«Ich bin keiner, der gerne auf die grosse Bühne tritt»

Seit 18 Jahren führt Ulrico Pfister das Kulturlokal «5ème Etage» in der Matte. Der Bruder von Bundesrat Martin Pfister arbeitet gern im Hintergrund – und bewundert alle, die es schaffen, sich der Öffentlichkeit auszusetzen.

Ulrico Pfister im 5ème Etage fotografiert am Freitag, 14. Maerz 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
«Ein Lächeln der Leute reicht mir»: Ulrico Pfister. (Bild: Manuel Lopez)

Das natürliche Habitat von Ulrico Pfister befindet sich am zentralen Mühlenplatz in der Berner Matte, in der früheren, mit der Kraft der Aare betriebenen Stadtmühle. Das Gebäude ist hoch, weil es einst mächtige Getreidesilos enthielt. Und so schwebt man im Industrielift hinauf in den fünften Stock. 

Ulrico Pfister hat gerade eine Sitzung hinter sich, er spült ein paar Gläser. «Hier hinter der Bar ist mein Lieblingsort», sagt er. «Ich bin keiner, der gerne auf die grosse Bühne tritt. Mich macht zufrieden, wenn ich dafür sorgen kann, dass sich Menschen bei mir wohlfühlen.»

Seit 2007 betreibt Ulrico Pfister ein Seminar- und Kulturlokal, das einen Ausdauerpreis verdienen würde. Der schlichte Name: «5ème Etage». Pfister vermietet die Räume für Familienfeste, Firmenessen, Lesungen, Konzerte oder Retraiten. Gleichzeitig finden regelmässig Kulturanlässe statt. Der langlebigste davon: der Tuesday Jam, getragen vom gleichnamigen Verein, der unter anderem von der Burgergemeinde und mehreren Zünften unterstützt wird. 

Spielfreude

Von September bis Mai gibts jeden Dienstagabend (20 bis 0.30 Uhr) Jazz. Keine Konzerte im klassischen Sinn, sondern spontane Jam-Sessions voller Spielfreude. Dazu Risotto, frisch gekocht von Ulrico Pfister, nach Wunsch mit Salat und Weidesäuli-Wienerli. Und was vielleicht am meisten über Pfisters Idealismus aussagt: Der Eintritt kostet einen Fünfliber, inklusive Risotto. Vor der Corona-Pandemie war es sogar gratis.

Ulrico Pfister im 5ème Etage fotografiert am Freitag, 14. Maerz 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Liebe zum Detail im «5ème Etage». (Bild: Manuel Lopez)

«Als wir anfingen», erinnert sich Pfister, «haben wir jeden Gast gefeiert, der den Weg zu uns fand.» Heute ist Tuesday Jam ein Format, das die Raumkapazität von 120 Personen regelmässig sprengt. Pfister postiert immer jemanden am Eingang, wie er betont: «Ich achte sehr genau darauf, die Vorschriften einzuhalten.» Und übrigens, «5ème Etage» ist auch ein Fussballclub, der in der Alternativliga spielt. Ulrico Pfister selber läuft zwar nicht mehr als Aktiver auf – zu lang ist die Liste eigener Verletzungen – aber das multikulturelle Team sei «eine grossartige Sache».

First brother

Vergangene Woche, als Ulricos älterer Bruder Martin Pfister (61, Mitte) von den Eidgenössischen Räten zum Bundesrat gewählt wurde, habe sich für ihn «nichts verändert und gleichzeitig alles», wie er sagt: «Ich erhielt mehr Gratulationen als zu meinem Geburtstag», stellt Ulrico Pfister trocken fest. First brother, sei er auch mal genannt worden. Er, Ulrico, lese «jeden Artikel, der über meinen Bruder geschrieben wird». Überhaupt sei er politisch sehr interessiert, schon als Heranwachsender habe er Nachrichtenmagazine gelesen, und weil er Legastheniker sei, könne er Texte nicht querlesen, sondern müsse richtig tief eintauchen: «Aber mich politisch in der Öffentlichkeit zu äussern, das kommt für mich nicht in Frage.»

Wer in der Öffentlichkeit stehe, müsse «schon einen Messias-Teil in sich haben», sagt Ulrico Pfister. Natürlich habe er selber auch seinen Messias, aber über den lasse er nicht die halbe Welt urteilen. Ihm gefalle es, sein Lokal so einzurichten, seinen Risotto so zu kochen und zu präsentieren, wie er es könne und gut finde. «Ein Lächeln der Leute, das reicht mir dann.» Gar nicht umgehen könnte er damit, in der Öffentlichkeit kritisiert zu werden: «Ich glaube, daran würde ich kaputt gehen. Ich bewundere Menschen, die es schaffen, damit umzugehen.»

Ulrico Pfister im 5ème Etage fotografiert am Freitag, 14. Maerz 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
«Ich bin der Träumer und der Kreative in der Familie»: Ulrico Pfister. (Bild: Manuel Lopez)

Aufgewachsen ist Ulrico Pfister mit seinen Geschwistern in einem Haushalt, in dem Politik und Politiker präsent waren. Der Vater war meinungsstarker Chefredaktor der katholischen und konservativen Zuger Nachrichten. Ulrico organisierte schon als Erstklässer seine erste Demonstration, wie er erzählt – weil er es ungerecht fand, dass die Mädchen im Winter in der Pause im Schulzimmer bleiben durften, während die Buben raus an die Kälte mussten. «Ich bin der Träumer und der Kreative in der Familie», sagt Ulrico Pfister. 

