Das Tech-Unternehmen an der Berner Marktgasse
Derzeit tobt ein Kampf darum, wie wir das Internet künftig nutzen werden. Mitten drin: Ein Startup aus Bern, das Augmented-Reality-Brillen produziert.
Ein Montagabend an der Berner Marktgasse. Im Erdgeschoss machen Pendler*innen letzte Besorgungen beim Detailhändler.
Zwei Stockwerke höher scrollt Timon Binder am Computer durch eine Bestellliste. «Einige wichtige Bauteile hängen gerade in Basel am Zoll fest», ärgert er sich. Nichts Weltbewegendes, aber es kann an den Nerven zehren, wenn man nur drei Stunden geschlafen hat – den Jetlag in den Knochen.
Der 29-jährige Binder ist am Morgen aus Las Vegas in die Schweiz zurückgekehrt. Dort hat er an der grössten Technik-Messe der Welt das Gerät vorgestellt, an dem er in den letzten drei Jahren unermüdlich gearbeitet hat. Eine Brille, von der er sich verspricht, dass sie die Zusammenarbeit von Menschen einmal grundlegend verändern wird. Das Gerät ähnelt dem legendären «Visor» aus der Startrek-Serie – nur dass der Halbring in mattem Schwarz gehalten ist und nicht die Augen verdeckt.
Informationen werden in ein kleines Plastikprisma projiziert, welches sich wie ein Brillenglas direkt vorm rechten Auge befindet. Projektion und Umgebungswahrnehmung überlappen sich. Das ist ein wichtiges Merkmal von «Augmented Reality», was auf Deutsch so viel bedeutet wie eine erweiterte, künstlich angereicherte Realität.
Neue Leute an Bord
Beetschen, 27 Jahre alt, in Kirchlindach in einem bäuerlichen Milieu aufgewachsen, ist der Mitgründer und Geschäftsführer von Almer, das mittlerweile über 30 Menschen beschäftigt. Software-Ingenieure, Vertriebler und Elektrotechniker*innen haben bei ihnen angeheuert. «Jeden Monat kommen ein bis zwei neue Leute hinzu», sagt Beetschen. Er führt durch einen Raum, in den gerade erst ein neues Team eingezogen ist. Die Dachstock-Räumlichkeiten des Startups bewegen sich irgendwo zwischen Studenten-Bude, Tüftler-Zimmer und Migros-Klubschule.
Der ETH-Absolvent Beetschen spricht schnell und denkt noch schneller – und erfüllt auch weitere Klischees eines Tech-Unternehmers: Nerdiger Streifenpullover, Birkenstock-Sandalen unterm Schreibtisch, Thunfisch-Konserven in Griffweite.
Auch wenn Beetschen erst 27 Jahre alt ist und vor nicht allzu langer Zeit Maschinenbau in Lausanne studiert hat, wirkt er sehr abgebrüht und äusserst zielstrebig. Auf Floskeln und Phrasen reagiert er allergisch. Er will vorwärtskommen, keine Zeit verschwenden. Das Ziel: Eine AR-Brille zu bauen, die auf das Wesentliche reduziert ist, und nicht so schwer und behäbig daherkommt wie jene der Mitbewerber.
Kein Klotz wie Microsoft
Beetschen weiss, wovon er spricht, hat er doch vor der eigenen Unternehmensgründung an der Entwicklung der Hololens von Microsoft in der Schweiz mitgearbeitet. Viel zu klobig sei die – «ich würde sie niemals tragen wollen», so der Jung-CEO. Die US-Armee sah das offenbar anders und bestellte gleich 120‘000 Exemplare einer militärischen Version der Brille. Kostenpunkt: 22 Milliarden US-Dollar.
