Hilfe, bin ich konservativ?

Neuere Bauwerke in der Stadt wecken bei unserem Kolumnisten architektonische Verzweiflung. Wird er langsam konservativ oder liegt der Grund dafür woanders?

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Konservativ waren immer die anderen. Irgendwelche alten Männer, die Helmut Kohl gewählt haben. Ostpreussen und Schlesien zurückhaben wollten und gegen Einwanderung und Homo-Ehe waren. Den Verlust von Disziplin und Ordnung beklagten.

«Warte nur ab», habe ich oft gehört. «Warte nur ein Weilchen, bist du älter wirst, dann wirst du verstehen. Konservativ zu sein, ist nicht eine Frage von Inhalten. Es geht darum, wo man im Leben steht. Früher oder später kommen wir alle an diesen Punkt. Fast alle. Irgendwann will jeder, dass alles so bleibt, wie es ist.»

Die Vorstellung, dass es so kommen könnte, kam mir immer wie eine Art Verschwinden vor. Eine schreckliche Vision. So ähnlich wie der Gedanke, dass man einmal dement werden könnte. Wenn ich so werde, dann bin ich eigentlich nicht mehr da. Deswegen klang «Warte nur ab» wie eine Drohung. Als hätten die Konservativen meiner Jugend ihre Freude daran, mir zu sagen, dass ich sterben würde, lange bevor ich gestorben bin.

Ein schleichender Prozess

Sollten sie Recht behalten, wird es ein schleichender Prozess sein. Ich werde nicht eines Morgens aus unruhigen Träumen aufwachen und gegen trans Frauen auf dem Frauen-Klo sein. Es wird mit kleinen Dingen anfangen, und ehe ich mich‘s versehe, bin ich konservativ. 

Vorher werde ich wahrscheinlich eine Phase durchlaufen, in der ich bürgerlich bin. Danach kommt nur noch geriatrischer Rassismus und die altersmüde Lust an der Umweltzerstörung durch Verbrennermotoren.

Ich übertreibe natürlich. Andererseits erklären solche Überlegung die Sorge, mit der ich kleinste Anzeichen konservativen Gedankenguts an mir feststelle. Da bin ich besonders sensibel.

Letztens habe ich mich wieder vor mir selbst erschrocken, als mich beim Anblick alter Aufnahmen von Bern stille Verzweiflung ergriffen hat. Ich schaue mir gerne alte Fotos an, insbesondere von Städten, die mir vertraut sind. Das ist wahrscheinlich wirklich so eine Alterserscheinung. 

Fotografische Zeitreisen

Seit ich mich gefühlt in der Halbzeitpause meines Lebens befinde, hat Vergangenes eine neue Bedeutung für mich bekommen. Ich könnte mich stundenlang durch irgendwelche Onlinearchive klicken. Man kann mir eine grosse Freude machen mit einem verblichenen «Bravo»-Exemplar aus dem Jahr 1986. Daran ist noch nichts konservativ. Es geht darum, unwiederbringliche Perspektiven einzunehmen. Eine Art Zeitreise.

Alte Fotos von Bern haben aber eine ganz besondere Wirkung auf mich. Bis ich hierher gezogen bin, habe ich immer in Städten gelebt, die im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs mehr oder weniger zerstört wurden. Sehe ich mir alte Fotos von Bremen, Berlin oder Danzig an, kann ich das, was ich sehe, oft nicht damit in Einklang bringen, wie ich diese Städte selbst erlebt habe. 

Ganze Strassenzüge fehlen. Dort soll mal eine Kirche gestanden haben? Eine Parkanlage, wo heute nur ein Parkplatz zu finden ist? Solche Vorkriegsfotos haben etwas Surreales. Als würde ich die mir vertrauten Städte träumen. Die atemberaubenden Skulpturen von Monika Sosnowska, die seit einigen Tagen im Zentrum Paul Klee zu sehen sind, reflektieren solche Prozesse der urbanen Transformation im Sog der Geschichte. 

Bern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sieht im Gegensatz dazu oft sehr ähnlich aus wie heute. Auf manchen Fotos müsste man sich die Damen in langen Röcken, die Herren mit Melonenhüten, die Pferdewägen und die alten Ladenschilder wegdenken – und das Foto könnte auch gestern geschossen worden sein.

Monstrositäten und Katastrophen 

Natürlich hat auch Bern sich verändert. Wie sollte es auch anders sein? Aber man merkt, dass hier in den letzten hundert Jahren keine Umwälzungen stattgefunden haben. Vielleicht ist das der Grund, weshalb manches von dem, was im Berner Stadtbild dann doch anders ist als früher, mich ganz anders berührt als die Veränderungen von Städten, die sich ganz neu erfinden mussten. Und den Konservativen in mir weckt, den ich so fürchte.

Ab und an schaue ich mir die Fotovergleiche an, die Bernhard Eggimann auf seiner Seite «Alte Ansichten der Stadt Bern» veröffentlicht. Alte Fotos aus der Stadt werden dort neben aktuelle Fotos gestellt, die aus derselben Perspektive geschossen wurden. Vieles wirkt ähnlich, aber zwischendurch finden sich Vergleiche, die wie Schläge in die Magengrube sind. City-West – eine Monstrosität. Das Bollwerk – eine Katastrophe. Die Ecke Thunstrasse und Helvetiastrasse – es fehlen einem die Worte.

Vielleicht weine ich bei solchen Fotos still in mich hinein, weil hier keine Bomben die Neugestaltung nötig gemacht haben. Bestimmt gab es Gründe, die alten Strukturen abzutragen und durch Glas und Beton zu ersetzen, aber das alles ist im Wesentlichen freiwillig passiert. Irgendwer hat das offenbar entschieden. 

