Was darf Heimat sein?
Der Begriff «Heimat» ist historisch belastet. Philosophie-Kolumnist Christian Budnik lotet aus, was Heimat bedeutet und skizziert Zugänge zu einem zeitgenössischen Heimatverständnis.
Im Rahmen der Räumung des ehemaligen Munitionslagers bei Mitholz werden 51 Personen den Ort für mindestens fünfzehn Jahre verlassen müssen. Das ist seit einigen Monaten bekannt. Für 87 weitere Personen ist der Umzug optional.
Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit. Für einen Grossteil derjenigen, die wegziehen müssen, wird der Abschied von Mitholz endgültig sein. Sie werden ihre Heimat verlieren, könnte man auch sagen. Die Ausstellung «Heimat – Auf Spurensuche in Mitholz» im Alpinen Museum rekonstruiert die Geschichte von Mitholz seit der Explosionskatastrophe, die sich in diesen Tagen zum fünfundsiebzigsten Mal jährt.
Ich hatte vor einigen Tagen die Gelegenheit, diese beeindruckende und spannend inszenierte Ausstellung zu sehen. Eine der grossen Stärken der Ausstellung ist, dass sie einem ein sehr unmittelbares Gefühl dafür gibt, was Heimatverlust bedeuten und wie er sich anfühlen kann. Wenn es aber schlimm ist, die eigene Heimat zu verlieren, dann heisst das im Umkehrschluss, dass es wertvoll ist, eine solche Heimat zu haben. Worin aber besteht dieser Wert? Und was ist das überhaupt – Heimat?
Geprägt vom Nationalsozialismus
Für mich persönlich ist es nicht einfach, solchen Fragen nachzugehen. Meine politische Sozialisation hat in Deutschland stattgefunden, in einem Land also, in dem der Begriff der Heimat alles andere als wertneutral ist. Hätte jemand etwa zu der Zeit, als ich studiert habe, in einem beiläufigen Gespräch das Wort «Heimat» verwendet – ich wäre wohl aufgestanden und hätte mich wortlos verabschiedet. Hätte es damals soziale Medien gegeben, wäre ich sofort mit von der Partie gewesen, wenn es darum gegangen wäre, Personen des öffentlichen Lebens, die von ihrer «Heimat» reden, an den digitalen Pranger zu stellen.
Man möge sich die Empörung vorstellen, wenn heute jemand eine frauenfeindliche, homophobe oder rassistische Bemerkung macht – so ungefähr hätte ich mich angesichts der Verwendung des Heimat-Vokabulars empört. Noch heute, da ich ein etwas entspannteres Verhältnis dazu habe, geht mir das Wort «Heimat» nicht locker von den Lippen.
Wenn er überhaupt jemals unschuldig war, hat der Heimatbegriff zwischen 1933 und 1945 diese Unschuld verloren.
Das liegt selbstverständlich am Heimat-Diskurs der Nazi-Zeit. Wenn er überhaupt jemals unschuldig war, hat der Heimatbegriff zwischen 1933 und 1945 diese Unschuld verloren. Er wurde zu einem Kernstück der nationalsozialistischen Ideologie, indem er stellvertretend für das «Reine» und «Urtümliche» der deutschen Volksgemeinschaft zu stehen hatte.
Heimat war auf diese Weise für die Nazis nicht etwa in den von der industriellen Moderne geprägten Grossstädten zu finden. Diese hatten mit ihrer ethnischen Diversität und der Vielfalt der Lebensentwürfe aus der Perspektive der Nazi-Ideologie eher etwas Zersetzendes. Stattdessen wurde Heimat immer in der als ursprünglich und authentisch vorgestellten Natur verortet, in der dörflichen Gemeinschaft, in der überkommene Sitten gepflegt wurden und der «deutsche Charakter» sich ohne den störenden Einfluss «volksfremder Elemente» frei und kräftig entfalten konnte.
Der Begriff der Heimat, sagen wir es in aller Offenheit, war untrennbar verbunden mit der nationalsozialistischen Vorstellung von «Rassenreinheit». Er gab der menschenverachtenden Ideologie lediglich einen pittoresken Anstrich: Wo man nicht explizit von der Vernichtung der Juden sprechen wollte, hat man das Bild einer blonden Bauernfamilie vor trautem Heim evoziert.
