Die Deutsch-Uni für Ukrainer*innen

Ein Vorbereitungsjahr soll Geflüchtete für das Studium befähigen. Die Universität Bern hat letzten Sommer ein Projekt für Ukrainer*innen lanciert, das im Herbst für alle Geflüchteten geöffnet wird.

Iryna Kamienieva an der Universität Bern
«Es war crazy», erinnert sich die Ukrainerin Iryna Kamienieva an die Anfänge ihres Vorbereitungsjahres an der Uni Bern. (Bild: Danielle Liniger)

Wenn am 20. Februar das Frühlingssemester an der Universität Bern anfängt, wird Iryna, 17 Jahre alt, jeden Mittwochmorgen an einem Kurs mit dem Namen «Einführung in die Mikroökonomie» teilnehmen, gemeinsam mit zahlreichen anderen jungen BWL-Studentinnen. Iryna hat viel mit ihnen gemeinsam. Sie tanzt Hip Hop und spielt Schach, mag Hundespaziergänge und trinkt gerne Kaffee mit ihren Freundinnen. Hier und da modelt sie für Fotografen, mit den Bildern füllt sie stolz ihren Instagram-Account.

Es ist ein normaler Alltag, fast langweilig zu erzählen. Und genau das macht ihn so besonders. Denn: Um sich an einer Schweizer Uni einzuschreiben und am Student*innenleben teilzunehmen, mussten geflüchtete Menschen bislang grosse Hürden überwinden. Das soll sich nun ändern.

Als Iryna Kamienieva am 5. März 2022 mit ihrer Mutter und Schwester aus der Ukraine flieht, hat sie in ihrem Rucksack nichts als eine Hose, einen zusätzlichen Pullover, das Buch «Stolz und Vorurteil» und ihr Handy. Länger als ein paar Tage, glaubt sie, werden sie nicht von zu Hause, der südukrainischen Stadt Saporischschja, wegbleiben müssen.

Fast ein Jahr ist seither vergangen. Iryna musste nicht nur neue Kleider kaufen, sondern sich auch mit dem Gedanken abfinden, ein neues Leben in einem neuen Land aufbauen zu müssen.

Der Vorkurs für das Jurastudium, mit dem sie in der Ukraine angefangen hat, ist in der Schweiz nicht gültig. Ihre einzige Möglichkeit, zu studieren, scheint zunächst, die eidgenössische Matura an einem Gymnasium nachzuholen. Ohne die Sprache zu sprechen und ohne an das schweizerische Schulsystem gewöhnt zu sein, ist es auf diesem Niveau allerdings schwierig, mitzuhalten. Geschweige denn, an Maturaprüfungen teilzunehmen.

Iryna Kamienieva an der Universität Bern
Für Geflüchtete, wie Iryna, gibt es viele Hürden, um an Schweizer Unis studieren zu können. (Bild: Danielle Liniger)

Iryna ist nicht die einzige Ukrainerin, die vor diesem Problem steht. Die Abteilung «UniBE International», die sich an der Universität Bern um Anliegen internationaler Studierender kümmert, wird im Frühlingssemester 2022 geradezu mit Anfragen ukrainischer Studierender überflutet, die sich für ein Auslandssemester einschreiben wollen. Etwa 60 Studierende können übergangsweise als sogenannte International Students aufgenommen werden, aber das Problem ist damit nur aufgeschoben. Als International Students konnten sie damals laut Reglement nicht mehr als zwei Semester bleiben und müssten eigentlich an einer Partnerhochschule eingeschrieben sein.

Doch Bern hatte damals noch keine Partnerabkommen mit ukrainischen Universitäten. Und wer sich nicht nur für ein Auslandssemester eintragen will, müsste im Falle der Ukraine dort mindestens zwei Jahre studiert haben, um in der Schweiz zugelassen zu werden. Ein C1-Niveau in Deutsch ist eine zusätzliche Voraussetzung. Für die damals 16-jährige Iryna, die fertig ist mit der Schule, aber mit dem Studium noch nicht hat beginnen können, stellen diese Zulassungsbedingungen ein grosses Hindernis dar.

Unter der Projektleitung von Jana Müller kreiert «UniBE International» darum im Sommer 2022 innert weniger Wochen ein Vorbereitungsjahr für ukrainische Studierende. Es handelt sich um ein Pilotprojekt, das in dieser Form schweizweit zum ersten Mal durchgeführt wird. Innerhalb eines Jahres sollen die Teilnehmenden das geforderte C1-Niveau in Deutsch erlangen und auf das Leben und Studieren in der Schweiz vorbereitet werden.

