Wahlen 2024

Eine unnötige Initiative

Die linken Regierungsparteien haben im Wahlkampf Unterschriften gesammelt für einen Mindestlohn in der Stadt Bern. Das Anliegen hätten sie im Parlament umsetzen können, kommentiert Joël Widmer.

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Die SP wollte das Anliegen für einen Mindestlohn in einer breiten Allianz starten. Darum habe man eine Initiative lanciert, sagt Co-Präsidentin Lena Allenspach (rechts aussen). (Bild: Archiv / Danielle Liniger)

Es ist, als würden die regierenden rot-grünen Parteien in der Stadt Bern im Wahlkampf ein wenig Opposition spielen. 

Die Parteien des Regierungsbündnisses Rot-Grün-Mitte (RGM) – SP, Grünes Bündnis und Grüne Freie Liste – reichten am Montag zusammen mit ihren Jungparteien und den Gewerkschaften eine Volksinitiative für eine Mindestlohn ein. Die Initiative verlangt laut Webseite «einen sozialpolitisch begründeten gesetzlichen Mindestlohn von brutto 23.80 Franken pro Stunde für alle Arbeitnehmer*innen, welche ihre Arbeit vollumfänglich oder mehrheitlich auf dem Gebiet der Stadt Bern verrichten».

Das Anliegen mag berechtigt sein. Doch die Initiative ist unnötig. Die Volksinitiative ist ein direktdemokratisches Instrument, das Bürger*innengruppen und Oppositionsparteien die Möglichkeit bietet, ein Anliegen auch ohne Parlamentsmehrheit zur Abstimmung zu bringen. Selbstverständlich steht es auch einem Regierungsbündnis offen, für eine Initiative Unterschriften zu sammeln.

Doch nötig wäre dieser Aufwand nicht. Die Parteien hätten die letzten vier Jahren jederzeit im Stadtrat ein Reglement für einen Mindestlohn beschliessen können, denn sie haben in Regierung und Parlament eine satte Mehrheit der Sitze. 

Mehraufwand für Stadtverwaltung

Die RGM-Parteien haben offenbar bewusst bis zu den Wahlen gewartet. Das Sammeln von Unterschriften für eine Volksinitiative ist eine effektive Mobilisierungsmassnahme. Man tritt so im Wahlkampf auf der Strasse mit Menschen in Kontakt und suggeriert, man brauche ihre Stimme, um politische Anliegen durchzusetzen. 

Was die regierenden Parteien auf der Strasse aber nicht sagen: Sie bescheren der Stadtverwaltung durch das Einreichen der Initiative im Vergleich zu einem parlamentarischen Vorstoss einen Mehraufwand. So durchläuft die Volksinitiative zum Beispiel eine Vorprüfung, und die eingereichten Unterschriften müssen beglaubigt werden. 

Zudem ist mit dem Einreichen einer Initiative schon zum vornherein klar, dass es zu einer Volksabstimmung samt der ganzen Vorbereitung kommt. Die Stadt konnte auf Anfrage keine Aussage zu den durchschnittlichen Verwaltungskosten einer Volksinitiative machen. Die aufgewendeten Ressourcen seien je nach Gegenstand und Art der Initiative sehr unterschiedlich. 

GB-Co-Präsidentin und Gemeindratskandidatin Ursina Anderegg sagt auf Anfrage, man habe eine breite Basis um das Projekt scharen wollen, weil die Einführung von Mindestlöhnen «von Gegner*innen immer politisch und juristisch bekämpft wird». Sie bezweifelt zudem, dass der Aufwand der Stadt grösser sei. Das Bündnis habe mit dem ausformulierten Reglement der Stadtverwaltung quasi Arbeit erspart, da man auf parlamentarischem Weg wohl nur einen Vorschlag zu Handen des Gemeinderats gemacht hätte. 

Laut GFL-Co-Präsidentin Tanja Miljanović werde der RGM-Mehrheit von bürgerlicher Seite oft vorgeworfen, an der Bevölkerung vorbei zu politisieren. Daher habe man hier die Bevölkerung einbezogen. Der Mehraufwand sei gerechtfertigt, weil es sich um einen wegweisenden Grundsatzentscheid handle. 

