Ein neuer Frühling – ein neues Selbst?

In ein paar Wochen werde er ein anderer sein, ist Christian Budnik überzeugt. In dieser Kolumne schreibt er, was Veränderung mit uns macht und warum wir ihr auch mal entspannt entgegenblicken sollten.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

«Immer wieder kommt ein neuer Frühling, immer wieder kommt ein neuer März», heisst es in einem Kinderlied, das mir mit seiner penetranten Rolf-Zuckowski-Melodie in der letzten Zeit nicht aus dem Kopf gehen will. Aber es stimmt ja. Es ist nicht einfach nur ein Frühling, der sich in diesen Tagen ankündigt, sondern ein neuer Frühling und zudem ein Frühling, der Neues verspricht. 

Nicht mehr lange, dann wird alles wieder grün sein. Noch kann ich es nicht spüren, aber ich weiss jetzt schon, dass auch ich in zwei, drei Wochen ein anderer sein werde. Die Winterträgheit wird verschwinden, ich werde freier durchatmen können, werde mich leichter fühlen ohne Winterjacke und Wollpullover.

Vielleicht ist das weniger metaphorisch, als man denken würde. Vielleicht werden wir tatsächlich ein wenig andere Personen, wann immer ein neuer Jahrzeitenzyklus beginnt. Die Yale-Philosophin Laurie Paul hat vor einigen Jahren den Begriff der transformativen Erfahrung geprägt, der seitdem in der philosophischen Diskussion eine prominente Rolle spielt. Ist Frühlingserleben möglicherweise solch eine transformative Erfahrung?

Es gibt ein Davor und ein Danach

Als transformativ werden Erfahrungen und Erlebnisse bezeichnet, die Personen in entscheidender Hinsicht verändern – eben transformieren. Vor solchen Erlebnissen sind wir andere Personen als danach. 

Was soll das aber heissen – eine andere Person werden? Personen verändern sich immer irgendwie, aber heisst das, dass sie im wörtlichen Sinne andere Personen werden? Ist die Bezugnahme auf eine Transformation nicht etwas gewagt?

Mit einer Transformation ist an dieser Stelle nicht gemeint, dass eine Person ihre komplette Persönlichkeit verliert, wie es etwa der Fall ist, wenn man an vollständiger Amnesie oder an bestimmten Formen von Demenz leidet. Stattdessen bezeichnet der Ausdruck das Phänomen, bei dem besonders relevante Aspekte der Identität einer Person einer drastischen Veränderung unterworfen sind.

Elternschaft als Transformation

Eines der in diesem Zusammenhang am häufigsten diskutierten Beispiele, das Laurie Paul übrigens selbst ins Spiel gebracht hat, betrifft die Veränderungen, die mit Elternschaft einhergehen. Fast jede Person, die Mutter oder Vater geworden ist und die entsprechende soziale Rolle eingenommen hat, wird es bestätigen können: Die Tatsache, dass man plötzlich nicht mehr alleine ist und sich um ein verletzliches Wesen kümmern muss, macht etwas mit einem. Es verändern sich nicht nur die Lebensumstände, man verändert sich auch selbst.

Daraufhin könnte man einwenden, dass wir uns doch immer verändern, egal was passiert: Eben habe ich gesehen, dass es draussen zu regnen begonnen hat und denke jetzt, dass es draussen regnet. Bin ich plötzlich ein anderer, nur weil ich diese neue Überzeugung über das Wetter erlangt habe? Das wäre doch absurd.

Es sind aber eben nicht besonders relevante Aspekte meiner Identität, die einer Veränderung unterworfen werden, wenn ich etwas über das Wetter zu glauben beginne. Genauso wenig handelt es sich um identitätsrelevante Veränderungen, wenn ich Lust auf ein Erdbeereis bekomme, Small Talk mit einem Nachbarn mache oder Kopfschmerzen habe. All diese Erfahrungen verändern zwar in einem trivialen Sinne meine Situation, aber es handelt sich dabei nicht um transformative Veränderungen. 

