Stadtberner Scherbenhaufen

Die Berner Regierung produziert ein Debakel. Sie stoppt das vom Stimmvolk angenommene Abfallentsorgungs-Konzept mit Containerpflicht und Farbsäcken für Recycling. Hauptgrund: Unverträglichkeit mit dem Stadtbild.

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Trotz Zustimmung in Volksabstimmung: Die flächendeckende Containerpflicht kommt nicht, weil rechtliche Probleme dies verhindern. (Bild: Simon Boschi)

Es ist in dieser Deutlichkeit ein sehr seltener politischer Vorgang. Die Stadtberner Regierung muss eingestehen, dass eine Vorlage, für die sie beim Stimmvolk heftig und erfolgreich geworben hat, nicht umsetzbar ist. 

Im November 2021 hiessen die Berner Stimmberechtigten mit einem Ja–Anteil von 58,3 Prozent die Einführung einer Containerpflicht für Kehrichtsäcke und eines Trennsystems mit Farbsäcken gut. Zwei Argumente hatte die Stadtregierung als zentral hervorgehoben:

  • Die Pflicht, Kehrichtsäcke in Containern und nicht mehr einfach vor dem Haus zu deponieren, sollte die Gesundheit der Belader*innen von Kehrichtfahrzeugen besser schützen. Diese leiden heute durch das ständige Heben einzelner Kehrichtsäcke oft an Rückenschmerzen. Auch Verletzungen durch Glasscherben sind keine Seltenheit.

  • Das Farbsack-Trennsystem sollte das Recyceln vereinfachen. Stadtbewohner*innen hätten so zuhause Wertstoffe in verschiedenen Säcken getrennt sammeln und via Container entsorgen können.

Zwei Jahre später bleibt nach intensiven Umsetzung-Abklärungen von diesen Vorhaben sehr wenig übrig. Das mussten Marieke Kruit (SP), zuständige Gemeinderätin und Direktorin für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün (TVS), sowie  Christian Jordi, Leiter Entsorgung und Recycling, vor den Medien verkünden.

  • Die flächendeckende Containerpflicht kommt nicht, weil rechtliche Probleme dies verhindern. Der Gemeinderat schlägt dem Parlament stattdessen eine teilweise Containerpflicht vor. Sie soll nur bei Liegenschaften gelten, wo sie zumutbar sei. Belader*innen werden also vorläufig weiter in allen Stadtquartieren Kehrichtsäcke heben müssen.

  • Das Farbsack-System wird auf absehbare Zeit nicht für alle Bewohner*innen Berns eingeführt, sondern vorerst nur für die Teilnehmenden des Pilotversuchs weitergeführt. Für sie sind die Säcke (Glas, PET, Kunststoff etc.) aber künftig gebührenpflichtig. Der Grund für den Stopp der Umsetzung: Das Farbsack-System wäre nur mit einer generellen Containerpflicht und der damit verbundenen Beschaffung anderer Kehrichtfahrzeuge möglich gewesen.

Marieke Kruit
SP-Gemeinderätin Kruit bittet die Stimmbevölkerung «für die gemachten Fehler» um Entschuldigung. «Wir müssen uns den Vorwurf gefallen lassen, dass wir die Probleme vor der Abstimmung nicht gesehen haben.» (Bild: Marion Bernet, Archiv)

Die Regierung geht mit diesem Entscheid zurück auf Feld eins. Sie muss nun die per Volksabstimmung beschlossene Verbesserung des Entsorgungs-Systems neu aufgleisen.

Kruits Entschuldigung

SP-Gemeinderätin Kruit bat die Stimmbevölkerung an der Medienkonferenz «für die gemachten Fehler» um Entschuldigung. «Wir müssen uns den Vorwurf gefallen lassen, dass wir die Probleme vor der Abstimmung nicht gesehen haben», sagte Kruit. Der neuartige Charakter und die Komplexität des Vorhabens seien eine Erklärung.

Offen bleibt die Frage, warum Kruit und ihre Spezialist*innen diese Komplexität erst zwei Jahre nach der Abstimmung erkannt haben. Immerhin haben andere Städte, so zum Beispiel Zürich, die Containerpflicht schon vor Jahren umgesetzt.

