«Die Stadt muss vom Sparen wegkommen»
Das Grüne Bündnis stört sich am finanzpolitischen Kurs und an der schleppenden Klimapolitik der linken Stadtregierung, der es selber angehört. Nun kündigt Partei-Co-Chefin Ursina Anderegg eine Initiative für die Finanzierung von Klimamassnahmen an.
Ursina Anderegg, der Stadtberner Finanzdirektor Michael Aebersold hat für die kommenden Jahre eine Serie von roten Budgets angekündigt. Das Grüne Bündnis (GB) sieht aber keinen Grund zum Sparen. Ziemlich realitätsfern, oder?
Im Gegenteil. Für realitätsfern halte ich die Diskussion über angeblich tiefrote Stadtfinanzen. In den letzten 10 bis 15 Jahren erzielte die Stadt mit wenigen Ausnahmen Überschüsse. Die Töpfe für Spezialfinanzierungen für Schulraum und Sportanlagen sind gefüllt, und die Stadt verfügt über Reserven von 95 Millionen.
Die Serie budgetierter Defizite kümmert Sie nicht? Alles bestens also?
Nein. Die Frage ist: Führt man die Diskussion über die Budgets oder über die realen Abschlüsse. Wir kritisieren die pessimistische Budgetpolitik der Stadtregierung. Weil 2019 ein negativer Steuertrend befürchtet wurde und die Pandemie kam, hat der Gemeinderat begonnen, zu vorsichtig zu budgetieren. Die Sparpakete waren viel zu gross. Nun haben wir bei der Rechnung 2022 ein Plus von 67 Millionen Franken, der Haushalt ist stabil.
Stabil? 2019 und 2020 schnitt die Stadt schlechter ab als budgetiert.
Das waren auf das Gesamtbudget von 1,4 Milliarden Franken gesehen minimale Defizite. Doch sie haben grosse Sparpakete ausgelöst. Mit der Folge, dass nun wichtige Projekte stagnieren, wie die Massnahmen gegen die Klimakrise. Wenn man die realen Zahlen betrachtet, steht die Stadt finanziell gut da. Die Reserven sind voll.
Die Reserven sind noch bei 95 Millionen Franken, gemäss der Finanzstrategie des Gemeinderats sollten sie 120 bis 180 Millionen Franken betragen. Warum tragen Sie als Teil der linken Stadtregierung deren Finanzstrategie nicht mit?
Diese technokratische Finanzstrategie haben wir immer kritisiert. Es ist eine Schwarze-Null-Sparpolitik-Logik. Sie orientiert sich nicht an politischen Notwendigkeiten.
Welche Prioritäten würde die Finanzpolitik des Grünen Bündnisses setzen?
Wir müssen das Augenmerk darauf legen, wie sich der Haushalt effektiv entwickelt. Und uns darauf konzentrieren, wie wir den finanziellen Spielraum noch mehr ausweiten können, um die aktuellen Herausforderungen wie die Klima- und Armutskrise anzupacken. Aktuell budgetiert der Gemeinderat mit einem sehr hohen Investitionsvolumen: Wir müssen hinterfragen, ob dieses Volumen in allen Teilen und vor allem in diesem Tempo wirklich Priorität hat.
Bedeutet das, dass Ihnen der wachsende Schuldenberg doch auch Sorgen macht?
Das grosse Investitionsvolumen führt logischerweise zu einer temporären Neuverschuldung. Die derzeit steigenden Schulden machen uns keine Sorgen. Die Ratingagenturen stufen die Bonität der Stadt Bern immer noch als hervorragend ein und bestätigen damit, dass kein Problem besteht.
Die jährliche Zinslast für die Schulden liegt bei 18 Millionen Franken und steigt weiter an. Das soll kein Problem sein?
2016 und 2017 hatte man eine grössere Zinslast. Trotzdem führte man andere finanzpolitische Diskussionen, zum Beispiel sogar über Steuersenkungen. In der Finanzpolitik geht es oft darum, wem es gelingt, das Narrativ zu bestimmen. Wir sind es leider von der bürgerlichen Mehrheit auf Ebene Bund und Kanton gewohnt: Tiefrote Haushalte heraufbeschwören und dann den Staat abbauen. Nochmal: Wir wollen weg von der Sparlogik und über drängende Probleme reden.
Sie sagen, dass Finanzdirektor Michael Aebersold ein bürgerliches Narrativ verbreitet?
