Aufstieg oder Freiheit?

Der FC Breitenrain, Kultverein aus dem Stadtberner Nordquartier, spielt um den Aufstieg in die zweithöchste Schweizer Fussballliga. Es wäre eine Geschichte mit Seltenheitswert im modernen Fussball, würde aber im und um den Club vieles auf den Kopf stellen. Ein Besuch auf dem Spitz.

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Ein bisschen wie Ferien, nur günstiger: Fussball-Volkskultur mit dem FC Breitenrain. (Bild: Danielle Liniger)

«Ich komme gleich. Ich muss das», Nadja Kehrli-Feldmann deutet mit dem Kopf auf das Bierfass in ihren Händen, «zum anderen Stand bringen». Es ist ein sonniger Frühlingssamstag auf dem Spitalacker, der Heimstätte des FC Breitenrain (FCB). Noch zehn Minuten bis zum Anpfiff des Spiels. Vor den Getränkeständen bilden sich lange Schlangen, die ehemalige SP-Stadträtin muss für Nachschub sorgen.

«Alles fing an, als mein Ehemann 2011 zum FC Breitenrain wechselte», erzählt Kehrli-Feldmann über ihre Leidenschaft für den Club. Mittlerweile ist ihr Mann Nicolas Kehrli, der vor seiner Zeit beim FC Breitenrain unter anderem für die Young Boys gespielt hat, Leiter der Junior*innenabteilung und des Buvettenbetriebs. An Spieltagen spanne er die ganze Familie ein, sagt die zweifache Mutter. Ein erstes Beispiel, wie der Club funktioniert: über Identifikation und Freiwilligenarbeit.

«Nadja, oder?»

Zwei bis drei Meter grosse Holzlatten trennen den Spitz, wie der Sportplatz liebevoll genannt wird, von der Strasse, rund um das Spielfeld ragen die Wohnblöcke des Breitenrainquartiers in die Höhe. Einzig die Lichtmasten und die beachtlichen Zäune hinter den Toren erwecken den Eindruck eines kleinen Stadions. Unter der Woche dient das Feld als Pausenplatz für die Schule, die gleich um die Ecke liegt.

Doch am Samstag laufen die Grossen auf. An den Spielen der ersten Mannschaft treffen sich Jung und Alt aus dem Quartier. Man kennt und grüsst sich, hält immer wieder für einen kurzen Schwatz an: «Nadja, oder?», fragt ein Mann, als er Kehrli-Feldmann sieht. Die Szenerie wirkt auf Aussenstehende wie bei einem Dorfclub – nur spielt dieser Dorfclub mitten in einem der gefragtesten Wohnquartiere der Stadt Bern, das politisch zugleich eine rot-grüne Hochburg ist.

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Dient unter der Woche als Pausenplatz der Schule: Der Spitalacker, das Stadion des FC Breitenrain. (Bild: Danielle Liniger)

Die Partie hat begonnen. Das erste Männer-Team des FCB trifft auf die U21 von YB. Die Begegnung wird als Derby bezeichnet, doch von Rivalität ist nichts zu spüren. Die Clubs und Fans sind eng verbunden.

Das Duell zieht die Massen an, zumindest in FCB-Dimensionen. Diesmal sind es rund 2000 Zuschauer*innen – Rekord in dieser Saison. An drei Seiten des Platzes steht das Publikum. Auf den Holzwänden sitzen junge Männer, die wohl ins Stadion geklettert sind.

Bier und Gelato

Es gibt keine Sitzschalen wie in modernen Stadien. Sitzgelegenheit bieten einzig die langen Bänke auf der alten, überdachten Holztribüne, dem Prunkstück des Stadions. Sie säumt die Seitenlinie vis à vis der Trainerbänke. Und erinnert an die Zeit, als Geld im Fussball noch eine untergeordnete Rolle spielte.

«Hier kann man der Illusion nachhängen, dass es etwas anderes gibt.»

Nick Lüthi, Medienjournalist, FC-Breitenrain-Fan

Ein Image, mit dem sich die Anhänger*innen und der Verein identifizieren. Der Fussball auf dem Spitz wird zelebriert wie früher, obwohl das Quartier rund um den Sportplatz in den letzten Jahrzehnten einen grossen Wandel durchgemacht hat – wie der Profifussball.

«Der FC Breitenrain ist Fussballkultur, wie ich sie mit YB im Neufeld erlebte», sagt Nick Lüthi, Journalist und Redaktor der Medienwoche, der nicht weit vom Spitz wohnt und seit neun Jahren regelmässig die Heimspiele des FC Breitenrain besucht. «Ich genoss damals, dass es mehr war, als nur das Spiel zu schauen. Es gab keine Sektoren, man sah Freund*innen und Bekannte», meint Lüthi, der mit Kollegen an einem Tisch am Spielfeldrand steht und ein Bier in der Hand hält.

Nach ein paar Jahren im Stadion Wankdorf, in dem es wieder Absperrungen zwischen den Sektoren gibt, «vollzog ich meinen Transfer zum FC Breitenrain», sagt der Medienjournalist und lacht. An den Breitenrain-Spielen schätzt er die Nähe zum Feld und die Freiheiten, die bei YB verloren gingen.