Bei einer Begehung eines möglichen Containerstandplatzes im Stadtteil III traten laut Kruit zwischen den städtischen Ämtern unterschiedliche Ansichten zum sogenannten Vorgartenland-Schutzartikel in der städtischen Bauordnung zu Tage. 

Dieser Artikel verhindert aus Rücksichtnahme auf das Stadtbild in vielen Fällen die Platzierung eines Containers auf privatem Grund. Zum Beispiel, wenn eine Hecke, ein Zaun oder eine Mauer eines Grundstückes hätte unterbrochen werden müssen, um einen Containerstandplatz auf privatem Grund zu bauen.

Dieses Problem wurde laut Kruit zwar schon vor der Abstimmung in einer direktionsübergreifenden Arbeitsgruppe erörtert. Die TVS sei davon ausgegangen, dass sich die Stadtverwaltung in der Vorgarten-Frage einig ist. Doch nach der Abstimmung kamen aus den Direktionen von Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) und Gemeinderat Reto Nause (Mitte) andere Signale. «Bei einer Begehung wurden wir eines Besseren belehrt und stellten fest, dass man nicht vom Gleichen gesprochen hatte», sagt Kruit. Für eine flächendeckende Umsetzung der Containerstandplätze brauche es aber eine konsolidierte Haltung mit dem Bauinspektorat und dem Stadtplanungsamt. Daher ging man über die Bücher.

Unterbrüche von Hecken und Mauern seien heikel für das Stadtbild, erklärte Stefan Schwarz, Generalsekretär der TVS, an der Medienorientierung. Zäune und Hecken seien zum Teil «sehr quartierspezifisch», Aussparungen würden zu «unschönen Bildern» führen. In der Regel verlangten die gesetzlichen Vorgaben, dass die Grundstück-Umrandungen gleich bleiben.

Zu wenig private Plätze

Neben dem Stadtbild-Problem und seien weitere Unsicherheiten bei privaten Containerplätzen aufgetaucht. So kann es laut Schwarz unzumutbar sein, wenn der Container über zu viele Treppenstufen zum Bereitstellungsplatz gezogen werden muss. Weder eine von der Stadt bei Landschaftsarchitekten in Auftrag gegebenen Studie noch die Expert*innen der Stadtverwaltung hatten diese Problematik vor der Abstimmung erkannt.

Container
Platz für Container im öffentlichen Raum wird in erster Linie durch den Abbau von Parkplätzen geschaffen. (Bild: Simon Boschi)

Diese rechtlichen Probleme haben dazu geführt, dass im Stadtteil Mattenhof anstatt der angestrebten 80 nur 50 Prozent der geplanten Containerstandplätze auf privatem Grund eingerichtet werden können. Das bedeutet, dass die Stadt die fehlenden privaten Containerplätze auf öffentlichem Grund kompensieren müsste. Das kann und will die Stadt gemäss Kruit derzeit aber nicht vollständig machen. 

Zwar schlägt der Gemeinderat auch in der abgespeckten Vorlage vor, mehr öffentliche Containerplätze zu erstellen. Denn laut Jordi bleibt das Ziel, die Gesundheit der Mitarbeitenden zu schützen. Aber: Die ehemalige Containerpflicht wird nun zur abgespeckten Losung umformuliert: «Jeder Container zählt.»

Container gegen Parkplätze

Dennoch wird es auch so lange dauern, bis diese öffentlichen Container stehen. Die Stadt will keinen Wildwuchs von einzelnen bereitgestellten Säcken neben öffentlichen Containern. Sie will also nur dort Container stellen, wo ganze Strassenzüge komplett umgerüstet werden können.

Platz für Container im öffentlichen Raum wird in erster Linie durch den Abbau von Parkplätzen geschaffen. Das erklärte Christian Jordi schon vor anderthalb Jahren in der «Hauptstadt». Damals ging Jordi im Stadtteil Mattenhof-Weissenbühl, der als erstes analysiert wurde, noch von einer Umrüstung von bloss 130 Parkplätzen in Containerplätze aus. 