Wer Mutter oder Vater wird, wird dagegen im folgenden Sinn eine andere Person: Die eigenen Präferenzen, die Dinge, die man wertschätzt und die Art, wie man sie wertschätzt, sind von einem Augenblick auf den anderen verändert. Eine transformative Erfahrung verändert uns, weil sie in einem tieferen Sinne unsere Werte- und Wunschperspektive verändert.

Reaktionen sind nicht voraussehbar

Bevor man ein Kind bekommt, weiss man vielleicht, wie die Situation aller Wahrscheinlichkeit nach aussehen wird, wenn das Kind erstmal da ist. Man kann sich vielleicht vorstellen, wie es sein wird, wenn man nicht genügend Schlaf bekommt und die eigenen Hobbys zurückstellen muss. Vielleicht weiss man sogar abstrakt, dass man damit gut zurechtkommen wird. Was man oft aber nicht vorwegnehmen kann, ist die Selbstverständlichkeit, mit der man das alles in Kauf nehmen wird.

Damit will ich natürlich nicht behaupten, dass alles einfach ist, wenn man erst einmal Mutter oder Vater geworden ist. Der Punkt ist lediglich, dass man aus der Vorher-Perspektive nicht gut abschätzen kann, wie man auf das Nachher reagieren wird. «Wie wird es wohl sein, wenn ich jede Stunde die Windel wechseln muss», mag man sich vor der Geburt fragen; nach zwei Tagen mit Kind denkt man in der Regel gar nicht mehr an solche Sachen, sondern wechselt die Windeln, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Umgekehrt kann man sich vorzustellen versuchen, wie man das eigene Kind lieben wird oder wie glücklich es einen machen wird, aber auch solchen Vorstellungen sind Grenzen gesetzt. So richtig vorstellen kann man sich solche Sachen nicht. Und zwar selbst dann, wenn man glückliche Freunde hat, die Kinder haben, oder – schockierenderweise – sogar dann, wenn man selbst schon ein Kind hat. Es ist eben jedes Mal «ein neuer Frühling», wenn es um solche Dinge geht, und man wird jedes Mal ein wenig eine andere Person, auch wenn man schon einmal auf ähnliche Weise verändert wurde.

Was sich durch Ratio allein nicht klären lässt

Erfahrungen, die auf diese Weise transformativ sind, interessieren Philosoph*innen, weil sie eine Herausforderung für das klassische Verständnis von rationalem Handeln darstellen. Eine rationale Person überlegt sich, bevor sie handelt, welche Gründe dafür sprechen, sich so und nicht anders zu verhalten. Das gilt umso mehr, wenn von der Entscheidung viel abhängt. Um auf rationale Weise entscheiden zu können, ob ich eine Entscheidung treffen sollte, die in Zukunft massive Konsequenzen für mich haben wird, muss ich mir darüber klar werden, wie diese Konsequenzen beschaffen sein werden.

Wenn an dem Phänomen der transformativen Erfahrung etwas dran ist, dann ist dieser Anspruch vermessen: Personen können sich nicht auf rationale Weise etwa für ein Kind entscheiden, weil sie sich nicht richtig in die Person hineinversetzen können, die sie sein werden, wenn das Kind einmal da ist. 

Hier wird man einwenden können, dass man sich vielleicht gegen ein Kind entscheiden kann, zum Beispiel weil man die ökonomische Belastung, die damit einhergeht, scheut oder die berufliche Karriere weiterverfolgen möchte. Der entscheidende Punkt ist aber, dass man im Vorfeld auch das nicht wissen kann: Man weiss ja nicht vorher, ob man als Elternteil nicht vielleicht zu einer Person wird, die besser mit ökonomischer Unsicherheit umgehen kann oder die eigene Karriere weniger wichtig findet.

