Armut in Bern, von Nahem betrachtet
Wie lebt man in Bern, wenn man arm ist? Fühlt man sich arm, wenn man als arm gilt? Und: Kann man es aus der Armut heraus schaffen? Die Multimedia-Produzentinnen Jana Leu und Tamara Reichle schauen mit ihrem Video-Format «Häregluegt» genau hin.
«Häregluegt» heisst die Videoserie, mit deren Publikation die «Hauptstadt» heute auf dem Social-Media-Kanal Instagram startet. Das neue Format drückt sich trotz der für Instagram notwendigen Kürze der Beiträge nicht vor komplexen Themen – im Gegenteil: Die beiden Multimedia-Produzentinnen Jana Leu und Tamara Reichle versuchen, die Realität von Menschen in Bern, die von Armut betroffen sind, in einer Serie von kurzen Filmsequenzen differenziert darzustellen – im O-Ton der Betroffenen, ergänzt durch eine Expertenstimme. Die «Hauptstadt» verlinkt die Videos hier auf der Website sowie im «Hauptstadt»-Brief (so dass sie auch anschauen kann, wer kein Instagram-Konto hat) und wird die Serie mit zusätzlichen Recherchen begleiten.
722’000 Personen gelten in der Schweiz gemäss der Armutsdefinition als arm – sie haben weniger als 2279 Franken pro Monat zur Verfügung, um ihren ganzen Lebensunterhalt zu bestreiten. «Uns interessierte, mit Menschen hier in Bern in Kontakt zu kommen, die sich hinter den statistischen Zahlen verbergen», sagt Tamara Reichle. Über Armut zu reden sei einerseits ein Tabu, «weil man in der Schweiz generell nicht gern darüber redet, wie viel Geld man hat – auch dann nicht, wenn man viel davon besitzt», sagt Jana Leu. Andererseits falle man beim Stichwort Armut schnell in Stereotype, im Stil von: Arme Menschen sind randständig oder obdachlos.
Vielfalt der Armut
Die Realität ist anders. Allein die hohe Zahl Betroffener zeigt, dass der grösste Teil der Armut nicht sichtbar ist. «Den typischen Armutsbetroffenen oder die typische Armutsbetroffene gibt es nicht. Jede Geschichte ist individuell, genau wie die Art und Weise, wie jemand mit der Tatsache umgeht, arm zu sein», sagt Jana Leu. Diese Vielfalt in einem oft übergangenen Bereich der Gesellschaft zu zeigen, ist eine der Ambitionen im Videoprojekt von Tamara Reichle und Jana Leu. Es ist die Abschlussarbeit ihres Bachelorstudiums in Multimedia Production an der Fachhochschule Graubünden in Chur.
Natürlich gibt es objektive Faktoren, die das Armutsrisiko erhöhen – statistisch gesehen befinden sich unter den Armutsbetroffenen überdurchschnittlich viele Alleinerziehende oder Menschen mit tiefem Ausbildungsgrad, sowie Migrant*innen mit prekärem Aufenthaltsstatus. «Spannend war für uns, zu sehen, dass nicht alle, die aufgrund ihrer finanziellen Situation als arm gelten, sich selber als arm wahrnehmen», sagt Tamara Reichle. Es gebe Menschen, die einen sehr pragmatischen Umgang mit ihrer Armut haben. Ein zentraler Aspekt jedoch, den einige Betroffene ähnlich erleben: Wenn die finanziellen Mittel fehlen, fehlen fast alle Möglichkeiten, überhaupt an der (Konsum-)Gesellschaft teilzunehmen.
Frage des Vertrauens
Wie schwierig war es, Menschen zu finden, die bereit waren, vor der Kamera über ihr Leben in Armut zu reden? «Gegenseitiges Vertrauen ist sehr wichtig, damit überhaupt ein tiefergehendes Gespräch über ein so persönliches Thema möglich ist», sagt Jana Leu. Die Interviewten müssen sicher sein können, dass sie in ihrer prekären Lebenssituation nicht der Öffentlichkeit vorgeführt und für journalistische Zuspitzungen «benutzt» werden. Andererseits müssen Journalist*innen unvoreingenommen alle relevanten Fragen aufwerfen können.
Leu und Reichle suchten den Kontakt zu ihren Gesprächspartner*innen vor allem über Organisationen wie die kirchliche Gassenarbeit, die im Alltag mit armutsbetroffenen Menschen arbeiten und eine Art Vertrauensvorschuss beitragen konnten. Es habe verständlicherweise viele Absagen gegeben, sagen die Journalistinnen, doch am Schluss stellten sich vier Personen in unterschiedlichen Armutssituationen für Gespräche zur Verfügung. Doch Jana Leu und Tamara Reichle mussten danach die Entscheidung einer Protagonistin, welche ihre Aussagen kurzfristig wieder zurückzog, akzeptieren. Sie wird aus diesem Grund in den Videos nicht zu sehen sein.
Logischerweise hat die intensive Auseinandersetzung mit armutsbetroffenen Menschen auch den beiden Autorinnen zu neuen Einsichten verholfen, aber auch neuen Fragen geweckt. Es sei ja überhaupt nicht so, dass zum Beispiel die Stadt Bern nichts unternehmen würde zur Unterstützung von armutsbetroffenen Menschen, sagt Jana Leu. «Aber ich frage mich schon, warum es trotzdem nur sehr wenige Menschen schaffen, einen Ausweg aus der Armut zu finden.»
Problem Arbeitsmarkt
Ein schwieriges Thema, dem sie in ihren Gesprächen immer wieder begegneten, sei der sich, etwa mit der Digitalisierung, rasch verändernde Arbeitsmarkt. Tamara Reichle und Jana Leu haben, wie sie erzählen, immer wieder gehört, dass die verschiedenen Programme zur Wiedereingliederung mehr als Beschäftigung dienen, als dem tatsächlichen Wiedereinstieg in die Arbeitswelt. Das macht es für Armutsbetroffene schwierig, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen.
Werden die Nutzer*innen auf dem bildlastigen Social-Media-Kanal Instagram offen dafür sein, sich auf ein eher unangenehmes, vielschichtiges Thema wie Armut einzulassen? Das ist letztlich die Herausforderung, die Jana Leu und Tamara Reichle mit ihrem Projekt «Häregluegt» zusammen mit der «Hauptstadt» ab heute annehmen. Tamara Reichle ist ziemlich optimistisch. Jedenfalls hat sie im privaten Umfeld festgestellt, dass eine grosse Bereitschaft bestehe, sich mit Armut auseinanderzusetzen – wenn man mal einen Einstieg ins Thema finde, von dem man sich persönlich angesprochen fühlt.
«Häregluegt» wagt das. Und wir werden dich über die Erfahrungen der «Hauptstadt» mit diesem Format und über die Reaktionen der Community auf dem Laufenden halten.
Wenn du dich mit «Häregluegt» in Verbindung setzen willst, ist das über diese Mailadresse möglich: [email protected].