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Es gibt immer genug Bier auf dem Spitz, aber auch: Länggass-Tee und Glacé aus der Gelateria di Berna. (Bild: Danielle Liniger)

Auf dem Spitz scheint die Zeit stehen geblieben: Es ist ein familiäres und vertrautes Umfeld. «Hier kann man der Illusion nachhängen, dass es etwas anderes gibt», meint Lüthi, etwas anderes als der «moderne Fussball in Stadien mit Mantelnutzung». In Zeiten, in denen es im Männerfussball um immer grössere Beträge für Clubs und Spieler geht, bietet der Spitz einen Rückzugsort für nostalgische Fussballfans.

Für Kinder sei der Spitz wie ein grosses Laufgitter, erklärt Kehrli-Feldmann. Als ihre Kinder noch klein waren, rannten sie während den Spielen im Stadion umher: «Irgendjemand schaute schon zu ihnen», und sie habe ein Bier mit Freund*innen geniessen können.

Subtil hat der Wandel im Quartier allerdings auch auf dem Spitz Einzug gehalten. Das kulinarische Angebot beinhaltet nicht nur Pommes, Bier und Bratwurst, sondern auch Länggass-Tee und Glacé aus der Gelateria di Berna. 

Plötzlich fällt ein Tor, der FC Breitenrain erzielt das 1:0. Ein kurzes «Jaaa» geht durch das Stadion, ehe die Gespräche fortgesetzt werden. Einmal mehr scheint alles für den FCB zu laufen.

«Budgetmässig im unteren Drittel»

«Der Erfolg in dieser Saison ist einzigartig, wohl einmalig, und er zieht Menschen an», sagt der Präsident des Clubs, Claudio A. Engeloch, der seit seiner Kindheit im Quartier lebt und das Lokalblatt «Anzeiger für das Nordquartier» herausgibt. Drei Tage nach dem Spiel sitzt er auf der Holztribüne und blickt auf den Kunstrasen, auf dem ein Angestellter der Stadt Bern mit einem Fahrzeug Granulat verteilt. «Für einige ist es halt zum Sehen und Gesehenwerden geworden», sagt er.

Kein Wunder, Geschichten, wie der FC Breitenrain zurzeit eine schreibt, sind im Fussball selten geworden. Das muss man miterleben. Der FCB ist ein finanzielles Fliegengewicht, das sich seit Jahren in der dritthöchsten Liga, der Promotion League, hält. Und aktuell gar an der Tür zur Challenge League, der zweithöchsten Liga, anklopft. Der ungeschlagene FC Breitenrain führt die Tabelle an.

Der FCB zählt zu den halbprofessionellen Teams der Liga. «Unsere Spieler verdienen nach einem austarierten Schema zwischen 500 und 1500 Franken monatlich. Sie üben alle einen Hauptberuf aus, der Fussball ist ihr zeitintensives Hobby», erklärt Engeloch. Gegen 750'000 Franken beträgt das Jahresbudget für die erste Mannschaft: Darin enthalten sind die Löhne, Reisen an Auswärtsspiele, Verpflegung, Platzmieten, Spesen für die Schiedsrichter*innen, Versicherungen und anderes. «Wir gehören damit zum unteren Drittel der Promotion League.»

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Den Breitsch im Blut: Claudio A. Engeloch, Präsident des FC Breitenrain. (Bild: Danielle Liniger)

Die engste Verfolgerin aus Bellinzona sowie der FC Rapperswil-Jona sind professionell aufgestellt, ebenso die Nachwuchsteams der Spitzenvereine wie YB. Sie legen die Gehälter jedoch nicht offen. Einzelne Fussballer können auf dieser Stufe wohl vom Sport leben, andere sind in der Ausbildung oder haben einen Nebenjob. Das macht einen grossen Unterschied. Der FC Breitenrain hat vier Trainings pro Woche, professionelle Teams trainieren teilweise täglich morgens und abends.

Beim FC Breitenrain spielen keine bekannten Namen. «Das Team ist der Star», «elf Freunde müsst ihr sein» und «jeder geht für jeden» – bekannte Floskeln aus dem Fussball, aber auf den FCB treffen sie zu, hier führen sie zum Erfolg. Der Aufstieg wäre ein Wunder – würde aber im und rund um den Verein vieles auf den Kopf stellen.

«Hopp Breitenrain», schreit ein Mann neben Nick Lüthi. Umstehende antworten mit einem «Hu!». Den grössten Teil der Anhänger*innen des FCB machen Verwandte und Bekannte der Spieler, eingefleischte Fans wie Lüthi und Kehrli-Feldmann sowie die Junior*innen aus.

«Wir distanzieren uns klar vom Kommerz.»

Claudio A. Engeloch, Präsident FC Breitenrain

550 Kinder, mehrheitlich aus dem Quartier, spielen im Nachwuchs und bewundern die Spieler der ersten Mannschaft, die oft Funktionen im Verein übernehmen. Mittelfeldspieler Andri Rüegsegger amtet als Geschäftsführer, Captain Marco Hurter ist Finanzchef, Aussenverteidiger Loris Lüthi kümmert sich um die Sozialen Medien. Identifikation und Freiwilligenarbeit.

