Ist dort Krieg?
Die Eritrea-Politik der Schweiz wird kritisiert. Von der UNO, vom Parlament, in den Medien. Und in Bern, aufs Schärfste, von Annelies Müller. Einblicke in die Geduldsarbeit einer Aktivistin.
Auf Annelies Müllers Laptop häufen sich die Dokumente. Unzählige Megabyte, die Texte akribisch mit Quellenangaben belegt: Beschwerden ans Bundesverwaltungsgericht, Analysen über die politische Lage am Horn von Afrika, Wiedererwägungsgesuche, sogar ein Schreiben, das einen Bundesverwaltungsrichter in den Ausstand schicken sollte.
«Ich hab mich da reingenerdet», sagt Annelies Müller in ihrem Büro in einem alten Bauernhaus in Moosseedorf. «Wenn du dich da einmal reindenkst, lässt es dich nicht so einfach wieder los.»
Shewit Tesfay macht unterdessen vor allem eines: Warten.
«Es vergeht so viel Zeit, in der ich nichts tun kann. Das ist schade», sagt der 24-Jährige. Seine Stimme ist so leise, dass sie im Verkehrsrauschen von Köniz fast untergeht. Er trägt trotz anhaltender Hitze einen schwarzen Wollpullover.
Vor einigen Wochen hätte er eine Lehre als Koch in einem Liebefelder Restaurant beginnen können. Daraus wurde aber nichts, denn Shewit Tesfay hat keine Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz. Rechtlich wäre er verpflichtet, in seinen Herkunftsstaat Eritrea zurückzukehren. Sein Asylgesuch wurde abgelehnt.
Annelies Müller hat für ihn ein Wiedererwägungsgesuch gestellt. Damit soll von den Migrationsbehörden noch einmal beurteilt werden, ob seine Rückkehr nach Eritrea wirklich zulässig und zumutbar ist. Jetzt wartet Shewit Tesfay auf den Entscheid – seit über einem Jahr.
Ein Jahr, in dem die Praxis der Schweizer Behörden gegenüber Asylsuchenden aus Eritrea zunehmend in Frage gestellt wird: Durch einen unerbittlichen Krieg in der an Eritrea grenzenden äthiopischen Provinz Tigray etwa. Oder, weil die Schweiz gleich viermal von einem UNO-Kontrollorgan gerügt wurde. Oder durch den publik gemachten Fall eines Rückkehrers.
Aber von vorn: Was hat es mit dieser Praxis auf sich? Seit wann besteht sie? Und wer kritisiert sie?
Weder Krieg noch allgemeine Gewalt
Die Schweiz hat ihre Eritrea-Politik seit 2016 verschärft. Davor war Eritrea während mehrerer Jahre das Herkunftsland, aus dem die meisten Asylgesuche in der Schweiz gestellt wurden.
Ein drohender Einzug in den eritreischen Nationaldienst – ein zeitlich unbegrenzter militärischer oder ziviler Einsatz – führt seit einer Praxisänderung der Migrationsbehörden nicht mehr per se zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Schweiz.
Ausserdem gilt der Vollzug von Wegweisungen nach Eritrea grundsätzlich als zulässig und zumutbar.
Im Schweizer Asylrecht wird angenommen, dass eine Rückkehr an einen Ort generell unzumutbar ist, wenn dort Krieg, Bürgerkrieg oder eine Situation allgemeiner Gewalt herrscht. Personen, die zwar nicht rechtlich als Flüchtlinge anerkannt wurden, aber aus einem solchen Ort kommen, erhalten dann in der Regel eine vorläufige Aufnahme – genannt Status F.
Die schweizerischen Migrationsbehörden gehen davon aus, dass in Eritrea kein Krieg, Bürgerkrieg oder allgemeine Gewalt herrscht.
Das bedeutet, dass Personen aus Eritrea, die nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden, nach der aktuellen Praxis auch nicht vorläufig aufgenommen werden, wenn keine individuellen Gründe dafür sprechen. Die Personen werden zur Rückkehr nach Eritrea verpflichtet.
Die eritreischen Behörden akzeptieren jedoch keine Zwangsrückführungen ihrer Bürger*innen, was nötig wäre, damit die Schweiz Ausschaffungen nach Eritrea durchführen könnte. Die Schweiz pocht deshalb darauf, dass betroffene Personen freiwillig zurückkehren.
Das Resultat: Viele Eritreer*innen, deren Asylgesuch abgewiesen wurde, die rechtlich aus der Schweiz weggewiesen wurden – und die trotzdem hierbleiben. Sie landen in den Nothilfestrukturen ohne Recht auf Erwerbstätigkeit, Integration oder irgendeine Perspektive. Und kehren doch nicht zurück, obwohl die Behörden ihnen das Leben in der Schweiz so unangenehm wie rechtlich möglich machen.
