Wiese neben dem Bahnhof, wo eine grosse Überbauung mit Dorfzentrum entstehen soll
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Die neue Überbauung liegt gleich neben dem Bahnhof Kehrsatz. (Bild: Danielle Liniger)

Auch in der Stadt Bern, wo die Burgergemeinde die grösste Bodenbesitzerin ist, praktiziert sie im Unterschied zu früher heute normalerweise die Abgabe ihres Baulands im Baurecht. Sie gibt den Boden für eine vertraglich vereinbarte Frist an Investoren ab, die ihr dafür einen Baurechtszins zahlen. Auf diese Art sichert sich die Burgergemeinde eine kontinuierliche Rendite. Mit ihrem Gewinn – insgesamt beträgt er pro Jahr rund 30 Millionen Franken – unterstützen die Burger kulturelle, soziale und gemeinnützige Projekte.

Die «Hauptstadt» hat das Geschäftsmodell der Burgergemeinde 2023 in einem ausführlichen Schwerpunkt analysiert. Dabei zeigte sich unter anderem, dass auf Burgerboden, der im Baurecht abgegeben wird, auch preisgünstiger Wohnraum entstehen kann – zum Beispiel im Fall der Siedlung Schwabgut in Bümpliz.

Die Details der Baurechtsvergabe in Kehrsatz sind noch nicht bekannt. Entscheidend wird die Höhe des Baurechtszinses sein. Auf die Frage, welche Rolle der Kehrsatzer Wunsch nach einem Dorfzentrum in ihren Plänen spielt, schreibt die Burgergemeinde: «Gewisse öffentliche Nutzungen, zum Beispiel Detailhändler, sind in den Erdgeschossen vorgesehen. In unmittelbarer Nähe des Gebiets befinden sich bereits verschiedene Gastronomieangebote.»

Sachpolitik, nicht Parteipolitik

Auch Laura Rossi weiss, dass der Spielraum der Gemeinde, auf die Art der gebauten Wohnungen einzuwirken, klein sein könnte. «Aber man muss es wenigstens versuchen», sagt sie. «Es gibt noch viele Unbekannte in diesem Projekt, und die kommende Legislatur wird prägend sein, wo es hingeht», betont sie, die als selbstständige Anwältin arbeitet.

Weil sie bisher nicht Gemeinderätin ist, rechnet sie sich zwar wenig Chancen aus aufs Gemeindepräsidium, bei dem auch das entscheidende Ressort Planung angesiedelt ist. «Aber es ist wichtig, dass es nicht zu einer stillen Wahl kommt wie letztes Mal. Es braucht mindestens eine Auswahl», findet Rossi, die auch Präsidentin des Turnvereins Kehrsatz ist. Ähnlich klingt es übrigens von der Mitte-Partei, die erstmals an den Wahlen in Kehrsatz teilnimmt. «Eine stille Wahl kommt nicht in Frage», schreibt Parteipräsidentin Stéphanie Schneider. Die Mitte verpflichte sich, «einen transparenten und offenen Prozess» für die Wahl des Präsidiums zu unterstützen.

Die Mitte, aber auch Walker und Rossi sind der Meinung, dass Gemeindepolitik nicht in erster Linie Parteipolitik, sondern Sachpolitik sei. Und deshalb sind ihre Positionen auch gar nicht so weit voneinander weg. «Vielleicht ist es mehr die Prioritätensetzung», sinniert Rossi.

So sei zum Beispiel ein Ziel der jetzigen Legislatur, auf der Bernstrasse Tempo 30 einzuführen, verzögert und auf den Abschluss des Bauprojekts verschoben worden. «Wäre Linksgrün in der Mehrheit, hätte man wohl mehr darauf gedrängt, die 30er Zone noch in dieser Legislatur einzuführen.»

Am Samstag gibt die FDP ein Risotto auf der grünen Wiese aus. Falls alles gut läuft, wird sie es in einigen Jahren auf dem neuen «publikums-orientierten» Platz ausschöpfen können. Wie dieser Platz aussieht, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die Wahlen ausgehen.

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