Doch auch der FC Breitenrain profitiert vom modernen Fussball. Zwölf der 25 Spieler aus dem Kader haben für Nachwuchsteams der Young Boys gekickt. «Wir distanzieren uns klar vom Kommerz», sagt Präsident Engeloch. Aber auch der FC Breitenrain sei auf Geld angewiesen, «auch hier regiert letztlich das Monetäre». Allerdings werde das nicht an die grosse Glocke gehängt.

Grössere Beträge und Aufgaben würden auch mit dem allfälligen Aufstieg in die Challenge League auf den Club zukommen. Vor einem Monat hat der Vorstand den Lizenzantrag bei der Swiss Football League (SFL) eingereicht. Dass der FC Breitenrain die Spiele der zweithöchsten Liga auf dem Spitz austragen würde, ist jedoch unmöglich. Acht von zehn SFL-Bedingungen für den Aufstieg seien vorderhand nicht erfüllt, erklärt Engeloch.

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Der Schreck steht den Fans ins Gesicht geschrieben: Wegen des Gegentors – oder des drohenden Aufstiegs? (Bild: Danielle Liniger)

Bei einigen Vorgaben gebe es Verhandlungsspielraum. Eine moderne Flutlichtanlage, die essenziell ist für die Fernsehproduktionen, fehlt aber. Und es sei «absolut unrealistisch», die dafür nötige Infrastruktur bis zum Beginn der nächsten Saison aufzubauen. Auch weil sich «garantiert» einzelne Anwohner*innen querstellen würden, und die Stadt «auch keine grosse Hilfe» sei, sagt Engeloch.

«Man müsste wohl umziehen»

Auf dem Platz schiesst die U21 von YB den Ausgleichstreffer. Die Anhänger*innen des FC Breitenrain lassen sich davon nicht beeindrucken. Sie geniessen ihr Gelato, das Bier und die Sonne. «Man müsste wohl umziehen», meint Kehrli-Feldmann nach einer kurzen Pause. Aber wohin?

Das Stadion im Neufeld erfüllt die Anforderungen nicht mehr. Das Wankdorf ist noch nicht vom Tisch, aber eigentlich ausgelastet. Im Fokus der Verhandlungen steht der Sportpark Wyler. Nicht mehr mitten im Quartier, sondern neben dem Wylerbad, auf der anderen Seite der Bahngleise.

1:2, die U21 von YB geht in Führung. Der Stimmung auf dem Spitz tut das keinen Abbruch. Mit einem Umzug würden Freiheiten und Besonderheiten, die Nadja Kehrli-Feldmann und Nick Lüthi auf dem Spitz und an dem Verein schätzen, verloren gehen. «Es wäre nicht mehr das Gleiche», sagt Kehrli-Feldmann.

Die Spieler und der Trainerstab hätten den Aufstieg verdient, da sind sich alle einig. Lüthi und Kehrli-Feldmann zweifeln aber am Nutzen des Abenteuers, auch ihres Wohlbefindens wegen. Anders als Kehrli-Feldmann würde es Lüthi überhaupt nicht auf den «modernen» Wyler ziehen, weil es ihm beim Fussballschauen nicht nur um den Sport gehe – «ausser vielleicht für die Spitzenspiele», meint er.

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Abschied vom Spitz? Unvorstellbar – FC Breitenrain for ever. (Bild: Danielle Liniger)

«Wenn der Aufstieg möglich wäre, würden wir alles daransetzen, den Spielern und dem Staff den Traum zu erfüllen», sagt Präsident Engeloch zum Dilemma, das sich abzeichnet. «Dies hat mit Wertschätzung gegenüber der ersten Mannschaft und ihren Leistungen zu tun.»

Die U21 von YB fügt dem FCB die erste Saisonniederlage zu. Der Weg zum Aufstieg ist noch lang. Fünf Runden stehen für den FC Breitenrain noch auf dem Liga-Programm, ehe die 16 Teams in drei Gruppen aufgeteilt werden. Die besten sechs der Qualifikation spielen je einmal gegeneinander. Sie nehmen die Punkte, Tore, Gegentore, Gelben und Roten Karten in die Endrunden mit. Die beste Mannschaft steigt direkt auf.

Der Vorsprung des FCB auf die zweitplatzierte AC Bellinzona betrug schon zehn Punkte, mittlerweile sind es noch zwei. Einige Anhänger*innen des Quartiervereins scheint das nicht zu stören. Im Gegenteil. Das Fest auf dem Spitz geht trotz Niederlage weiter. Nach dem Abpfiff spielen Chlyklass und Oli Kehrli auf der Bühne im Stadion. Sie könnten die Vorbands sein auf der Abschiedstournee des FC Breitenrain vom Spitz.

Ein Abschied, den sich die wenigsten wünschen.

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Das ganze Leben: Heimspiel-Alltag auf der Holztribüne des FC Breitenrain. (Bild: Danielle Liniger)
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