Als Jugendlicher wollte er entweder Berufsfischer auf dem Zugersee oder Kindergärtner werden. Aber die einzige Fischer-Lehrstelle war schon vergeben, und jungen Männern sprach man damals die Fähigkeit noch ab, Kindergärtner sein zu können.

Italianità

Also suchte Ulrico Pfister Alternativen. Er wanderte nach Italien aus, in die Toscana, wo er 20 Jahre lang in einer Kooperative lebte. «Wir haben von morgens bis abends gearbeitet, und Italien war damals, nach Terroranschlägen und Entführungen, ein militarisiertes Land. Trotzdem fühlte ich mich wie der freieste und glücklichste Mensch der Welt.» Als er um die Jahrtausendwende in die Schweiz zurückkehrte, habe er zuerst lernen und verstehen müssen, dass man hier Job und Freizeit trenne und nicht als ein Ganzes verstehe.

Ulrico Pfister arbeitete zuerst für das Berner Schreinerkollektiv Manus, das seinen Betrieb mittlerweile eingestellt hat. Auf der Suche nach einem Gastrolokal kam Pfister 2007 mit dem Schwulen-Begegnungszentrum anderland in Kontakt, das sich nach dem Auszug der Stadtmühle 1993 im fünften Stock des Silogebäudes eingerichtet hatte. Wegen finanziellen Engpässen zog anderland in die Villa Stucki – und zusammen mit seiner Partnerin Helene Huldi ersann Ulrico Pfister aus Pariser Erinnerungen einen Namen: «5ème Etage».

Trotz diesem frankophonen Flair «würden mir schon nur die Französischkenntnisse fehlen, um Bundesrat zu werden», witzelt Ulrico Pfister. Und wohl auch die Angepasstheit für eine institutionelle Karriere. «Wertschätzung, Moral, Ethik – das sind für mich unverhandelbare Werte», sagt Ulrico Pfister. Wenn er sie verletzt sehe, ziehe er die Konsequenzen. Sein Eindruck sei, dass die Wirtschaft ein Tempo vorlege, das «höher ist, als wir es vertragen».

«Für was machen wir das alles?» Das frage man sich vielleicht zu selten, findet Ulrico Pfister. Für ihn gelte: «Sobald es nur noch ums Geld geht, bin ich weg.»

Ulrico Pfister im 5ème Etage fotografiert am Freitag, 14. Maerz 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Auch dem Zebra ist es wohl im «5ème Etage». (Bild: Manuel Lopez)

Im «5ème Etage» ist es Ulrico Pfister, der die meisten Entscheide fällt. Obwohl es ihm «extrem wichtig» sei, teamfähig zu bleiben. Deshalb ist er seit über 15 Jahren im OK des Strassenmusikfestivals Buskers, wo er die Koordination der Gastro-Stände mitverantwortet. «Die Zusammenarbeit von Alphatieren ist eine grosse Herausforderung», sagt Pfister. Es sei ein sehr gutes Training für ihn, sich ihr jedes Jahr zu stellen.

Wertschätzung

Kein Job mache ausschliesslich Freude, jede Arbeit habe auch unangenehme Seiten. Für sich hat Ulrico Pfister diese Formel aufgestellt: «Wenn dir 30 Prozent deines Jobs gefallen, ist es ein geiler Job.» Der Rest müsse einfach erledigt werden. Was ihm manchmal in die Quere komme, sagt Pfister, sei seine fehlende Fähigkeit, auch mal Nein sagen zu können. 

Und wie geil ist der Job des Bundesrats? Diskutiert er mit seinem Bruder darüber? «Nein», sagt Ulrico Pfister. Ihn interessierten weder Details aus dem Bundesratsleben, noch politische Meinungsunterschiede, noch was andere über die Entscheidungen seines Bruders denken. «Mich interessiert nur eines», sagt Ulrico Pfister: «Ob es meinem Bruder gut geht bei dem, was er macht.»

So, wie er ihn kenne, habe sich Martin Pfister sehr gut überlegt, auf was er sich einlasse. Er sei eine unkomplizierte, geerdete Person, er könnte jederzeit hier in den 5. Stock hinaufkommen und ein Bier trinken:  «Er ist wirklich ein sehr einfühlsamer Mensch. Hätten alle einen solchen Bruder, ginge es den Menschen besser», sagt Ulrico Pfister. 

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Diskussion

Unsere Etikette
Therese Fahrni
23. März 2025 um 23:17

God Save the Pfister Brothers !!

Esther Brunner
23. März 2025 um 19:55

Ein grossartiger Artikel. Ulrico und Martin scheinen vieles gemeinsam zu haben und das macht mich hoffnungsvoll für unseren neuen Bundesrat. Und dass es ihm gut gehen wird in seinem so verantwortungsvollen Amt, das wünsche ich ihm zusammen mit seinem Bruder Ulrico