Zwei Wände zwischen Schlafzimmer und Strasse

«Es war crazy», erinnert sich Iryna an die Anfänge des Vorbereitungsjahres. Das startet nämlich im August mit einem Sprachintensivkurs. Deutsch von acht Uhr morgens bis mittags um zwölf, dann vier Stunden Tutorium am Nachmittag, und das über einen Zeitraum von vier Wochen. Das geforderte Commitment ist gross, wenn man bedenkt, dass im Sommer 2022 viele Geflüchtete aus der Ukraine noch immer hofften, bald in die Heimat zurückkehren zu können.

Auf Instagram hat Iryna noch immer die Story gespeichert, die sie am Tag vor Kriegsausbruch gepostet hat. Der 23. Februar 2022 ist ein sonniger Tag in Saporischschja. Der Himmel ist wolkenlos blau, auf dem Bild ist eine leere, sonnendurchflutete Strasse zu sehen. Hochhäuser, geparkte Autos. Iryna ist auf dem Heimweg von einem Treffen mit ihrem Schachclub, als sie dieses Bild macht. Am 24. Februar fallen russische Truppen in die Ukraine ein. In der Nacht vom 4. März greift die russische Armee das Atomkraftwerk bei Saporischschja an.

Die Mutter, erzählt Iryna, habe in den Tagen des Kriegsbeginns nicht mehr geschlafen, ständig in der Angst, eine Granate könnte ihre Wohnung treffen. «Es gibt die ‹Regel der zwei Wände›», erklärt Iryna. «Das bedeutet, dass man zwei Wände zwischen dem Schlafzimmer und der Strasse haben muss.» Die Idee dahinter ist, dass die erste Wand die Hauptkraft der Explosion abfängt und die zweite Wand etwaige Splitter auffängt.

Iryna und ihre Familie schlafen darum im Wohnzimmer. Die Nachrichten-Apps vibrieren während 24 Stunden mit immer neuen Pushnachrichten, ukrainische, russische, englische. «Das ist emotional sehr belastend», sagt Iryna. «Als meine Mutter erfuhr, dass Bomben auf das Atomkraftwerk fielen, um vier Uhr morgens, weckte sie meine Schwester und mich sofort auf. Sie sagte: ‹Wir gehen jetzt. Hier ist es zu gefährlich›».

Unter der Projektleitung von Jana Müller kreiert  «UniBE International» im Sommer 2022 innert weniger Wochen darum ein Vorbereitungsjahr für ukrainische Studierende. Es handelt sich um ein Pilotprojekt, das in dieser Form schweizweit zum ersten Mal durchgeführt wird. Innerhalb eines Jahres sollen die Teilnehmenden das geforderte C1-Niveau in Deutsch erlangen und auf das Leben und Studieren in der Schweiz vorbereitet werden.   «Es war crazy», erinnert sich Iryna an die Anfänge des Vorbereitungsjahres. Das startet nämlich im August mit einem Sprachintensivkurs. Deutsch von acht Uhr morgens bis mittags um 12, dann vier Stunden Tutorium am Nachmittag, und das über einen Zeitraum von vier Wochen. Das geforderte Commitment ist gross, wenn man bedenkt, dass im Sommer 2022 viele Geflüchtete aus der Ukraine noch immer hofften, bald in die Heimat zurückkehren zu können.  Auf Instagram hat Iryna noch immer die Story gespeichert, die sie am Tag vor Kriegsausbruch gepostet hat. Der 23. Februar 2022 ist ein sonniger Tag in Saporischschja. Der Himmel ist wolkenlos blau, auf dem Bild ist eine leere, sonnendurchflutete Strasse zu sehen. Hochhäuser, geparkte Autos. Iryna ist auf dem Heimweg von einem Treffen mit ihrem Schachclub, als sie dieses Bild macht. Am 24. Februar fallen russische Truppen in die Ukraine ein. In der Nacht vom 4. März greift die russische Armee das Atomkraftwerk bei Saporischschja an. Die Mutter, erzählt Iryna, habe in den Tagen des Kriegsbeginns nicht mehr geschlafen, ständig in der Angst, eine Granate könnte ihre Wohnung treffen. «Es gibt die ‹Regel der zwei Wände›», erklärt Iryna. «Das bedeutet, dass man zwei Wände zwischen dem Schlafzimmer und der Strasse haben muss.» Die Idee dahinter ist, dass die erste Wand die Hauptkraft der Explosion abfängt und die zweite Wand etwaige Splitter auffängt. Iryna und ihre Familie schlafen darum im Wohnzimmer. Die Nachrichten-Apps vibrieren während 24 Stunden mit immer neuen Pushnachrichten, ukrainische, russische, englische. «Das ist emotional sehr belastend», sagt Iryna. «Als meine Mutter erfuhr, dass Bomben auf das Atomkraftwerk fielen, um vier Uhr morgens, weckte sie meine Schwester und mich sofort auf. Sie sagte: ‹Wir gehen jetzt. Hier ist es zu gefährlich›».   Iryna packt nur das Nötigste. So richtig glauben, dass sie für längere Zeit fliehen müssen, kann niemand. Der Vater fährt die Familie zum Bahnhof, er selber wird nicht mitreisen. Er muss sich um die Grosseltern kümmern. Ausserdem muss doch irgendwer die Katze füttern. Er arbeitet als Spezialist im Bereich des Schutzes von Energieinfrastrukturanlagen. Es ist ein Job, der auf einmal ungemein an Systemrelevanz gewonnen hat in einem Land, das im Zuge des Krieges zunehmend unter Energiemangel leidet.
Mit dem Vorbereitungsjahr wird Iryna auf das Bachelorstudium an der Universität Bern vorbereitet. (Bild: Danielle Liniger)