Nein, ich sage: Die Erzählung über das, was seine Finanzdirektion aufbereitet, ist falsch. Und dieses Narrativ wird getrieben durch bürgerliche Politiker*innen und durch die unverständliche Kommunikation des Gemeinderats, der ein weiteres Sparpaket ankündigt.
Rot-Grün hat seit 30 Jahren die Mehrheit in der Stadt Bern, seit 2016 im Gemeinderat sogar im Verhältnis 4 zu 1. Es kann doch nicht sein, dass sich eine bürgerliche Finanz-Erzählung durchsetzt?
Ich verstehe, dass das von aussen schwer verständlich ist. Wir führen seit 2019 sehr intensive Diskussionen im Rot-Grün-Mitte-Bündnis (RGM). Parteien und Fraktionen haben nicht immer die gleiche Haltung wie die Gemeinderatsmehrheit. Zudem haben die Medien die bürgerliche Spar-Erzählung leider befeuert. Das enttäuscht uns.
Dabei kann man sich einen linkeren Finanzdirektor als Michael Aebersold fast nicht vorstellen.
Diese Einschätzung überlasse ich Ihnen.
Auch Exponent*innen Ihrer Partei haben Mühe mit zu ausgabefreudiger Finanzpolitik. Die frühere Finanzdirektorin Therese Frösch hat die RGM-Mehrheit aufgefordert, zur Finanzpolitik runde Tische zu veranstalten.
Therese Frösch hatte nicht alle Fakten zur Verfügung. Wir haben ausführlich mit ihr darüber diskutiert.
Ursina Anderegg ist Co-Präsidentin des Grünen Bündnisses. Sie sitzt seit 2016 im Stadtrat und seit Anfang Jahr in der Finanzkommission, nachdem sie sieben Jahre in der Kommission für Soziales, Bildung und Kultur war und diese 2022 präsidierte. Die 42-Jährige hat an der Universität Bern Schweizer Geschichte studiert und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Chancengleichheit der Uni Bern. Sie ist zudem Präsidentin des Dachverbandes für offene Arbeit mit Kindern in der Stadt Bern.
Hohe Schuldenlast und defizitäre Budgets sind eine Tatsache. Sie wollen mehr Investitionen in Klimamassnahmen. Woher nehmen Sie das Geld?
Die Schulden sind da. Es ist einfach die Frage, wie man die Situation einschätzt. Derzeit investiert die Stadt viel in die Infrastruktur. Es ist logisch, dass man sich in einer solchen Phase verschuldet. Das darf man nicht dramatisieren. Wichtig ist, zu erkennen: Wenn wir jetzt Massnahmen gegen die Klimakrise und die Armut nicht vorantreiben, wird es später teurer. Schulden vermeiden, nur um Schulden zu vermeiden, ist zu eindimensional.
Sollte man nicht so ehrlich sein und zugeben: Zusätzlichen finanziellen Spielraum für das Klima erhielte die Stadt nur durch eine Steuererhöhung.
Derzeit braucht es keine Steuererhöhung. Aber es wird sicher Mehrinvestitionen brauchen für die Erreichung der Klimaziele. Hier muss der Gemeinderat nun endlich den Preis benennen für die Umsetzung der Klimamassnahmen. Gegenüber der Frage einer Steuererhöhung sind wir im Falle einer Notwendigkeit nicht verschlossen.
Der rot-grüne Gemeinderat verfehlt nicht nur die Ziele der Finanzstrategie, sondern auch diejenigen der Energie- und Klimastrategie. Für das Grüne Bündnis ist das ein Desaster.
Die vermeintlichen Finanzprobleme werden oft als Zielkonflikt zur Klimapolitik dargestellt. Das ist die falsche Haltung. Wenn man Klimaprobleme als dringlich erachtet, muss man alles dafür tun, dass man die Massnahmen finanzieren kann. Diese Blockade müssen wir lösen.
Wie wollen Sie das machen?
Wir prüfen derzeit eine Klimainitiative, die auch Vorschläge zur Finanzierung enthalten soll.
Eine weitere Spezialfinanzierung?
Das ist noch offen. Wir wollen nun zuerst wissen, was die Klimastrategie kostet.
Sie wollen für die Umsetzung von Klimamassnahmen mehr Leute in der Verwaltung anstellen. Wofür braucht es diese konkret?