Denn: Auch die Lage in Eritrea ist alles andere als angenehm.
Vielleicht doch Krieg?
Von einer «anhaltenden menschenrechtlichen Krise» spricht ein im Mai veröffentlichter Bericht des UNO-Sonderberichterstatters zur Lage in Eritrea.
Männer, Frauen und auch Kinder würden zwangsweise und für unbegrenzte Dauer in den Nationaldienst eingezogen, wo sie Zwangsarbeit, unmenschlicher Behandlung, Bestrafungen und sexueller Gewalt ausgesetzt seien. Deserteur*innen drohten willkürliche Inhaftierung, Folter oder aussergerichtliche Tötungen.
Hinzu kommt seit November 2020 der Konflikt in der äthiopischen Provinz Tigray. Dieser – von hiesigen Medien wenig beachtete – Krieg zwischen der äthiopischen Regierung und einer ansässigen Rebellengruppe fordert seither zahlreiche zivile Opfer in der Region, in der viele eritreische Geflüchtete in Camps leben. Und: Auch eritreische Truppen beteiligen sich an den Kämpfen in Tigray.
Das verschlimmere die Situation von eritreischen Bürger*innen – auch minderjährigen – zusätzlich, die gezwungen würden, sich an einem «grausamen Krieg» zu beteiligen, so der UN-Bericht. Angehörige wüssten oft nichts über den Aufenthaltsort und Zustand ihrer Familienmitglieder, die in die Provinz Tigray entsandt wurden.
Häufige Einzelfälle
Gleich viermal innerhalb eines Jahres hat der UNO-Antifolterausschuss die Schweiz für verfügte Wegweisungen von Personen nach Eritrea gerügt. Die Begründung: Bei einer Rückkehr nach Eritrea drohe ihnen Folter oder unmenschliche Behandlung. Diese Häufung von Fällen stelle die aktuelle Schweizer Praxis generell in Frage, sagt die Juristin Sarah Frehner gegenüber dem Tagesanzeiger.
Und im Mai wurde die Geschichte eines eritreischen Geflüchteten publik, der nach Eritrea zurückgekehrt war, nachdem sein Asylgesuch in der Schweiz abgelehnt worden war. Das Recherchekollektiv «Reflekt» hatte den Kontakt mit ihm aufrechterhalten, und konnte so dokumentieren: Er wurde nach seiner Rückkehr inhaftiert und gefoltert. Der Mann floh noch einmal – zurück in die Schweiz, die seine Rückkehr nach Eritrea als zumutbar eingestuft hatte. Und stellte wieder ein Asylgesuch. Dieses wurde angenommen.
«Wann ändert der Bundesrat seine Praxis?», fragte daraufhin die Grüne Nationalrätin Aline Trede in einer Interpellation.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) beobachte die Lage und die Entwicklungen in Eritrea laufend, so die Antwort des Bundesrates. Jedoch hätten sich auch aus diesem spezifischen Einzelfall keine Gründe für eine allgemeine Anpassung der Praxis ergeben. Gemäss aktueller Einschätzung des SEM und des Bundesverwaltungsgerichts herrsche in Eritrea «weder Krieg noch eine Situation allgemeiner Gewalt».
Unterschätzte Aktivistin
Annelies Müller ist keine Politikerin. Auch keine UNO-Sonderberichterstatterin. Aber Bescheid weiss die 43-Jährige über all das – und wie.
Dabei sei sie, so sagt sie, gewohnt, von ihren Mitmenschen unterschätzt zu werden. Sie ist von Geburt an blind, lebt von IV und Ergänzungsleistungen – und unterstützt seit Jahren Geflüchtete vom Horn von Afrika in der Region Bern.
Bei Alltagsfragen, bei privaten Unterbringungen in Gastfamilien und vor allem in rechtlichen Belangen. Bis vors Bundesverwaltungsgericht.
Das juristische Wissen hat sie sich selbst angeeignet, mit vielen Stunden Lektüre, im regelmässigen Austausch mit Anwält*innen, bei juristischen Fortbildungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. «Mir war von Anfang an bewusst, dass ich bei Beschwerden keinen Nonsens einreichen darf», sagt sie. Schliesslich gehe es um menschliche Schicksale. Bei komplizierten Fällen spreche sie sich jeweils mit patentierten Anwält*innen ab.