Iryna packt nur das Nötigste. So richtig glauben, dass sie für längere Zeit fliehen müssen, kann niemand. Der Vater fährt die Familie zum Bahnhof, er selber wird nicht mitreisen. Er muss sich um die Grosseltern kümmern. Ausserdem muss doch irgendwer die Katze füttern. Er arbeitet als Spezialist im Bereich des Schutzes von Energieinfrastrukturanlagen. Es ist ein Job, der auf einmal ungemein an Systemrelevanz gewonnen hat in einem Land, das im Zuge des Krieges zunehmend unter Energiemangel leidet.

Eine weitere Instagram-Story erzählt vom Beginn des neuen Lebens in Bern. Der Abend vielleicht, an dem Iryna zum ersten Mal richtig bewusst wird, dass sie nicht nur für eine kurze Zeit bleiben wird. Das Foto zeigt einen Hund auf einem Feld in der Abendsonne. Er gehört der Gastfamilie in Jegenstorf, bei der Iryna, ihre Mutter und ihre Schwester im Frühsommer 2022 unterkommen. «Es war die perfekteste Familie, die wir uns nur hätten erträumen können», schwärmt Iryna.

Hinter der Iryna, die dieses Bild gemacht hat, liegt eine Odyssee aus Zugfahrten, Bed & Breakfasts, Unterkünften in Militärbunkern und der scheinbar ewigen Suche nach einem neuen Daheim. «Schreib ihre Namen im Artikel auf», sagt Iryna und erwähnt gleich noch einmal, wie «Amazing!» die ganze Familie sei. «Wir lernten sogar die Eltern von Annelies, der Mutter, kennen. Sie feierten unsere Weihnachten mit uns. Sie schenkten mir ein Fahrrad und bringen meiner Mutter Deutsch bei. Really, really amazing!» Annelies ist es auch, die für Iryna alle Informationen über das Vorbereitungsjahr heraussucht und ihr beim Einschreiben an der Uni hilft.

«Wie tickt die Schweiz?», heisst ein Kursblock

Mit dem Vorbereitungsjahr werden die Studierenden auf das Bachelorstudium nach Schweizer Massstab vorbereitet. Der Kern des Jahres sind zwei vierwöchige Deutschintensivkurse im August und Januar und ein wöchentlicher Deutschkurs während des Semesters. Im Herbstsemester kommen Kursblöcke dazu, in denen die Studierenden lernen, wie die Schweizer Politik funktioniert oder wie man recherchiert und Bibliografien erstellt. «Wirkungsvoll und stilsicher präsentieren im Universitätsstudium» heisst ein Kursblock, «Wie tickt die Schweiz?» ein anderer. 

Im zweiten Halbjahr, das am 20. Februar beginnt, können die Studierenden in Seminare und Vorlesungen ihres Wunschfachs hineinschnuppern und an ihnen teilnehmen. Koordinatorin Jana Müller bespricht die Optionen mit den zuständigen Lehrbeauftragten. «Sie freuen sich alle, helfen zu können», sagt sie. «Am Ende des Semesters werden die Studierenden auch eine kleine Prüfung schreiben – die Noten sind nicht relevant, aber wir müssen ihnen eine gewisse Learning Incentive geben.» Abgeschlossen wird das Jahr mit einem Deutschtest. C1 bleibt die Anforderung für ein Studium an der Universität Bern.