Ein Schlagwort der AfD
Man müsste denken, dass diese Heimat-Konzeption mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Abfallhaufen der Geschichte entsorgt wurde. Tatsächlich fand aber lediglich eine Art begriffliches Recycling statt: In den Heimatfilmen der 50er-Jahre etwa lebte die Vorstellung eines naturnahen und traditionsbewussten Lebens in vertrauter Umgebung fort, als hätte es den Holocaust und den Vernichtungskrieg nicht gegeben.
Für viele der «Heimatvertriebenen», die sich 1957 im «Bund der Vertriebenen» organisierten, war «Heimat» nicht nur die Bezeichnung einer Herkunftslandschaft, sondern politisches Programm mit revisionistischem Charakter: Man wollte zurück zu den Verhältnissen vor 1945 – territorial, in vielen Fällen aber auch ideologisch. Es führen also Traditionslinien von der Verwendung des Heimatbegriffs in der Nazi-Zeit bis weit hinein in die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Diese Kontinuitäten sind vielleicht nicht immer geradlinig, aber sie lassen sich sogar bis zur heutigen Zeit nachverfolgen, wo der Begriff der Heimat etwa in den Parteiprogrammen der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) wieder Hochkonjunktur hat.
Was hat das mit der Schweiz zu tun?
Was sollte uns das alles in der Schweiz kümmern, mag man fragen. Ich denke, es gibt mindestens zwei Gründe, weshalb das Nachdenken über Heimat auch in der Schweiz interessant ist.
Zum einen lässt sich auf Folgendes hinweisen: Der Heimatbegriff ist zwar von den Nazis zu ideologischen Zwecken verwendet worden, aber etwas an dem Begriff selbst musste schon dazu angetan sein, dass er auf diese Weise verwendet werden konnte. Es ist kein Zufall, dass die Nazis ausgerechnet Heimatvorstellungen ins Zentrum ihrer Ideologie gestellt haben. Man kann die dem Heimatbegriff innewohnende reaktionäre Grundhaltung auf die Epoche der Romantik zurückführen, und diese politische Einfärbung findet sich überall dort, wo das Wort auch heute noch verwendet wird – also auch bei uns in der (deutschsprachigen) Schweiz.
Eine Reflexion über den Bedeutungsgehalt des Heimatbegriffs kann uns dabei helfen, klarer zu sehen, was an «Heimat» wertvoll ist – und welche Facetten davon problematisch sind. Zu solchen problematischen Aspekten des Heimatbegriffs gehören etwa eine reflexhafte Fremdenfeindlichkeit, eine Aversion gegenüber weltanschaulicher Diversität, die Verklärung von Vergangenheit und Tradition oder die miteinander verbundenen Phänomene der Intellektuellenfeindlichkeit und der Wissenschaftsskepsis.
Der zweite Grund, warum es aufschlussreich sein kann, in der Schweiz über Heimat nachzudenken, hat direkt mit meinen Erfahrungen im Alpinen Museum zu tun. Er stellt gewissermassen die Kehrseite der kritischen Überlegungen dar, die ich bislang angestellt habe. Gerade weil der historische Ballast des Heimatbegriffs in der Schweiz ungleich leichter ausfällt als in Deutschland, lässt sich hierzulande etwas einfacher, etwas weniger verkrampft darüber nachdenken, was an einer Heimat wertvoll ist und wie wir den Heimatbegriff in Zukunft verwenden wollen. Im Anschluss an meinen Ausstellungsbesuch durfte ich mit Betroffenen aus Mitholz darüber diskutieren, was Heimat für sie bedeutet. In diesen persönlichen, zum Teil sehr berührenden Gesprächen ist ein vielschichtiges Bild von Heimat zutage getreten.
Im Vertrauten Heimat finden
Heimat, das ist zunächst ein Ort, eine Landschaft oder eine Region, darin waren wir uns alle einig. Aber schon bei der Frage, ob es zwangsläufig der Ort der eigenen Geburt sein muss, ist keine Eindeutigkeit zu erwarten. Für manche wird das der Fall sein, andere werden ihre Heimat dort verorten, wo sie im Alter von zwei Jahren hingezogen sind oder wo ihre Grosseltern gelebt haben. Gleichzeitig geht es bei einer Heimat aber nicht nur und nicht immer um etwas mit räumlichem Charakter. Von zentraler Bedeutung scheinen die Menschen zu sein, die einem auf eine spezifische Weise vertraut sind – die eigene Familie, vielleicht auch der Bäcker, bei dem man Brot zu kaufen pflegte oder die Ärztin, die man als Kind aufgesucht hat. Sobald man den Begriff der Heimat auf diese Weise über die räumliche Bestimmung hinaus öffnet, wird sehr schnell deutlich, dass es sehr spezielle und vor allem sehr individuelle Aspekte sind, die Personen als Elemente ihrer Heimat betrachten können.