Im sonstigen Alltag, erzählt sie, werde sie manchmal selbst bei trivialen Briefen gefragt, «wer das für sie geschrieben habe». Kürzlich etwa, als sie in der Badi Moosseedorf von einem Bekannten auf einen Brief angesprochen wurde, den sie einem Restaurant zukommen liess, nachdem dieses ihrem Blindenhund keinen Einlass gewähren wollte.
Zu wissen, wie es ist, nicht richtig dazuzugehören zur Mehrheitsgesellschaft, «nicht für voll genommen zu werden», das habe sie auf gewisse Weise gemeinsam mit den Personen, die sie unterstützt, sagt Annelies Müller.
Und schliesslich sei sie da einfach reingerutscht in dieses Thema, als im Jahr 2015 nahe ihrem Wohnort eine Asylunterkunft eröffnet worden war. So lernte sie die ersten Menschen kennen, die in die Pattsituation gelangten: Rechtskräftig abgewiesen und trotzdem fest überzeugt, nicht zurückkehren zu können.
Sie begann sich für die Situation am Horn von Afrika zu interessieren. In einem äthiopischen Restaurant, wo sich viele Menschen aus Eritrea regelmässig aufhielten, verbrachte sie unzählige Stunden, fragend und zuhörend. «Ich wollte verstehen, was das für Leute sind», sagt Annelies Müller. Langsam arbeitete sie sich immer tiefer in das Thema ein – und lernte immer mehr Menschen kennen, die ihre Hilfe in Anspruch nahmen.
«Wenn ich etwas ungerecht finde, dann bleibe ich dran», sagt sie, und lenkt das Gespräch wieder auf ihre Arbeit.
Kein Krieg, aber besondere Umstände
Zehn Wiedererwägungsgesuche für abgewiesene Asylsuchende aus Eritrea hat Annelies Müller zwischen Juni und Oktober 2021 eingereicht.
Die Wegweisung nach Eritrea sei unzulässig und unzumutbar, argumentiert sie, ganz besonders jetzt durch den Krieg in Tigray. Den Personen drohe Folter, wenn sie nach Eritrea zurückkehren würden. Oder der zwangsweise Einsatz in einem Krieg, in dem allen Parteien – also auch der eritreischen Armee – schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen würden. Die Personen seien deshalb in der Schweiz vorläufig aufzunehmen.
Immer wieder brachte Annelies Müller dieselben Argumente an – nebst individuellen Aspekten der jeweiligen Einzelfälle. Viele Seiten lang sind die Gesuche, die sie beim SEM und beim Bundesverwaltungsgericht einreichte.
In der Zwischenzeit wuchs auch die öffentliche Kritik an der Praxis der Schweiz: Mit den Urteilen des Antifolterausschusses, in den Medien, mit dem Bericht des UNO-Sonderberichterstatters und parlamentarischen Vorstössen.
Trotzdem kam immer wieder dieselbe behördliche Antwort: In Eritrea herrsche keine Situation von Krieg oder allgemeiner Gewalt, trotz der Involvierung von Eritrea in den Tigray-Konflikt. Und eine drohende Einberufung in den Militärdienst stehe einem Wegweisungsvollzug nicht im Weg.
Sechs der zehn Gesuche wurden abgelehnt. Den Gesuchstellenden wurden jeweils Prozesskosten von 600 bis zu 1’500 Franken auferlegt. Begründung: Die Eingaben seien von vornherein aussichtslos gewesen. Das Geld für die Gebühren kratzte Annelies Müller «irgendwie zusammen».
Ein Gesuch wurde angenommen. Es ging um eine alleinerziehende Mutter mit zwei Teenager-Töchtern. «In Würdigung der besonderen Umstände» sei vom Vollzug der Wegweisung abzusehen, weil eine solche zum heutigen Zeitpunkt nicht zumutbar sei, schrieb das SEM in seinem Entscheid Ende Mai.
Welche Umstände und warum, bleibt offen – ein Entscheid muss per Gesetz nur begründet werden, wenn er negativ ausfällt. Warum zum heutigen Zeitpunkt eine Rückkehr der Familie nach Eritrea als unzumutbar eingeschätzt wird, bei Ablehnung des Asylgesuchs im Jahr 2019 aber für zumutbar gehalten wurde, ist so schwer nachzuvollziehen.
Hat es mit dem Krieg in Tigray zu tun?
Das SEM gibt zu Einzelfällen keine Auskunft, wie es auf Anfrage schreibt. Generell gelte aber, dass Wiedererwägungsgesuche einer sorgfältigen Einzelfallprüfung unterzogen werden. Eine Situation von Krieg oder allgemeiner Gewalt liege aber gemäss aktueller Einschätzung nach wie vor nicht vor in Eritrea, trotz des Tigray-Konfliktes.