Das würde bei weitem nicht reichen. Für eine vollständige Kompensierung der auf privatem Grund nicht möglichen Containerplätze müsste die Stadt deutlich mehr Parkplätze aufheben – allein im Mattenhof wären es gemäss einer überschlagsmässigen Rechnung wohl über 300. 

Beschränkung für Parkkarten?

Ein solche massiver Parkplatzabbau würde der Stadt zwar auch helfen, ihre eigenen Klimaziele zu erreichen. 2019 hatte sie sich zum Ziel gesetzt, die Hälfte der öffentlichen Parkplätze abzubauen.

Parkplätze
Ein massiver Parkplatzabbau zugunsten von Containern wäre laut Gemeinderätin Marieke Kruit unverhältnismässig und darum rechtlich nicht haltbar. Sie will darum eine Beschränkung der Anwohner*innenparkkarten prüfen. (Bild: Simon Boschi)

Dennoch sieht die Regierung derzeit davon ab. Marieke Kruit erklärt im Interview mit der «Hauptstadt», dass eine solch massiver Parkplatzabbau unverhältnismässig und darum rechtlich wohl nicht haltbar wäre. Sie will darum neu eine Beschränkung der Anwohner*innenparkkarten prüfen. «Wir werden prüfen, ob die Herausgabe von Anwohnendenparkkarten an gewisse Kriterien geknüpft werden und so reduziert werden kann», sagt Kruit. So könnte man mehr Parkplätze abbauen und wohl auch mehr Containerstandplätze bereitstellen.

Offene Farbsack-Zukunft

Geprüft statt umgesetzt wird auch beim Farbsack-System. Wie es damit weitergeht, ist noch völlig offen. Laut Kruit hat der Gemeinderat das nun bewusst von der teilweisen Containerpflicht entkoppelt. «Wir wollen vorwärts machen bei der Containerpflicht, und erst in einem zweiten Schritt analysieren wir die Umsetzung des Farbsack-Trennsystems.»

Gemäss dem Pilotprojekt würden die Menschen das System schätzen. Darum bricht man das Projekt nicht sofort ab und führt vorerst zumindest das Pilotprojekt weiter. 

Laut Kruit wird die Stadt das eigentlich vom Stimmvolk beschlossene Projekt nochmals neu bezüglich Wirtschaftlichkeit und ökologischer Faktoren beurteilen. «Derzeit kann ich nicht sagen, ob wir das Projekt weiterführen oder nicht.» Laut Christian Jordi konnte  man im ursprünglichen Projekt einen ökologischen Mehrwert aufzeigen. «Ob das aber mit den nun geplanten separaten Containern für die Farbsäcke immer noch der Fall wäre, werden wir analysieren.»

Die bisher erfolglosen Umsetzungsarbeiten der Stadtverwaltung haben laut der neuen Vorlage an den Stadtrat bislang rund 600’000 Franken gekostet. 

Politisch wird das Umsetzungsdebakel des Gemeinderates im Wahljahr logischerweise viel zu reden geben. Als nächstes Gremium am Zug ist nun der Stadtrat. Er berät die überarbeitete Vorlage und kann die Richtung vorgeben. Möglich ist ein Übungsabbruch. Dies fordert zumindest die Partei «die Mitte» in einer Mitteilung. Und vielleicht wird auch das Stimmvolk noch einmal abstimmen müssen.

Idealerweise über eine Vorlage, die so gut abgeklärt ist, dass man sie auch umsetzen könnte.  

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Diskussion

Unsere Etikette
Andrea Cristina Neiger
19. März 2024 um 16:15

Wie viel der CHF 600'000, die in den Sand gesetzt worden sind, übernehmen anstelle der Steuerzahlenden die Politiker*innen, die nicht genügend Abklärungen vorgenommen haben?

Ruedi Muggli
19. März 2024 um 14:36

Die Probleme waren absehbar - denn der Platz ist in der Stadt oft sehr beschränkt. Zu viele öffentliche Parkplatz aufheben, geht auch nicht gut, denn sonst beginnen die GrundeigentümerInnen unterirdische Privatparkplätze anzulegen, war aus verschiedenen Gründen unerwünscht ist. Könnte Joel Widmer noch sagen, wie die Stadt Zürich das Problem gelöst hat? Danke!