Der Geschmack einer Gerstensuppe kann Heimat sein, genauso wie die Lichtstimmung in einer Küche, der Jingle einer Radiosendung am Sonntagvormittag oder der Geruch, der einen Marronistand umgibt. In dem Gespräch mit den aus Mitholz stammenden Personen ist mir klar geworden, wie spezifisch die Bausteine sind, aus denen sich eine Heimat zusammensetzen kann. Sie sind allerdings nicht nur spezifisch, sondern auch subjektiv. Ich selbst habe mich plötzlich daran erinnert, wie viel Heimatgefühl für mich in kaputten Trottoirs steckt. Nun sind kaputte Trottoirs nichts, das wir als objektiv wertvoll betrachten würden: Es wäre besser, wenn es keine kaputten Trottoirs auf der Welt geben würde. Und dennoch vermisse ich sie auf eine bestimmte Weise. Etwas rührt mich an der Erinnerung daran, wie sich bei Regenwetter riesige Pfützenseen gebildet haben, in denen ich spielen konnte.
Gerade wenn man sie nicht nur im Sinne eines Geburtsortes versteht, ist Heimat etwas, das man suchen und finden kann.
Aus den Gesprächen im Alpinen Museum ist noch eine weitere Erkenntnis gewachsen. Die von der Evakuation betroffenen Personen haben die Trauer über den Verlust von Heimat zum Ausdruck gebracht, aber sie haben auch betont, dass sie sich nicht als Opfer verstehen. Und sie blicken mit Optimismus in die Zukunft.
Heimat ist eben nicht nur das, was man verliert oder verloren hat. Gerade wenn man sie nicht nur im Sinne eines Geburtsortes versteht, ist Heimat etwas, das man suchen und finden kann. Und wenn gilt, dass die Heimat, die man verloren hat, in einem bestimmten Sinne immer die eigene Heimat bleibt, kann man schliessen, dass manche von uns auch zwei, drei oder mehr Heimaten haben werden. Der Plural mag an dieser Stelle ungewohnt sein, er ist aber nicht unangebracht, wenn man sich von der Vorstellung trennt, dass Heimat zwangsläufig etwas mit Herkunft zu tun hat.
Ein offener Gegenentwurf
Mit diesen Reflexionen möchte ich keinesfalls für die Entpolitisierung des Heimatbegriffs plädieren. In vielen Kontexten wird das kaum möglich sein. Ich denke aber, dass wir dem reaktionären Heimatbegriff, mit dem ich mich einen Grossteil meines Lebens geplagt habe, eine alternative Heimatkonzeption entgegensetzen können: Einen liberalen, in mancherlei Hinsicht aber auch kosmopolitischen Heimatbegriff, der etwas mit individueller Vertrautheit zu tun hat, aber frei von der Vorstellung ist, dass bestimmte Orte und Gegenden vor fremden Einflüssen geschützt werden müssten.
Einen Heimatbegriff, zu dem die Idee gehört, dass man an verschiedenen Orten verwurzelt sein kann, auch wenn manche Personen nur an einem einzigen Ort zuhause sind. Einen Heimatbegriff, der mit verschiedenen Lebensentwürfen – von der Natur umgeben oder mitten in der Stadt, im traditionellen Familienverbund oder als queere Single-Person lebend – kompatibel ist und der Authentizität nicht im falschen Traditionsbewusstsein sucht. Einen Heimatbegriff schliesslich, der es uns erlaubt, davon zu sprechen, dass wir, ein Musikstück hörend oder eine Gerstensuppe kochend, unsere Heimat in eine neue Umgebung mitnehmen oder mit Personen teilen können, mit denen wir nie persönlich zu tun hatten.
Kritiker*innen werden einwenden, dass der Heimatbegriff seinen ganzen Witz verliert, wenn man ihn auf diese Weise offen interpretiert. Das glaube ich nicht: Er wird vielleicht nur einen etwas anderen Witz haben – einen, der möglicherweise besser zu der Welt passt, in der wir leben.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.