«Wir sind nicht die Feuerlöscher für den Lehrpersonenmangel»
Höhere Löhne oder ein flexibles Studium an der Pädagogischen Hochschule können den akuten Lehrer*innenmangel nicht beheben. Doch es gibt Ansätze für längerfristige Lösungen.
Noch knapp zwei Wochen – dann beginnen die grossen Ferien. Und mehrere Tausend Berner Kinder wissen noch nicht, wer sie im neuen Schuljahr unterrichten wird. Es gibt zu wenig Lehrer*innen für die offenen Stellen. Kurzfristig werden wohl einzelne Stunden ausfallen, Klassen zusammengelegt werden oder eine Klasse wird sich von Stellvertretung zu Stellvertretung hangeln.
Müssten die Lehrer*innen bloss ihre Pensen erhöhen, um das Problem zu beheben, wie es FDP-Ständerat Ruedi Noser in der NZZ gefordert hat? Sollten mehr Quereinsteiger*innen angestellt werden, wie es die Berner Bildungsdirektorin Christine Häsler in BZ/Bund angetönt hat? Sollten die Studierenden gar das Studium unterbrechen, wie das die Pädagogische Hochschule Zürich in einem Brief vorschlägt? Unzählige Ideen sind in den letzten Wochen aufgeblitzt, gegen die meisten wehren sich die Lehrer*innen.
Welche Lösungsansätze funktionieren über eine längere Zeit?
«Mit ungelernten Lehrpersonen kann auch viel kaputt gemacht werden.»
Manuel C. Widmer, Lehrer und Grossrat
Manuel C. Widmer ist seit 25 Jahren Primarschullehrer, er unterrichtet im Tscharnergut. Er sei immer noch gern Lehrer, wie er sagt. Und trotzdem schaut er die aktuellen Entwicklungen des Berufs – und die politischen Antworten darauf – kritisch an. Der administrative Aufwand habe in den letzten 25 Jahren massiv zugenommen, die Klassen seien grösser, die Wertschätzung des Berufsstands geringer geworden. All das spitze sich mit dem aktuellen Lehrkräftemangel noch zu.
Trotzdem ist er dagegen, dass ungelernte Lehrkräfte in Schulen eingesetzt werden. «So kann auch viel kaputt gemacht werden», sagt er. Und meint damit, dass Kinder die Lust an der Schule verlieren könnten oder Lehrkräfte ausbrennen, die zusätzlich zu den Kindern auch noch Ungelernte betreuen müssten.
Manuel C. Widmer, der für die Grüne Freie Liste aktuell den Berner Stadtrat präsidiert und im März neu in den Grossen Rat gewählt wurde, sucht in seiner Rolle als Politiker auch das Gespräch mit der Pädagogischen Hochschule (PH). Sie mache zwar viel, könnte seiner Meinung nach aber flexibler werden, was die Arbeitstätigkeit ihrer Studierenden angeht.
Gut 250 Personen beenden Jahr für Jahr die PH mit einem Bachelor für die Primarstufe. Die Studierendenzahlen nehmen seit Jahren zu. Und trotzdem: Stand jetzt sind über 200 unbefristete und befristete Stellen (auf Primar- und Sekundarstufe) im Kanton Bern offen. Die Baby-Boomer werden pensioniert, die Schüler*innenzahlen steigen. Es bräuchte also fast einen PH-Jahrgang mehr, um den Lehrer*innenmangel kurzfristig zu beheben.
Und so hat Irene Guidon in den letzten Tagen und Wochen immer wieder Anrufe von verzweifelten Schulleiter*innen bekommen. «Haben Sie mir nicht doch noch eine Studentin?», fragten sie.
«Aber wenn wir nicht mehr haben, haben wir nicht mehr, da schon sehr viele Studierende am Unterrichten sind – in unterschiedlich grossen Pensen, von der PH begleitet oder unbegleitet», sagt Irene Guidon. Sie ist Leiterin des Studiengangs Studienbegleitender Berufseinstieg (SBBE), den die PH Bern seit 2019 anbietet. Das letzte Ausbildungsjahr wird in zwei Jahren absolviert, ergänzt von einem 40 bis 50 Prozent-Pensum an einer Schule und einem Mentoratsprogramm. Im bevorstehenden Schuljahr werden 34 Studierende im Rahmen des SBBE an diversen Schulorten unterrichten.
