Inklusion

«Willst du eine Umarmung oder lieber nicht?»

Meine Freundin Stella ist autistisch. Begrüssungsrituale fallen ihr schwer. Damit sie dennoch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, hat sie sich eine «Maske» antrainiert.

Stella fotografiert am 22.03.2023 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Stella erzählt, was es bedeutet, auf dem Autismusspektrum zu sein. (Bild: Simon Boschi)

«Willst du eine Umarmung oder lieber nicht?» Diese Frage stelle ich meiner Freundin Stella jedes Mal, wenn wir uns treffen. Denn obwohl ich alle meine Freund*innen zur Begrüssung umarme, tue ich das bei Stella nicht immer. Begrüssungsrituale und der damit verbundene Körperkontakt fallen ihr an manchen Tagen schwer. So zeigt sich ein Teil von Stellas Autismus.

«Die Pandemie war in dieser Hinsicht ein Glücksfall», erzählt Stella. Für eine gewisse Zeit wurde es ganz normal, nachzufragen, mit welcher Begrüssungsform man sich wohlfühlt.

Themenschwerpunkt Inklusion

Was brauchen Menschen mit Behinderungen, damit sie gleichberechtigt am Arbeits- und Sozialleben teilhaben können? Was können wir alle zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen und was sind die Herausforderungen dabei? Diesen Fragen widmet sich die «Hauptstadt» in einem Schwerpunkt zu Inklusion

Wir schreiben unter anderem über selbstbestimmtes Wohnen mit Assistenz und die entsprechende Gesetzeslage im Kanton Bern und sprechen mit einer Person im Autismus-Spektrum über Begrüssungsrituale und die Deutung von Gesichtsausdrücken. Nach dem Grundsatz «Nichts über uns ohne uns» arbeiten Journalist*innen mit und ohne Behinderungen an diesem Schwerpunkt mit. Längerfristig planen wir auch zu anderen Themen Texte aus der Perspektive von Journalist*innen mit Behinderungen zu publizieren.

Aber nicht nur Körperkontakt fällt Stella manchmal schwer. Auch Augenkontakt zu halten, ist für sie unangenehm. Stella braucht mehr Zeit für das Einordnen von Gesichtsausdrücken. «Für mich ist es nicht intuitiv, sondern eher ein analytisches Zusammensetzen von einzelnen Gesichtspartien.»

Der Filter

Autismus wird oft als Entwicklungsstörung beschrieben. Stella stimmt dem jedoch nicht zu: «Mir fällt das Verarbeiten von Informationen und Wahrnehmungen nicht generell schwerer. Meine weniger ausgeprägte Filterfunktion führt aber dazu, dass ich mehr Informationen zu verarbeiten habe als nicht autistische Menschen.» Auch darum treffen Stella und ich uns im Park für das Gespräch. Hier ist neben ein paar Menschen, die mit ihren Hunden Gassi gehen, niemand. Wir sitzen an einem Tisch auf einer Bank, links von uns ein paar Bäume, rechts eine grosse grüne Wiese. «Ein Interview in einem Restaurant zu führen, wäre zu stressig für mich.» Zu viele Eindrücke, Geräusche und Gerüche, um sich auf das Gespräch konzentrieren zu können.

Stella fotografiert am 22.03.2023 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Ein Park ist für Stella geeigneter als ein Restaurant zum Interview. Sonst gibt es zu viele Eindrücke. (Bild: Simon Boschi)

In der Schweiz geht die Stiftung Autismus von rund einem Prozent der Bevölkerung aus, die auf dem Autismusspektrum sind. Es wird aber angenommen, dass die Zahl eigentlich höher ist. Denn Autismus wurde – wie so vieles in der Medizin – jahrelang nur an Männern erforscht. Somit ergaben sich Kriterien zur Diagnosestellung, die auf andere Personen, wie etwa weiblich sozialisierte Menschen, nicht direkt übertragen werden können.

So wurde auch Stella erst spät, mit 16 Jahren, diagnostiziert.

Die Maske

Autismus hat viele Gesichter. Nicht zuletzt deshalb wird seit einigen Jahren von einem Spektrum gesprochen. Es gibt Menschen, die nonverbal sind, sich also nur mit Hlife einer Sprachassistenz mitteilen – und es gibt Menschen wie Stella, bei denen einem nicht auf den ersten Blick auffällt, dass sie auf dem Spektrum sind. «Ich komme im Alltag ziemlich gut zurecht, doch auch dort brauche ich manchmal Unterstützung.» Zum Beispiel beim Erledigen von wichtigen Telefonaten oder beim Einkaufen in der Innenstadt. «Ich habe mittlerweile gelernt, wo meine Grenzen liegen und wo ich auf Unterstützung angewiesen bin. Doch es gibt immer noch sehr viele Situationen, in denen ich mein Verhalten stark anpasse.» In Gesprächen etwa, versuche sie, Augenkontakt zu halten – auch wenn sie sich dadurch weniger auf das Gesagte fokussieren kann.

Stella fotografiert am 22.03.2023 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Augenkontakt zu halten bedeutet für Stella, dass sie sich weniger auf das Gespräch fokussieren kann. (Bild: Simon Boschi)

Diese Fähigkeiten, die Stella erlernt hat und mithilfe derer sie ihr Verhalten anpasst, bezeichnen Autist*innen als Maske. «Ohne Maske würde ich zum Beispiel oft als unhöflich wahrgenommen werden.» Etwa, wenn sie zur Begrüssung einen Händedruck verweigern würde. Oder eine Umarmung – weil sie es gerade nicht möchte.