Ist das Alte wirklich besser? 

Bausünden gibt es allerdings in jeder Stadt. Möglicherweise kommen mir also die Berner Bausünden – wenn es denn wirklich welche sind – so viel schlimmer vor, weil Bern ansonsten so angenehm anzuschauen ist? Weil das lieblose Hochhaus in der pittoresken Umgebung noch brutaler wirkt? Ich hätte es jedenfalls lieber so wie früher, und dann frage ich mich: Ist das Alte wirklich besser? Oder bin ich es, der Veränderungen nicht mehr offen gegenübersteht?

Die Verteidigungsstrategie mir selbst gegenüber geht ungefähr so: Die Frage ist nicht, ob das Alte besser ist als das Neue. Nach Veränderungen rufen oft diejenigen, die sich etwas davon versprechen, während sich diejenigen, denen es gerade gut geht, in einem behaglichen Konservatismus einrichten können. Es brauchte in Bern offenbar einen neuen Bahnhof, dem alte Stadtstrukturen weichen mussten. Die Frage ist nicht, ob man alles beim Alten lassen soll, sondern wie genau das Neue zu gestalten ist. 

Wertabwägung

Wenn man zugibt, dass es auf diese Weise um die Suche nach einem Kompromiss geht, vertritt man automatisch die Position, dass das Alte eine Art von Wert hat, der aber eben gegen den Wert des Neuen abgewogen werden muss.

Die Konservativen, die mich in meiner Jugend so abgestossen haben, sind diesem Modell zufolge auf einer Extremposition zu verorten: Sie sehen nicht oder wollen nicht akzeptieren, dass das Alte für manche Menschen nicht bedingungslos wertvoll ist, und dass eine Veränderung bestimmter gesellschaftlicher Umstände für manche von existentieller Bedeutung sein kann. Man kann auch sagen, dass sie sich weigern, nach einem Kompromiss zwischen dem Wert des Überkommenen und anderen Werten, zum Beispiel denen der Emanzipation oder der Gerechtigkeit zu suchen.

Wenn die Bausünden von Bern in mir die Sehnsucht nach einem Stadtbild von 1920 wecken, dann erliege ich also einem konservativen Impuls, aber ich bin nicht im eigentlichen Sinne konservativ. Gott sei dank, noch einmal Glück gehabt! 

Bedürfnisse jenseits der Funktion

Dass das nicht nur eine private Ausrede ist, bemerke ich daran, dass ich nicht per se gegen Neues im Stadtbild bin. Ähnlich wie am politischen Konservatismus stört mich an einigen Formen der Stadtgestaltung lediglich, wenn sie offensichtlich ohne das Interesse an einem Kompromiss zustande gekommen sind. Gerade so, als müsse man jenseits der Funktion, die ein neues Gebäude erfüllen soll, keine anderen Bedürfnisse mehr erfüllen.

Diesen Eindruck habe ich nicht nur bei Gebäuden, die alte Baustrukturen ersetzt oder modifiziert haben, sondern fast immer auch bei Neubauten. Es scheint sehr selten darauf geachtet zu werden, dass sie sich in die bestehende Architektur einfügen. Da wird dann in einer Strasse mit Häusern vom Beginn des 20. Jahrhunderts ein Balkonkasten hingestellt, der nicht einmal farblich eine Verbindung mit den Nachbargebäuden herzustellen versucht. 

Vielleicht will man sich ja nicht einfügen, das wäre durchaus legitim. Aber warum sehen dann fast alle neueren Wohnsiedlungen und Wohnhäuser in Bern gleichermassen langweilig aus? Es gäbe ja konzeptuell interessante, verspielte oder meinetwegen auch radikale architektonische Entwürfe für jeden Geschmack. Die Siedlung Halen oder die Siedlung Brunnadern zeigen, dass Lösungen möglich sind, die auch nach Jahrzehnten noch inspirieren. Warum werden sie nicht häufiger gesucht? Es kann doch nicht nur eine Frage des Geldes sein. 

Im Schönen sticht Hässliches heraus

Und hiermit komme ich zum Kern meines Problems. Es ist wohl keinesfalls so, dass mich beim Anblick moderner Stadtarchitektur ein beginnender Konservatismus erfasst, und ich bin auch nicht von falsch verstandener Nostalgie ergriffen, wenn ich mich beim Anblick von sepiafarbenen Fotos zurück in die Vergangenheit imaginiere. 

Mich verstört vielmehr die Lieblosigkeit und Stumpfheit mancher der neueren Gebäude. Vielleicht auch die Unbekümmertheit, mit der man sich damit unter das Diktat von Funktionalität, Nutzenmaximierung und ökonomischer Effizienz gestellt hat. Solche Gebäude führen keinen Dialog mit der Vergangenheit, sie führen keinen Dialog mit ihrer architektonischen Umgebung, und sie führen auch keinen Dialog mit uns. Ich kenne Städte, die nur aus dieser Art von Architektur bestehen. Es fällt schwer, an solchen Orten zu atmen. Es fällt schwer, zu kommunizieren. 

In Bern sind diese stummen urbanen Strukturen eine Ausnahmeerscheinung. Sie wirken besonders krass, weil ansonsten alles so schön, so gut erhalten und gut gepflegt ist. Ich sollte mich also vielleicht gar nicht so sehr echauffieren. 

Das nächste Mal, wenn ich mit dem Velo an der Kasernenwiese vorbeifahre und plötzlich von den neuen Verwaltungsgebäuden am Guisanplatz in Angst und Schrecken versetzt werde, sollte ich eher denken: Wie gut, dass es wenigstens hier so hässlich ist, so dass wir nie Gefahr laufen zu vergessen, wie wenig selbstverständlich lebendige Stadtarchitektur ist.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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