Iryna Kamienieva an der Universität Bern
«Bei uns wäre es in der Bibliothek nie so still», sagt Iryna, die dort intensiv Deutsch lernt. (Bild: Danielle Liniger)

«Diese Menschen sind aus einem Kriegsgebiet geflüchtet», gibt Jana Müller zu bedenken. «Da passiert emotional so vieles nebenher, was wir uns gar nicht vorstellen können.» Zu viel Leistung könne man von ihnen deswegen zu Beginn oft nicht erwarten, eine pragmatische Haltung sei gefragt: «Das Vorbereitungsjahr gibt ihnen neue Möglichkeiten und Perspektiven. Und das ist für alle Beteiligten ein gutes Gefühl.»

Das Vorbereitungsjahr soll jungen Geflüchteten helfen, sich in der Schweiz besser zu integrieren. Neben der Sprache lernen sie auch die Kultur kennen und bekommen Unterstützung dabei, sich in ihr zurechtzufinden. An einem solchen Einführungsjahr für Geflüchtete planten Jana Müller und ihre Kollegen schon lange, aber die Umsetzung scheiterte immer an bürokratischen Bedenken. Geldsorgen, Reglemente, Statuten. Aber die Empathie für die vielen Ukrainer und Ukrainerinnen, die im Folge des Kriegs in die Schweiz gekommen sind, ist so gross, dass sich auf einmal Türen öffnen.

 «Warum gibt es ein solches Jahr nicht schon lange?», hält Jana Müller entgegen, wenn sie gefragt wird, was das Vorbereitungsjahr so wichtig macht. «Und zwar nicht nur für Menschen aus der Ukraine, sondern von überall!»

Müller und ihre Kollegen arbeiten darum an einem Nachfolgeprogramm, das im Herbst dieses Jahres startet: Das Projekt «Kompass UniBE» soll geflüchtete Studierende aus aller Welt auf die Hochschulausbildung in der Schweiz vorbereiten. Dazu gehören Sprach-, Mathematik und Methodikkurse, Mentoringangebote, Orientierungsveranstaltungen sowie individuelle Beratung. Am Ende sollen die Studierenden genügend studienrelevante Kompetenzen erlangt haben, um sich für ein Studium an einer Schweizer Universität zu qualifizieren.

Plötzlich liessen sich an der Uni Reglemente ändern

«Es ist den vielen ukrainischen Studierenden zu verdanken, dass wir das Projekt endlich umsetzen können», sagt Müller. «Reglemente lassen sich ändern, das haben wir beim Vorbereitungsjahr gelernt.» Dank Fonds und Spendengeldern konnten die ukrainischen Studierenden kostenlos am Vorbereitungsjahr teilnehmen, Deutschlehrer angestellt, Stellenprozente geschaffen und Kursmaterial besorgt werden. «Die Ängste, die uns immer im Weg standen, haben sich nicht bestätigt», sagt Müller.

Ein grosser Teil der Arbeit am aktuellen Vorbereitungsjahr basiert auf Freiwilligenbasis. Viele Lehrpersonen führen die Kurse zusätzlich zu ihrem bestehenden Pensum durch. Auch Jana Müller und ihre Kolleginnen arbeiten weit über ihre Anstellungsprozente hinaus, zu denen sie angestellt ist. Fonds und Spendengelder sollen die Arbeit von «Kompass UniBE» unterstützen.

Im Gegensatz zum Vorbereitungsjahr wird jedoch «Kompass UniBE» einen Unkostenbeitrag verlangen. «Wer helfen möchte, kann Geld spenden. Damit können die Studierenden mit Transportkosten, Studiengebühren oder Laptops unterstützt werden», sagt Jana Müller. Wer noch studiert, kann auch am Mentoring-Programm teilnehmen und den ausländischen Studierenden im Unialltag zur Seite stehen.

Seit einem halben Jahr lebt Iryna mit ihrer Familie in einer eigenen kleinen Wohnung. Im Herbst wird sie mit dem BWL-Studium in Bern anfangen. «Ich bin der Uni dankbar», sagt Iryna. «Dafür, dass ich andere Leute aus der Ukraine kennenlernen konnte. Das gibt mir ein Gefühl von Community.»

Ein bisschen muss sie sich an den Unialltag hier noch immer gewöhnen: «Bei uns wäre es in der Bibliothek nie so still. Hier arbeiten die Leute richtig!» Sie selbst büffelt in der Bibliothek weiter intensiv Deutsch. Doch die Hoffnung, irgendwann doch in die Ukraine zurückzukehren, hat sie noch nicht aufgegeben. 

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