Der Massnahmenkatalog liegt schon länger auf dem Tisch, aber es geht nicht vorwärts. Das hat auch mit fehlendem Personal zu tun. Man muss die städtischen Liegenschaften umrüsten, Bauprojekte aufgleisen, man könnte auch offensiver die Bürger*innen in Klimafragen beraten. Da braucht es Leute, die vorwärts machen.
Aber doch nicht Angestellte auf Vorrat, sondern Leadership und Priorisierung.
Wir haben in Klimafragen auch höhere Erwartungen an die politische Führung.
Warum ist die Regierung, in der das Grüne Bündnis sitzt, nicht fit genug, die Klimamassnahmen voranzutreiben?
Weil dies offenbar beim Gemeinderat nicht die höchste Priorität hat. Wir haben nur eine Person in der Regierung.
Wenn wir über Finanz- und Klimaprobleme reden, reden wir auch über die Kosten des Wachstums. Rot-grüne Stadtpolitik braucht steigende Steuereinnahmen, deshalb ist Wachstum Pflicht. Stösst man bald an Grenzen?
Es macht aus grüner Sicht Sinn, dass die Städte, solange sie Platz haben, verdichtet werden. Dass die Menschen dort wohnen, wo sie arbeiten und die Mobilität abnimmt. Wir müssen landesweit die Zersiedelung stoppen, und da helfen Wohnbau-Projekte wie das Viererfeld.
Aber mit der rot-grünen Aufwertungsspolitik gehen auch Verdrängungsprozesse einher.
Verdichtung in den Städten ist auch eine Verteilungsfrage. Wir müssen darauf achten, dass untere soziale Schichten nicht aus der Stadt verdrängt werden. Alle haben Anrecht auf Wohnraum. Deshalb müssen wir den gemeinnützigen Wohnungsbau noch stärker fördern. Im Viererfeld haben wir deshalb mehr als den nun festgelegten Anteil von 50 Prozent gemeinnützigem Wohnraum gefordert.
In den letzten 20 Jahren Rot-Grün-Mitte-Politik wurde Bern verstärkt zur Stadt für die Mittel- und Oberschicht.
Es gibt diese Tendenz. Darum legt das Grüne Bündnis immer den Finger auf die Gentrifizierungsthematik.
Opfer der Verdrängung ist oft das Gewerbe. Was sagen Sie Carrosserie-Unternehmer Peter Steck, der seinen Betrieb im Untermattquartier wegen der Wohnüberbauung Weyer West wohl wird schliessen müssen?
Bei grossen Verdichtungsprojekten kommt es leider immer wieder zu Verdrängungen, auch von Menschen, die vor Ort wohnen. Hier gilt es, genau hinzuschauen und abzuwägen. Bei einer Carrosserie stellt sich schon die Frage, ob die im Wohnumfeld stehen muss.
Reparaturbetriebe und Holzbaubetriebe, die auch Lärm und Gerüche produzieren, sind für die Kreislaufwirtschaft doch wichtig. Wollen Sie diese auf die grüne Wiese ausserhalb der Stadt verlegen?
Nein. Das soll nicht geschehen. Es braucht eine gute Durchmischung von Gewerbe und Wohnen. Das GB arbeitet schon lange auf eine Stadt der kurzen Wege hin. Die Frage ist, wo braucht es welches Gewerbe für welche Zusammensetzung an Anwohner*innen.
Aber mit Ihrer Politik locken Sie Gelaterias an und verdrängen Carrosserien und Holzbaubetriebe.
Ich weiss nicht, was genau Sie mit «Ihrer Politik» meinen. Das Grüne Bündnis fordert seit langem Raum für das Gewerbe, welches möglichst dort produzieren oder reparieren kann, wo die Menschen leben, die dies brauchen.
Das Grüne Bündnis ist die kritische Instanz innerhalb des Regierungsbündnisses, läuft aber häufig auf.
Das Grüne Bündnis hat RGM schon immer von links her kritisiert. In dieser Rolle sehen wir uns auch weiterhin.
Das GB kritisiert die RGM-Mehrheit in der Stadtregierung oft. Bei den Finanzen, bei der Klimapolitik, bei der Fusion mit Ostermundigen. Fühlen Sie sich noch wohl im über 30jährigen Rot-Grün-Mitte-Bündnis?
Ja, wir fühlen uns wohl. Es ist ein Bündnis, das einen politischen Zweck hat und von Reibereien lebt.