Initiativkomitee habe Vorarbeit geleistet

Auch SP-Co-Präsidentin Lena Allenspach begründet die Initiative mit dem erwarteten «grossen Widerstand seitens rechter Parteien und Arbeitgeberverbänden». Eine breite Diskussion des Anliegens sei daher zentral. Daher habe man das Anliegen in einer breiten Allianz starten und so die Bevölkerung mitnehmen wollen. Allenspach findet es «fragwürdig ausgerechnet bei der direkten Demokratie ein Preisschild anzuhängen». Zudem habe das Initiativkomitee schon erhebliche Vorarbeit geleistet und auch ein Rechtsgutachten bezahlt. 

Bei all den Erklärungen bleibt unklar, warum die Parteien das offenbar sehr wichtige Anliegen eines gesetzlichen Mindestlohnes in den letzten vier Jahren nicht schon eingeführt haben. Denn: Der Berner Stadtrat kennt das Instrument der parlamentarischen Initiative, bei der – analog zur Volksinitiative – ein ausformuliertes Reglement ohne Umweg über eine Unterschriftensammlung eingereicht werden kann.

Machen wir zum Schluss ein kleines Gedankenexperiment. Nehmen wir an, SVP, FDP und Mitte, welche in Bundesrat, Nationalrat und Ständerat eine satte Mehrheit haben, sammeln vor den nächsten eidgenössischen Wahlen eine Volksinitiative zur Verschärfung des Asylgesetzes.

Wie würden Politiker*innen von SP und Grünen auf dieses fiktive Szenario reagieren? Würden sie von einem Wahlkampf-Bluff und einer populistischen Umgehung der Parlamentsarbeit sprechen? Die Antwort liegt auf der Hand.

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Diskussion

Unsere Etikette
Michael Spahr
29. Oktober 2024 um 20:26

Wird der Mindestlohn angenommen, werden die rechten Parteien und ihre Wirtschaftsverbände das gleiche tun wie in Zürich: sie werden den demokratischen Entscheid vor Gericht anfechten. Umso wichtiger ist es, das Anliegen eines Mindestlohns nicht nur vom Parlament, sondern auch vom Stimmvolk zu legitimieren. Folglich war es völlig richtig, die Initiative für einen Lohn zum Leben in Bern zu lancieren.

Philipp Probst
29. Oktober 2024 um 15:16

Ein Mindestlohn belastet Berner Unternehmen finanziell und kann zu Stellenabbau, Outsourcing und höheren Konsumentenpreisen führen, was die Inflation antreibt. Die stark variierenden Lebenshaltungskosten erschweren zudem einen einheitlichen Mindestlohn, der in ländlichen Gebieten zu hoch und in teuren Städten zu niedrig sein könnte, was den Lohnwettbewerb schwächt. Sozialpartnerschaft und Tarifverhandlungen gelten nicht mehr, Schwarzarbeit wird gefördert. Der Mindestlohn soll Armut lindern, birgt jedoch Nachteile: Viele Niedriglohnjobs sind in nicht-armen Haushalten, und höhere Löhne könnten Stellenabbau verursachen. Eine nachhaltigere Alternative ist der Fokus auf Weiterbildung und Qualifizierung, um Arbeitslosigkeit zu reduzieren und langfristig höhere Löhne zu sichern. In der Schweiz mit niedriger Arbeitslosigkeit könnten Bildung und gezielte Sozialmaßnahmen zur Armutsbekämpfung wirtschaftlich stabiler und sozial nachhaltiger sein als ein Mindestlohn.

Tobias Frehner
29. Oktober 2024 um 08:25

Danke für diesen Text – eine sehr wichtige und richtige Auslegeordnung für diese Initiative. Die rot-grüne Übermacht interessiert sich je länger, je mehr für Symbol- statt für Realpolitik, und das muss bei den Wahlen Folgen haben.