Oder hat es damit zu tun, dass die Familie prominente Kontakte gepflegt hatte?
Nationalrätin Aline Trede war mit der Mutter freundschaftlich verbunden und hatte ihr ein Praktikum in ihrer Kommunikationsfirma ermöglicht, als sie noch im Asylverfahren war. Ausserdem begleiteten Lehrpersonen der Töchter das Verfahren eng.
Nein, schreibt das SEM, die Integration spiele bei der Überprüfung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs keine Rolle.
Worin auch immer die genauen Gründe liegen, der Fall zeigt: Es ist offenbar nicht immer von vornherein aussichtslos.
Warten
Drei der zehn Wiedererwägungsgesuche, die Annelies Müller gestellt hat, sind Mitte August noch hängig. Eines davon ist das von Shewit Tesfay.
Er ist seit 2015 in der Schweiz. An das Warten musste er sich in dieser Zeit gewöhnen.
Schon auf seinen Asylentscheid wartete Shewit Tesfay vier Jahre. Im Sommer 2019 hätte er die Zusage für eine Schreinerlehre gehabt, jedoch nur mit abgeschlossenem Asylverfahren. Das dauerte aber bis im Winter. Also wartete er, machte das zehnte Schuljahr, und wurde dann abgelehnt.
2020 hatte er wieder eine Zusage für eine Lehre, diesmal als Koch im Liebefeld.
Der Betrieb setzte sich dafür ein, ihn einstellen zu dürfen. Doch die Behörden verweigerten den Antritt, denn eine Lehre gilt als Erwerbstätigkeit. Und ist damit, im Gegensatz zur Schulbildung, ohne Aufenthaltsberechtigung verboten.
Shewit Tesfay blieb trotzdem hier, lernte noch besser deutsch, trainierte in einem Berner Leichtathletik-Verein, spielte Unihockey. Viel mehr durfte er nicht tun – vor allem nicht arbeiten. «Es gäbe so viele Möglichkeiten hier», sagt er. «Es ist schwierig zu beschreiben, wie es ist, wenn man sie alle nicht wahrnehmen darf. Und es ist sehr schwierig, dabei gesund zu bleiben.»
Als Annelies Müller im Juni 2021 sein Wiedererwägungsgesuch einreichte, versicherte ihm der Restaurantbesitzer erneut, dass er spätestens im Sommer 2022 die Lehre antreten könne, wenn das Gesuch positiv ausfallen sollte.
Es ist Mitte August, als er an jenem heissen Tag in seinem Wollpullover im Liebefeld-Park steht und über seine Situation spricht. Die Lehre hätte vor wenigen Wochen gestartet. Da war das Gesuch aber noch immer hängig. Shewit Tesfay wartet noch einmal ein Jahr. «Ich verschwende meine Zeit», sagt er.
Das SEM schreibt auf Nachfrage von Annelies Müller: «Aufgrund der zahlreichen Pendenzen bitten wir Sie noch um etwas Geduld.»
Und dann, es ist fast schon September und dieser Text schon beinahe veröffentlicht, kommt – nach 15 Monaten – die Antwort des SEM auf Shewit Tesfays Gesuch.
Entscheid: Das Wiedererwägungsgesuch wird abgewiesen. Beilage: Rechnung mit Einzahlungsschein, 600 Franken.
Nach Eritrea hat Shewit Tesfay kaum mehr Kontakte. Seine Eltern sind schon lange tot, der ältere Bruder dient im Nationaldienst, Shewit Tesfay weiss nicht, wo er ist und ob er noch lebt. Er weiss auch nicht, wo seine jüngeren Geschwister sind, die er als Teenager zurückgelassen hat. Eine Rückkehr kommt für ihn nicht in Frage.
«Unmöglich», sagt er sehr leise. «Das werde ich nicht tun. Es ist unmöglich. Aber vielleicht kann ich ja irgendwann die Lehre anfangen.»
Annelies Müller wartet derweil nicht. Und spricht auch nicht leise. «Mich regt so auf, was den Menschen an Lebenszeit genommen wird», sagt sie. Egal, wie die jetzt noch hängigen Gesuche entschieden werden – aufhören wird Annelies Müller ganz bestimmt nicht. Für Shewit Tesfay wird sie Beschwerde einlegen gegen den Entscheid des SEM.
«Ich kenne mittlerweile viel zu viele persönliche Schicksale, als dass ich übers Aufhören nachdenken könnte.» Und die Beschwerden, die sie schreibe, würden immer besser, sagt sie. Ein wenig Stolz schwingt in der Stimme mit. Auf ihrem Laptop sammeln sich täglich neue Dokumente an.