Wittigkofen am Wendepunkt

50 Jahre nach der Eröffnung des ersten Wohnturms gibt es einen Generationenwechsel. Zu Besuch bei Wittigkoferinnen aus drei Generationen.

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Grün auf grau: Regula Buchli auf ihrem Balkon. (Bild: Marco Frauchiger)

Es ist vielleicht einer der spannendsten städtebaulichen Gegensätze Berns: Vorne thront das mondäne Schloss Wittigkofen, eingebettet in Wiesen und Felder – und im Hintergrund stehen die mächtigen, scharfkantigen Türme des Wittigkofen Quartiers. Vor 50 Jahren ist dort an der Jupiterstrasse das erste Gebäude eröffnet worden. Es ist die einzige grosse Wohnbausiedlung im Berner Osten und eine der jüngsten Hochhaussiedlungen Berns.

Marco Frauchiger
Türmli und Turm: An den Rändern des Wittigkofen-Quartiers prallen Welten aufeinander. (Bild: © Marco Frauchiger)

Wie geht es den Menschen dort heute? Und vor allem: Wohin wird sich das Quartier entwickeln?  Die «Hauptstadt» hat drei Generationen von Bewohner*innen getroffen, mit einem Architekten und Liegenschaftsverwaltungen gesprochen.

Auf einer Bank versammelt sitzen drei Generationen Wittigkofen: Ruth Buchli, ihre Tochter Regula Buchli und die Enkeltochter Julia Hostettler. Ruth Buchli hat schon 45 Sommer an der Jupiterstrasse im Wittigkofen-Quartier erlebt. So lange wohnt sie dort mit ihrem Mann. Dabei war es keine Liebe auf den ersten Blick: «Als ich den Rohbau sah, dachte ich mir: ‘Hierhin wirst du niemals ziehen’.»

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Drei Frauen und drei Generationen Wittigkofen versammelt. (Bild: Marco Frauchiger)

Bis heute schätzt Buchli die vielen Grünflächen in ihrem Quartier, und sie ist froh, dass das Quartier autofrei ist. «350 Bäume säumen das Areal», schwärmt sie. Andere Vorzüge sind schnell benannt: Die gute Tramverbindung in die Innenstadt, relativ grosse, erschwingliche Wohnungen, die rollstuhlgängig sind, und eine diverse Quartierbevölkerung. Ein relativ hoher Teil davon besitzt eine Eigentumswohnung.

Generationenwechsel im Quartierverein?

Als Ruth Buchli und ihr Mann 1977 den Wohnungsschlüssel in die Hand gedrückt bekamen, war einiges im Quartier noch Provisorium. Eingekauft wurde in einer Art Zeltstadt, einen richtigen Detailhändler gab es noch nicht. Seitdem hat sich viel geändert, die Migros zog her, es gibt einen Denner, eine Apotheke, einen Coiffeur, ein Restaurant. Und das reformierte Gemeinschaftszentrum. Dort trifft sich auch der Quartierverein, in dessen Vorstand Ruth Buchli sitzt.

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Ein Stockwerk pro Woche: Für ein vierundzwanzigstöckiges Wohnhaus brauchten die Bauarbeiter demnach rund ein halbes Jahr. (Bild: ETH-Bildarchiv)

Buchli erzählt, wie schwierig es sei, Nachfolger*innen für den Quartierverein zu finden. Die Generation der Erstbewohner*innen ist grösstenteils über 70 Jahre alt und hat das Quartierleben getragen und strukturiert. «Jetzt müsste es eine andere Form geben, um möglichst viele Menschen einzubeziehen», sagt Regula Buchli. Die Tochter von Ruth ist im Wittigkofen-Quartier aufgewachsen und später wieder dorthin zurückgezogen. Viele Quartierbewohner*innen würden sich punktuell engagieren, aber für feste Vereinsstrukturen fehle ihnen die Zeit. 

«Das ist auch bei mir so», sagt Regula Buchli und richtet sich dann an ihre Tochter Julia, um sie zu fragen, wie sich das ändern liesse. Julia Hostettler studiert soziale Arbeit und absolviert gerade ein Praktikum im Quartierzentrum. Sie erlebe, dass Menschen auf rein freiwilliger Basis heute schwer für Quartierarbeit zu motivieren seien. Oft brauche es kleine finanzielle Anreize oder Weiterbildungsmöglichkeiten. 

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«Tarzan, roter Adler, Gumpi» – Julia Hostettler erinnert sich noch sehr lebendig an die verschiedenen Spielplätze ihrer Kindheit im Wittigkofen. (Bild: Marco Frauchiger)

Das Quartierzentrum Wittigkofen ist ein Würfel mit vielen Glasflächen, der ziemlich genau in der Quartiermitte steht. Seit dem Anfang ist dort die reformierte Kirche präsent mit einem Treffpunkt. In der Zwischenzeit hat sie allerdings aus Kostengründen mehrere Räumlichkeiten an die Ecole cantonale de langue française (ECLF) vermietet. 

