Kitas wehren sich

Ungleiche Spiesse im Kanton Bern: Wegen des Lehrer*innenmangels wandert das Kita-Personal in die Schulen ab – gleichzeitig zählt bei den Kitas nur noch Fachpersonal für den Betreuungsschlüssel.

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Nicole Provini stört sich an den ungleichen Bedingungen für Schulen und Kitas. (Bild: Simon Boschi)

Alle reden vom Lehrer*innenmangel. Fast niemand vom Personalmangel in den Kindertagesstätten. 141 freie Stellen sind auf dem Portal krippenstellen.ch momentan ausgeschrieben, für 96 davon ist ein Fachabschluss nötig. Notabene nur im Kanton Bern. Schweizweit sind es um die 1000.

«Seien wir ehrlich, die meisten dieser Stellen werden bis Ende Sommerferien nicht mehr besetzt», sagt Nicole Provini. Sie selbst habe seit acht Monaten versucht, auf diesen Sommer hin vier Stellen zu besetzen, bei dreien ist ihr das inzwischen gelungen, bei einer nicht. Provini ist Gründerin der Kita Sputnik, die sich gleich neben dem Inselspital in Bern befindet.

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Die Kita Sputnik hat einen grossen Garten. (Bild: Simon Boschi)

Es ist der letzte Tag vor den Kita-Ferien; die Gruppe sitzt im Garten im Kreis und macht ein Abschiedsritual für die Kinder, die nach den Ferien in den Kindergarten weiterziehen. Nicole Provini lächelt ihnen zu, ein Knirps steht auf und läuft ihr nach. «Nein, du musst zu den anderen zurück», sagt sie mahnend zu ihm.

Nicole Provini führt die Kita Sputnik seit zehn Jahren. Sie bietet gleichzeitig auch einen Ganztageskindergarten und eine Ganztagesschule an. Schon als junge Frau hat Provini sich gewünscht «in Bern ein Haus zu füllen mit Kindern». Sodass Kita, Kindergarten und Schule an einem Ort sind und die Eltern dadurch entlastet werden. Sie selbst bekam jung Kinder, machte das Kindergarten- und anschliessend das Lehrerseminar. Bevor sie die Kita eröffnete, war sie an verschiedenen Bildungseinrichtungen tätig.

Viele Änderungen

Sie kennt also nicht nur die Welt der Kleinkinderbetreuung. Aber sie hat sich aus Überzeugung für diese Arbeit entschieden. «Es ist schön, die Kinder in ihrer Entwicklung so lange zu begleiten.» In den letzten Jahren sei ihre Arbeit aber erschwert worden. Erst kam die Pandemie, zudem wechselte die Aufsicht von der Stadt Bern zum Kanton. Die Betreuungsgutscheine, die den Eltern eine freie Kita-Wahl ermöglichen, wurden eingeführt. Und nun ist seit Anfang Jahr ein neues kantonales Gesetz in Kraft, das höhere Anforderungen an Kitas stellt. Ab August muss es von den Kitas umgesetzt werden.

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Ab August gilt für Berner Kitas ein strengerer Betreuungsschlüssel. (Bild: Simon Boschi)

Es geht in diesem Gesetz vor allem um den strengeren Betreuungsschlüssel. Dieser besagt, dass nur noch ausgebildete Fachkräfte bei der Betreuung zählen. Praktikant*innen oder Menschen mit anderer Berufsbildung sind also zugelassen, jedoch nur zusätzlich zum Betreuungspersonal. Für bis zu fünf Kita-Plätze braucht es eine Betreuungsperson, für bis zu 14 Plätze drei Personen.

«Wir begrüssen das grundsätzlich», sagt Nicole Provini, «das sorgt für mehr Qualität und verhindert, dass Praktikant*innen ausgenutzt werden.» Allerdings sei die Regelung strenger als an den Schulen, da nicht mehr auf Personal aus anderen Fachbereichen zurückgegriffen werden könne, wie das die Kita Sputnik zum Beispiel immer wieder gemacht habe. «Uns ist es wichtig, dass wir auch Männer als Betreuer haben, wir hatten zum Beispiel mal einen Koch oder mal einen Gipser, beide haben später Sozialpädagogik studiert».

Kita-Personal wechselt an Schulen

Auch an den Schulen ist zwar pädagogisch ausgebildetes Personal erwünscht, momentan können aber wegen des akuten Fachpersonenmangels auch Leute aus anderen Berufsfeldern quereinsteigen. Zum Beispiel Betreuungsfachpersonen aus Kitas. «Zwei meiner Kita-Mitarbeiterinnen haben gekündigt und werden nach den Sommerferien in einer Schule unterrichten», sagt Nicole Provini. Dasselbe habe sie auch aus anderen Kitas gehört. Kein Wunder, beträgt doch der Einstiegslohn für eine Fachperson Betreuung (FaBe) lediglich zwischen 4400 und 4600 Franken brutto pro Monat. An einer Schule ist der Einstiegslohn höher.