Bei der Lehrstellensuche war das ein Hindernis. Sie fand monatelang keine Ausbildungsstelle, weil sie an den Schnuppertagen in neuen Betrieben unhöflich und desinteressiert wirkte. In einem Betrieb wurde sie nach ein paar Stunden wieder nach Hause geschickt, weil der Chef meinte, sie wolle gar nicht dort sein. «Dabei war ich stark überfordert und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Das führte dazu, dass meine Maske bröckelte und ich einige Stunden gar nicht mehr sprechen konnte.»

Die Vorbereitung

Damit die Maske möglichst intakt bleibt, hat Stella einige Strategien entwickelt. Vor jedem Treffen mit ihren Freund*innen und Bekannten etwa überlegt sich Stella einen Fragekatalog. Trifft sie zum Beispiel mich, denkt sie daran, was wir bei unserem letzten Treffen besprochen haben. «Dann überlege ich mir, wozu es wohl Neuigkeiten gibt, und denke mir Themen und Fragen aus, die ich dazu stellen werde.»

Stella fotografiert am 22.03.2023 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Jedes Mal bevor Stella und ich uns treffen, überlegt sie sich Fragen, die sie mir stellen möchte. (Bild: Simon Boschi)

Trifft Stella hingegen auf neue Menschen, geht das nicht. «Dafür greife ich auf einige Eröffnungsfragen zurück, die ich mir antrainiert habe.» Eine davon ist etwa die typisch schweizerische Nachfrage, was denn eine Person arbeitet. Mittlerweile, so hat Stella erfahren müssen, wird diese Frage in gewissen Kreisen aber nicht mehr gern gehört. «Einige Menschen haben komisch darauf reagiert, was ich zuerst nicht einordnen konnte», so Stella. Dann habe ihr eine Freundin erklärt, dass sich einige nicht gerne auf ihre Arbeit reduziert sehen, und darum lieber gefragt werden, was sie denn zum Beispiel in ihrer Freizeit tun. Für Stella war das im ersten Moment nicht intuitiv verständlich.

Durch ihre Strategien – mit ihrer Maske – kommt Stella im Alltag gut klar. Das heisst überspitzt, man merkt ihr den Autismus oft nicht an. Für Stella bedeutet das aber auch, dass ihr der Autismus abgesprochen wird. «Viele Menschen reagieren erstaunt, wenn ich sage, dass ich Autistin bin. Sie vergleichen mich mit anderen autistischen Personen und finden, ich entspreche diesem Bild nicht.»

Der Stereotyp

Dieses Bild sieht so aus, beschreibt Stella: «Autist*innen werden meistens als Nerds dargestellt – am häufigsten weisse Männer, die sich nur für Züge, Roboter und Mathematik interessieren.» So wie etwa Sheldon Cooper in der Serie «The Big Bang Theory».

Figuren wie diese wirken überfordert von sozialen Interaktionen, empfinden keine Empathie, und sind meistens auch uninteressiert an tieferen Beziehungen und Gefühlen. Sie werden auf ihre Intelligenz oder fotografischen Supergedächtnisse reduziert.

Stella fotografiert am 22.03.2023 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Seit einiger Zeit setzt sich Stella bewusster mit ihrem Autismus auseinander – auch um ihre Maske schrittweise abzulegen. (Bild: Simon Boschi)

Solche Darstellungen kritisiert Stella. Es komme ihr so vor, als schwinge da auch immer eine gewisse Wertung mit. Nach diesem Bild gelten Autist*innen als schwache Mitglieder einer Gesellschaft. «Mit einer speziellen Begabung, wie etwa einer hohen Intelligenz, zählen wir doch etwas, weil wir der Gesellschaft etwas nützen.»

Die Anstrengung

Die Maske, die Überwindung, gewisse Handlungen doch einzugehen, etwa zur Begrüssung, die Vorbereitung und das Ausdenken von Fragen: Die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bedeutet für Stella auch immer eine Anstrengung. Es passiert darum ab und zu, dass Stella Treffen mit mir oder anderen Freund*innen absagen muss. «Manchmal reichen meine sozialen Batterien einfach nicht aus.»

Dass sie das aber ausspricht, und Treffen deswegen absagt, ist eher neu. «Seit einiger Zeit setze ich mich ganz anders mit meinem Autismus auseinander.» Sie möchte versuchen, ihre Maske schrittweise abzulegen – und sich so zu akzeptieren, wie sie ist. Dazu gehört auch, dass sie mir zum Beispiel sagt, dass sie nicht umarmt werden möchte. Und: Dass ich sie vorher frage.

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Diskussion

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Denise Alvarez
04. April 2023 um 12:17

Vielen Dank Carole und Stella für diesen Einblick.Er bringt klar vor Augen, wie eine Mehrheit bestimmt, was als "normal" gelten soll. Kürzlich ging ich mit einer jungen Frau essen, die auf dem autistischen Spektrum über der Mitte liegt. Wir hatten eine angeregte Diskussion und sie sagte mir, dass sie, wie vom Arzt empfohlen übe, den Menschen beim Reden in die Augen zu schauen. Nach dem Essen nahm ich den Bus und sah sie auf dem Trottoir zu Fuss nach Hause gehen, mit weit vorgebeugtem Körper. Es berührte mich tief, zu sehen, wie sehr sie diese Übung angestrengt hatte. Mich ihr anzupassen würde mich weit weniger kosten. Denn auch ich kann lernen, ohne direkt angeschaut zu werden ein gutes Gespräch zu führen, ohne den mir mangelnden Augenkontakt weiss nicht wie zu interpretieren.