Ein Zentrum in der Schwebe

Und bald wird ein weiterer Verlust zu beklagen sein. Mitte Juli schliesst die Migros-Filiale. Eine Sanierung wäre nötig geworden, doch die Kosten dafür stünden «nicht im wirtschaftlichen Verhältnis zum Nutzen für die Kundschaft», heisst es in einer Mitteilung der Migros, in der gleichzeitig daran erinnert wird, das noch eine Denner-Filiale am Platz ist und andere Filialen der Kette in einem Kilometer Distanz zu erreichen seien. Vor allem Ältere und Menschen mit Einschränkungen aus dem Quartier sind nicht zufrieden mit dem Entscheid – sie müssen jetzt weitere und verkehrsreichere Wege in Kauf nehmen.In welcher Form braucht es heute überhaupt noch ein Quartierzentrum? Der Forscher und Architekturhistoriker Dieter Schnell ist ein Kenner der Grosswohnsiedlungen in Bern. Er erinnert daran, dass die Einrichtung eines Quartierzentrums der Idee der 1960er und 70er Jahre zugrunde liegt. Möglichst viel sozialer Austausch soll direkt am Wohnort erfolgen. «Es sollte ein Dorfplatz entstehen – im Fall des Tscharnerguts hat man ihn sogar so genannt», sagt Schnell.

Bern 22.2.2023 - Prof. Dr. Dieter Schnell, Dozent f¸r Architekturgeschichte und Denkmalpflege an der Berner Fachhochschule im Quartierzentrum Tscharnergut. Das Tscharnergut ist eine in den Jahren 1958 bis 1965 errichtete Gross¸berbauung, bestehend aus Reihenh‰usern, Mehrfamilienh‰usern, Punkt- und Scheibenhochh‰usern. Als grˆsstes Wohnbauprojekt der Schweiz am Ende der 1950er Jahre fand der Bau internationale Beachtung. © Annette Boutellier
Ist auch ein profunder Kenner des Tscharnerguts: Dieter Schnell. (Bild: Annette Boutellier)
Das Wittigkofenquartier in Kürze

Wäre es nach den Planern in den 1960er Jahren gegangen, sähe die Überbauung des Wittigkofenquartiers heute weitaus grösser aus: Wohnraum für über 20’000 Menschen, ein Hotel mit 800 Betten, ein Kongresszentrum und ein Schwimmbad waren vorgesehen. Als es in den 1970er Jahren dann aber an die Umsetzung ging, machte die eingetrübte wirtschaftliche Lage nach dem Ölpreis-Schock dem Ganzen einen Strich durch die Rechnung. Wirklich gebaut wurde nur das Saali-Quartier, in dem in 1250 Wohnungen Platz für rund 3000 Menschen ist. Am Samstag und Sonntag (24. und 25. Juni 2023) feiert  Wittigkofen das 50-jährige Bestehen mit einem Quartierfest (Quellen: Abteilung Stadtentwicklung der Stadt Bern, Überbauungsgesellschaft Murifeld-Wittigkofen, «Dr Jupi»)

Spätestens im 21. Jahrhundert wandelten sich die Gewohnheiten der Menschen aber. Sie seien viel mobiler und und auch bereit, für ihre Freizeitaktivitäten weiter zu reisen. 

Schnell sieht in Wittigkofen – aber auch in anderen Quartieren ähnlicher Grösse – dass die Struktur mit einem Quartierzentrum inmitten der Türme den Austausch mit Auswärtigen zumindest nicht fördere.

Sanierung: Zweites Leben oder Aufschub?

Zurück bei Regula Buchli, 50 Jahre nach Fertigstellung der Gebäude. Sie führt durch ihre helle Fünfeinhalb-Zimmer-Wohnung im 9. Stock. Vom Balkon aus sind die Voralpen zu erkennen. Buchlis Wohnung ist teilweise saniert worden, an die Innenarchitektur und den Standard der 1970er Jahre erinnert kaum etwas. Blickt man auf die gesamte Siedlung, zeichnet sich dagegen ein ganz unterschiedliches Bild und ein kleiner Geburtsfehler. Denn die Überbauung ist zwar gesamthaft geplant worden, aber die umfassende Sanierung und Weiterentwicklung aller Gebäude werden durch die Besitzverhältnisse erschwert. Im Wittigkofen-Quartier liegt der Anteil der Stockwerkeigentümer*innen mit 30 Prozent (Stand: 2000) im Vergleich mit anderen Grosssiedlungen relativ hoch. Und je mehr Parteien über anstehende Renovationen mitbestimmen können, desto komplizierter wird es – vor allem wenn auch Renditekriterien eine Rolle spielen.