Immer wieder im Dunkeln tappen

So gesehen, tappen wir immer im Dunkeln, wenn wir vor einer transformativen Entscheidung stehen. Auch wenn das Beispiel der Elternschaft vielleicht ein besonders deutliches ist, kennen wir auch in anderen Kontexten Entscheidungen, die transformativer Natur sind, etwa die Entscheidung, in ein anderes Land zu ziehen, eine langjährige Freundschaft zu beenden oder einen neuen Beruf zu ergreifen. Manchmal können wir besser abschätzen, welche Folgen solche Entscheidungen haben werden, oft verändern sie uns aber auf eine Weise, die ein rationales Abwägen unmöglich zu machen scheint.

Zudem gibt es eine ganze Reihe weiterer transformativer Erlebnisse, die sich von den Erlebnissen, über die ich bislang gesprochen habe, darin unterscheiden, dass man sich nicht freiwillig entscheiden kann, sie zu haben. Personen, die einen schlimmen Autounfall überlebt haben, berichten etwa manchmal, dass sie nach dem Unfall eine andere Person geworden sind und ihr Leben von Grund auf ändern möchten.

Können wir überhaupt entscheiden?

Nun ist der Frühling sicher nicht mit einem Autounfall zu vergleichen, aber mir ist, als hätte gerade diese Jahreszeit ebenso einen transformierenden Charakter: Ich weiss, dass die Dinge, die mir jetzt sehr schwer vorkommen, in nur zwei, drei Wochen eine Leichtigkeit haben werden, aber so richtig glauben kann ich es eben noch nicht. Wenn man bedenkt, dass unser Leben auf diese Weise von ganz vielen – gewählten wie ungewählten – transformativen Erlebnissen durchsetzt ist, könnte man beinahe ratlos werden: Können wir denn wirklich fast gar nichts entscheiden?

Ganz so schlimm ist es nicht. Es stimmt ja nicht, dass wir gar nichts dazu sagen können, wie uns bestimmte Erfahrungen beeinflussen werden. Ein wenig kann man sich auch als kinderlose Person vorstellen, wie es wohl ist, ein Kind zu haben. Und man liegt dann sehr oft nicht gerade meilenweit daneben. Deswegen ist es überaus hilfreich, wenn wir mit vielen Leuten zu tun haben oder Romane lesen: Wir können so wenigstens zum Teil etwas darüber lernen, wie uns bestimmte Erlebnisse verändern könnten.

Einfach mal etwas entspannen

Das Phänomen der transformativen Erfahrung lehrt uns aber, dass wir uns als Akteur*innen etwas weniger wichtig nehmen sollten. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alles dem Diktat der Mittel-Zweck-Optimierung unterworfen ist. Gerade so, als hätten wir alles selbst in der Hand und könnten durch geschicktes Entscheiden ein optimal glückliches und erfülltes Leben führen.

Unser Wirtschaftssystem, die Berufswelt, die Welt des Konsums – all das suggeriert, dass wir Schmied*innen unseres eigenen Glücks sind und vollständig verantwortlich für die Ergebnisse unseres Tuns. Angesichts der transformativen Natur vieler Entscheidungen ist das aber nicht nur eine naive Haltung, sondern sie kann individuell sehr belastend sein. Und nicht zuletzt dazu führen, dass wir weniger Solidarität mit Personen an den Tag legen, denen es aus irgendeinem Grund schlechter geht als uns.

Daran erinnert mich der Frühling, der immer wieder ein neuer Frühling ist: Dass wir zwar Dinge entscheiden können, dass wir es aber oft nicht selbst in der Hand haben, wie gut oder schlecht wir mit diesen Entscheidungen leben werden. Für eingefleischte Planer*innen und Optimierer*innen mag das wie eine Drohung klingen. Die befreiende Botschaft an alle anderen lautet aber: Ihr könnt euch gerne etwas entspannen!

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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