Klingt nach ganz schön wenig. «Es ist wenig», sagt Guidon. Und relativiert gleich: «Wir bieten dieses Studienmodell erst seit drei Jahren an, damals starteten wir mit 17 Studierenden.» Die Tendenz sei also zunehmend. Im Frühling, als der Lehrpersonenmangel längst absehbar gewesen sei, habe das Institut Primarstufe allen Studierenden eine Mail geschrieben und sie erneut auf den SBBE aufmerksam gemacht. Der Rücklauf sei sehr klein gewesen. «Viele Studierende befürchten wohl, dass der Studiengang aufwändiger sei als das normale Bachelor-Studium», mutmasst Irene Guidon. Jedoch würden Rückmeldungen von Absolvent*innen das Gegenteil zeigen.
«Der SBBE ist nicht der Feuerlöscher für den Lehrkräftemangel», macht Irene Guidon klar. Das gehe im übrigen auch gar nicht auf. «Unser Studienmodell sorgt nicht dafür, dass es mehr angehende Lehrer*innen gibt», sagt sie. Es würden lediglich einige etwas früher, aber mit einem kleineren Pensum einsteigen. Aber sie ist überzeugt: «Der SBBE kann indirekt zur Entschärfung des Lehrpersonenmangels beitragen.» Denn der Berufseinstieg sei happig. Das langfristige Wohlbefinden hänge davon ab. «Der Studiengang ist ein durchdachter Berufseinstieg, der dafür sorgt, dass mittelfristig mehr Leute im Job bleiben.»
Zwei Jahrgänge haben bisher abgeschlossen, viele der Abgänger*innen sind an ihren Schulen geblieben und haben dort das Pensum aufgestockt. «Das ist quasi wie ein Jackpot für die Schulen», sagt Guidon.
Was das neue Studiengangsmodell SBBE leistet, ist ein sanfterer Einstieg, damit die Lehrer*innen länger im Beruf bleiben. Die jungen Lehrer*innen werden zwar auch ins kalte Wasser geworfen, aber mit einer Schwimmhilfe. Auch Manuel C. Widmer ortet hier ein grosses Potential. «Das ist der richtige Weg.»
«Man muss das Problem ganzheitlich ansehen, es geht um gute Arbeitsbedingungen.»
Daniel Bichsel, Gemeindepräsident Zollikofen und Grossrat
Grundsätzlich müsse aber auch die Politik handeln, finden sowohl Widmer wie Guidon. Der Lehrpersonenmangel werde von ganz verschiedenen Faktoren beeinflusst. Einige davon hätten mit frühzeitigem Handeln teils abgeschwächt werden können, findet Guidon. Als Grossrat will sich auch Widmer für eine nachhaltige Bildungspolitik einsetzen. Denn naturgemäss hinke die Politik den tatsächlichen Entwicklungen um mehrere Jahre nach. So wurde beispielsweise in der letzten Session des Grossen Rats ein Postulat überwiesen, das mehr Schulassistent*innen an Berner Schulen ermöglicht und so die Klassenlehrer*innen entlastet. Eine Lösung für ein Problem, das seit Jahren besteht.
Daniel Bichsel, Gemeindepräsident von Zollikofen, SVP-Grossrat und Finanzpolitiker, sieht in solchen Massnahmen die Lösung. «Man muss das Problem ganzheitlich ansehen», sagt er, «es geht um gute Arbeitsbedingungen». Da spielten nicht nur monetäre Einflüsse eine Rolle, sondern ganz viele weiche Faktoren wie Standort, Schulräume, Kollegium. «Wir müssen bei den Ausgaben verhältnismässig bleiben», findet er und fragt rhetorisch: «Wie viel Halbklassenunterricht wollen wir? Wie weit wollen wir gehen mit dem integrativen Unterricht?»
Vielleicht liegt genau hier das Hauptproblem: Als Konzept auf dem Papier sind Ansätze wie integrativer Unterricht durchaus überzeugend. Doch gibt es einen Lehrkräftemangel wie im Moment und können Stellen nicht besetzt werden, werden die verbleibenden Lehrer*innen damit noch mehr belastet.
Da hilft auch ein höherer Lohn, wie er oft gefordert wird, nicht weiter. Tatsächlich rangiert der Lohn laut einer aktuellen Umfrage von Bildung Bern im Nachgang zur Pandemie nur an fünfter Stelle. Vielmehr wünschen sich die Lehrer*innen kleinere Klassen, Entlastung der Klassenlehrpersonen, Team-Teaching und genügend Speziallehrkräfte bei der integrativen Beschulung.
Also das genaue Gegenteil von dem, was nach den Sommerferien an vielen Schulen droht.