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Die verschiedenen Skulpturen im Quartier können entlang eines Kulturwegs besucht werden. (Bild: Marco Frauchiger)

Es gibt zwar die übergeordnete Überbauungsgenossenschaft Murifeld-Wittigkofen, diese kümmert sich jedoch nur um den Unterhalt der Grünanlagen und die Energieversorgung. Wenn es um bauliche Veränderungen geht, entscheiden die Liegenschaftsverwaltungen beziehungsweise die Besitzer*innen. Aus ökologischer Sicht müssten in den 1970er-Jahre-Bauten vor allem die Dämmung und Isolierung sowie die Türen und Fenster verbessert werden, sagt Experte Schnell. Dass sich diese Investitionen lohnen können, verrät ein Blick auf die Lebensdauer der Türme. Die kann laut Schnell durchaus 100 Jahre betragen. Wittigkofen habe zudem den Vorteil, dass es recht flexibel und wertig gebaut worden sei. So könnten nachträglich Grundrisse und damit Wohnungsgrössen verändert werden. Das sei beispielsweise im Tscharnergut nur sehr begrenzt möglich. 

Ob eine Wohnung saniert ist oder nicht, hängt schlicht davon ab, wem sie gehört. Die Wohnbaugenossenschaft Murifeld Bern zum Beispiel hat bereits vor über zehn Jahren mit der Totalsanierung begonnen und diese unterdessen abgeschlossen. «Wir haben zum Beispiel Dächer und Fassaden erneuert, Fenster ersetzt und die Nasszellen ausgetauscht», sagt Urs Waber, Präsident der Wohnbaugenossenschaft. Dadurch seien Energieeinsparungen von zehn bis zwanzig Prozent möglich gewesen. Die Domänenverwaltung der Burgergemeinde lässt mitteilen, dass alle Liegenschaften in ihrem Besitz entweder in den letzten Jahren schon saniert worden seien oder dies bald anstünde. 

Architekturhistoriker Schnell erklärt die schwierige Ausgangslage bei solchen Vorhaben in Grossüberbauungen: Weil viele Menschen in Wittigkofen auf erschwinglichen Wohnraum angewiesen seien, könnten Renovationen, bei denen die Kosten direkt an die Mieter*innen weitergegeben würden, kontraproduktiv sein. Die Gefahr bestehe, dass die Menschen ihre Wohnungen verlassen und andernorts günstigere suchten.

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Französisch, Kurdisch, Libanesisch: Julia Hostettler findet die verschiedenen Sprachen im Wittigkofenquartier seit jeher spannend. (Bild: Marco Frauchiger)

Die Sanierungen sind eine Herausforderung des Quartiers. Experten wie Schnell regen ausserdem dazu an, in Zukunft die Grundstruktur von Wittigkofen zu überdenken. Denn lege man moderne Massstäbe des verdichteten Bauens an, falle das Quartier im Osten schlichtweg durch. Für eine wirkliche Weiterentwicklung, die mehr Wohnraum für mehr Menschen zum Ziel habe, müsste das Quartier mit umliegenden Bereichen baulich vernetzt werden. «Vom Inseldenken des 20. Jahrhunderts muss man sich verabschieden», sagt Schnell. 

Wie dicht ist dicht genug?

Ein Anstoss zu solch fundamentalen Änderungen könnte das Grossprojekt «Bern-Ost» sein. Bis 2045 soll laut Plänen von Stadt, Kanton und Bund die Autobahn A6 ab dem Anschluss Muri in einen Tunnel verlegt werden. Es ist die Autobahn, die das Quartier bisher von der übrigen Stadt abschneidet. Der freiwerdende Raum könnte neu genutzt werden.

Ob nach der Bau-Euphorie in den 1960er Jahren in den kommenden Jahrzehnten ein weiterer Veränderungsschub das Wittigkofen-Quartier erfasst, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Sicher ist, dass Wittigkofen durch seine bunt gemischte Bevölkerung, die unterschiedlichen Besitzverhältnisse und die architektonischen Kontraste zu einem der spannendsten urbanen Räume gehört, die Bern zu bieten hat. Und sicher ist auch, dass das Quartier an diesem Wochenende zunächst sein 50-jähriges Bestehen feiern wird. Ruth und Regula Buchli und Julia Hostettler sagen einhellig: «Eine solche Feier braucht es unbedingt.» Ein Fest für den Zusammenhalt, aber auch mit Aussenwirkung.

Ob gewollt oder nicht: Die Festgemeinde wird auf ihre Art «nach innen verdichten»: Zwischen den Türmen warten Karussells darauf, von Kindern gefahren zu werden. Es gibt ein Ballon-Wettfliegen, Slackline-Workshops, Flohmärkte und Schminkateliers.

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Diskussion

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Hanspeter Zaugg
24. Juni 2023 um 10:08

Danke für den aufschlussreichen Text.

so geht "Hauptstadt"