Beetschen und sein Co-Gründer wollen es mit dem Tech-Giganten aufnehmen und konnten damit Investoren überzeugen. Im Sommer 2023 haben sie 4,8 Millionen Franken erhalten, um ihre Brille weiterzuentwickeln. Letzte Woche stellten sie die neueste Generation in Bern offiziell vor. An dieser Entwicklung, Arc 2 genannt, hängt viel für die beiden Berner. Wenn sie einschlägt, könnte ein Schweizer Tech-Startup mit internationaler Strahlkraft entstehen. Wenn es ein Flop wird, gehen die Lichter an der Berner Marktgasse wohl früher oder später aus.
Almer vermietet die AR-Brillen für 149 Franken pro Monat an Kund*innen – inklusive Software und technischer Unterstützung. Der Akku reicht für einen Arbeitstag oder drei bis vier Stunden bei einem Videoanruf.
Abnehmer der ersten Modelle sind Industrieunternehmen. Zum Beispiel Geobrugg, ein Hersteller von Lawinenverbauungen und Sicherheitszäunen für den Formel-1-Zirkus. Das Einsatzgebiet sind Schulungen von Mitarbeiter*innen in Übersee.
Übermächtige Konkurrenz – mit Schwächen
Die Crew von Almer, die auch über eine Filiale in Bukarest verfügt, will den Grossen ein Schnippchen schlagen. Von denen sind einige – wie zum Beispiel Google – krachend mit Augmented Reality gescheitert. Der Suchmaschinenhersteller ist bereits 2012 mit seiner «Google Glass» an den Start gegangen, konnte sie aber nie in ausreichender Stückzahl verkaufen.
Als nächstes aus der Reihe der mächtigen Tech-Unternehmen Amerikas versucht sich nun Apple an einer Datenbrille. Die «Vision Pro» soll Elemente aus der Welt von Augmented Reality und Virtual Reality kombinieren, da sie das Sichtfeld komplett abdeckt und stattdessen ein Kamera generiertes Bild der Träger*in im Inneren der Brille anzeigt. Die Almer-Gründer haben die neue Apple-Brille schon ausprobiert. Auch wenn sie bei Gewicht und Abmessungen Fragezeichen haben, begrüssen sie den Einstieg der Kalifornier. Denn grundsätzlich habe die Datenbrillen-Industrie mit einer «Huhn-Ei-Problematik» zu kämpfen.
Mensch-Maschine
Da es bisher noch keine wirklich überzeugende Hardware gab, schreckten Software-Hersteller davor zurück, Dienstleistungen für AR-Brillen anzubieten. Das fehlende Angebot wiederum machte AR-Brillen unattraktiv. Nun also Apple. Die rund 3500 Dollar teure Brille sei vollgestopft mit der neuesten Technik – von der man heute noch gar nicht wisse, wie sie eingesetzt werden könne, finden die Gründer. Die Almer-Technik mutet da unprätentiöser an. Knöpfe sind gross und nicht stylish verspielt, weil Industriearbeiter*innen ansonsten mit ihnen im hektischen Alltag nicht zurechtkommen. Das haben schon Pilotversuche gezeigt. Auch die Benutzeroberfläche der Berner AR-Brille ist simpel gehalten, so dass sich verschiedene Anwender*innen schnell zurechtfinden können.
Egal welcher Hersteller und welches Modell sich genau durchsetzt – für Almer-CEO Beetschen geht es um noch Grundsätzlicheres: «Wir Menschen können uns biologisch nicht so schnell an die neuen Gegebenheiten einer digitalen Welt anpassen.» Künstliche Intelligenz und Robotik würden bereits heute sehr viele Aufgaben übernehmen. Da dürfe der Mensch nicht ins Hintertreffen geraten, und müsse sich aller Helferlein bedienen, die ihn schneller und effizienter machten. Ansonsten drohe ein anderes Szenario: Nämlich dass die Technik den Menschen unterwirft – ihn zu einer Art Nutztier degradiert. Beetschen erinnert sich an seine Jugend in Kirchlindach und den Bauernhof zurück und sagt: «Ich will kein Zuchtschwein sein.»