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Die Anforderungen an Kitas sind gestiegen. (Bild: Simon Boschi)

Ungleiche Spiesse also für Kitas und Schulen – daran stört sich die 51-Jährige. Darum hat sie sich mit anderen Kita-Leitungen aus der Stadt zusammengetan. «Wir brauchen mehr Gewicht», sagt sie, «mehr Lobby». Gemeinsam haben sie zwei Briefe an die kantonale Gesundheits- und Sozialdirektion (GSI) geschrieben, wo sie eine Klärung der Situation fordern. Sie sind aber bloss auf einen runden Tisch im nächsten Winter vertröstet worden. Doch bleiben weiterhin so viele Stellen in Kitas offen, müssen Gruppen im schlimmsten Fall verkleinert oder Kinder abgewiesen werden. Laut der GSI sollten diese neuen Auflagen kostenneutral umsetzbar sein. Dies sei laut Provini jedoch unmöglich.

Die Antwort des Kantons

Die Direktion der GSI sei sich des Fachkräftemangels und der damit verbundenen schwierigen Situation für die Kitas bewusst, schreibt Sprecher Gundekar Giebel auf Anfrage der «Hauptstadt». Man stehe mit Branchen- und Ausbildungsverbänden, sowie Arbeitgeber*innen- und -nehmer*innen in Kontakt. Es sei aber zu früh, um über konkrete Möglichkeiten zu sprechen. «Die Fähigkeiten des Betreuungspersonals sind ein zentraler Faktor für die Qualität der Betreuungsangebote sowie deren entwicklungsfördernde Wirkung», schreibt Giebel. «Um die mit einer Betreuung in einer Kita verbundenen Ziele (gesundheitsförderliche Betreuung, Förderung der Entwicklung der Kinder in sprachlichen, kognitiven, motorischen und sozio-emotionalen Bereichen) erreichen zu können, wird deshalb ausschliesslich auf Mitarbeitende mit berufsspezifischen Qualifikationen gesetzt.»

Was zu der skurillen Situation führt, dass Kita-Profis ohne Lehrer*innenausbildung an die Schulen wechseln dürfen, während bei Kitas nur noch spezifisch geschultes Personal eingesetzt werden soll.

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Nicole Provini wird in Zukunft häufiger auf der Gruppe anzutreffen sein. (Bild: Simon Boschi)

Doch nicht nur die Schulen schnappen den Kitas die Betreuer*innen weg – auch besserverdienende Eltern engagieren immer häufiger eine FaBe als Nanny, wie Nicole Provini beobachtet hat. «Durch die Betreuungsgutscheine und die daraus resultierenden höheren Baby-Tarife ist diese Option für sie attraktiver geworden», sagt Provini. Die Eltern würden weniger zahlen – und die Betreuer*innen je nachdem auch mehr verdienen.

Ein kleines Kind läuft tapsend auf Nicole Provini zu. Es ist schon wieder der Knirps von vorhin. «Als er neu in der Kita war, kam er oft zu uns ins Büro», sagt Provini, «nun kennt er mich halt gut.»

Nach den Sommerferien wird der Bub Nicole Provini vermutlich noch häufiger sehen. Für die Stelle, die sie nicht besetzen konnte, wird die Kita-Leiterin einspringen – und dafür andere Dienste wie die Buchhaltung vermehrt auslagern. Was aber auch bedeutet, dass sie dafür mehr zahlen muss, als sie für eine Kita-Betreuerin zahlen würde. Und das Team wird zum Teil Extra-Schichten leisten müssen. «Anders geht es nicht», sagt sie.

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Diskussion

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Marianne Schweizer
14. Juli 2022 um 07:56

Ich seh dass auch so, wie Nicole Provini. Seit über 30 Jahren habe ich Erfahrung mit Kindern. Als Kita Mitarbeiterin arbeite ich seit über 15 Jahren. Ich darf behaupten, dass ich durch meine verschiedenen Aus-und Weiterbildungen mindestens gleichwertig gebildet bin, wie meine halb so alten Kolleg*innen. In unserer Arbeit zählt vorallem Herz, Verstand und vernetztes Denken. Wir tragen die Verantwortung für die uns anvertrauten Kindern mit all unseren Erfahrungen. Wer in einer Kita mitarbeiten will braucht sicher pädagogische Bildung. Die kann man sich in zahlreichen Weiterbildungen gezielt abholen und dann in die Praxis umsetzen. Der Mensch mit all seinen Eigenschaften sollte mehr Gewicht erhalten, als ein Diplom Papier. Papier ist bekanntlich geduldig.