Auf die Wahlen 2024 hin tritt ihre Gemeinderätin Franziska Teuscher ab. Wer soll den GB-Sitz verteidigen?
Die Frage ist offen, wir nominieren Ende Jahr. Derzeit laufen Gespräche mit interessierten Parteimitgliedern.
In Frage kommen wohl die Nationalrätinnen Aline Trede und Natalie Imboden oder Grossrätin Rahel Ruch, die mit Ihnen das GB co-präsidiert. Welches sind Ihre persönlichen Ambitionen?
Mich würde dieses Amt sehr reizen. Ich bringe viel Erfahrung in der Stadtpolitik mit und würde gerne als Gemeinderätin mehr Verantwortung übernehmen. Es gibt aber auch weitere geeignete Personen bei den amtierenden Stadträtinnen oder beispielsweise die ehemalige GB-Präsidentin Stephanie Penher.
Nach diesem Gespräch fragen wir uns, warum Sie in ein Gremium gewählt werden wollen, das eine Politik macht, die Sie heftig kritisieren.
In diesem Gespräch habe ich als Co-Präsidentin die Haltung des GB erläutert. Persönlich habe ich viel Erfahrung in politischer und beruflicher Arbeit in unterschiedlichen Kontexten in unterschiedlichen Rollen. Als GB-Gemeinderätin geht es darum, den politischen Handlungsspielraum zu suchen und zu nutzen. Da bringe ich Expertise mit, denn beruflich bin ich in der Gleichstellungsarbeit tätig, und das ist auch eine zähflüssige Sache (lacht).
Das GB hat seit dem ersten Wahlsieg von RGM 1992 einen Regierungssitz. Neben Franziska Teuscher wird auch Michael Aebersold nicht mehr antreten, deshalb werden Sie wie die SP eine neue Person präsentieren. Die Gefahr, den Sitz zu verlieren, ist real. Wie schlimm wäre das für das GB?
Wir werden alles geben, um den Sitz zu verteidigen. Für uns ist es politisch sehr wichtig, dass wir Teil der Regierung sind und die Stadt auf allen Ebenen mitprägen können. Es wird allerdings eine Herausforderung bleiben, die 4:1-Mehrheit zu verteidigen.
Wie wichtig ist das Gemeinderatsamt finanziell für Ihre Partei?
Der Sitzverlust wäre schmerzhaft, weil wir hohe Mandatsabgaben haben. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt.
Würden Sie als Grüne die Sicherheits- und Umweltdirektion von Reto Nause übernehmen?
Diese Frage stellt sich frühestens nach den Wahlen.
Wie beurteilen Sie die Arbeit von GFL-Stadtpräsident Alec von Graffenried?
In der Klimapolitik könnte er mehr Feuer an den Tag legen. Zum Fusionsprozess mit Ostermundigen haben wir unsere Kritik angebracht und hoffen, es gelingt nun. Generell finden wir: Das Gesamtgremium hat Luft nach oben.
FDP-Stadtrat Tom Berger warf RGM im «Hauptstadt»-Interview kürzlich Machtarroganz vor, weil sich GB und SP im Stadtrat oft durchsetzen, statt den Kompromiss zu suchen. Es ist genau die Kritik, die Sie als Grüne auf Bundesebene am «Machtkartell» der Bürgerlichen anbringen.
Wir machen die Politik, für die uns die Menschen gewählt haben. Das ist keine Machtarroganz. Es wäre ja schräg, wenn wir nicht jene Politik machen würden, für die wir gewählt wurden, nur damit Tom Berger zufrieden ist.
Erstmals mussten die Stadtparteien Ende Juni ihre Finanzen offenlegen. Das Grüne Bündnis wies mit einem Aufwand von 228 000 Franken in einer ersten Übersicht das grösste Budget aus. Mit ein Grund war, dass die SP die Finanzen der Quartiersektionen nicht angeben hatte und erst eine Woche später nachlieferte. Sind Sie verärgert?
Nein. Der SP ist ein Fehler unterlaufen, den sie korrigiert hat. Dank der neuen Regelung sehen wir nun alle, wie die Parteienfinanzierung auf städtischer Ebene funktioniert. Nämlich sehr unterschiedlich. Deshalb braucht es dringend Offenlegungspflichten auf allen politischen Ebenen, um ein Gesamtbild zu erhalten.