Das «Megafon» diversifiziert
Mehr Kultur, weniger Twitter: Das «Megafon», die Zeitung aus der Reitschule, erscheint ab nächster Woche mit einer eigenständigen Kulturbeilage, gemacht vom Berner Kulturblog «KSB». Damit will die linksalternative Zeitschrift noch mehr Abonnent*innen gewinnen.
Der Tisch im Innenhof der Reitschule ist überstellt mit Gläsern, Tassen und einem halbvollen Aschenbecher. Das passt zum Bild, das das «Megafon» abgeben will. Nicht ganz aufgeräumt, nicht ganz fertig, aber voller Leben und immer im Wandel.
An diesen Tisch setzt sich nun Reto Riggs, Mitglied des rund 18-köpfigen Kollektivs, das die Zeitung herausgibt. Neben ihm sitzt Alice Galizia, Kulturjournalistin und Teil des Teams des kleinen Berner Kulturblogs «KSB». Die beiden sind Botschafter*innen der Kunde, dass sich das «Megafon» einmal mehr wandelt.
Ein nostalgischer Papierwunsch
Wenn in diesen Tagen das monatliche Heft in Handarbeit verpackt und verschickt wird, hat es statt acht Seiten deren zwölf. In der Mitte liegt neu das «KSB Kulturmagazin» bei,in der ersten Ausgabe etwa mit einer Analyse zur Rolle von klassischer Musik in autoritären Regimen und einer Ess-Kolumne.
«So wird unsere Zeitung noch umfassender», sagt Reto Riggs, der beim «Megafon» seit ein paar Jahren als Gestalter und Illustrator tätig ist. «Wir hegen diesen nostalgischen Papierwunsch schon länger», sagt Alice Galizia, «doch alleine hätten wir das niemals stemmen können.»
Ab der Mai-Ausgabe erhalten die Leser*innen der Zeitung also mehr, obwohl der Preis dafür gleich bleibt. Was sich die beiden Medien von dieser Zusammenarbeit, die keine Fusion sei, erhoffen: Mehr Abos und mehr Beachtung. Der «KSB»-Blog, der sich vor ein paar Jahren von der Zeitung «Der Bund» unabhängig machte, nachdem Autorin Jessica Jurassica einen unkonventionellen Brief an Verleger Pietro Supino als Blog-Beitrag veröffentlicht hatte, hat laut Galizia etwa 30 bis 50 freiwillige Unterstützer*innen. Beim «Megafon» sind es laut Riggs über 1000 Abonnent*innen. Mehr als 200 sind im Verlauf des letzten Jahres dazu gekommen. Als Reto Riggs vor wenigen Jahren zum Kollektiv stiess, waren es erst «um die 500».
Das «Megafon» wächst – und es hat gerade bewegende Monate hinter sich.
Affäre um Hinrichtung
Zuerst war da letzten Sommer die Affäre um ein missglücktes satirisches Bild auf Twitter. Das Megafon hatte dort ein dreiteiliges Meme veröffentlicht, wovon eines eine Hinrichtungsszene aus der Französischen Revolution zeigte, bei der der abgetrennte Kopf durch den einer Tamedia-Journalistin ersetzt worden war. Kurz darauf entschuldigte sich die Zeitung, bei der alle ehrenamtlich arbeiten, für das Bild. Doch der grosse Medienkonzern reichte Strafanzeige ein wegen «öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen oder zu Gewalttätigkeit». Im Januar stellte die Staatsanwaltschaft Bern das Verfahren ein: Die Strafanzeige von Tamedia habe die «dem Meme beigefügten Textstellen, welche den satirischen Grundton unterstreichen, vollumfänglich» ausgeblendet. Kleine Notiz am Rande: Da es sich bei der Anzeige um ein Offizialdelikt handelt, das der Staat verfolgen muss, trägt auch er die Kosten des Strafverfahrens – und nicht Tamedia.
Das sich Anlegen mit der Tamedia-Chefetage verbindet die beiden Medien also.
Auf Twitter publizierte Recherchen
Für das «Megafon»-Kollektiv ist das aber schon fast ein alter Hut. Denn in der Zwischenzeit wurde das Kollektiv vom Branchenmagazin «Schweizer Journalist:in» zur Chefredaktion des Jahres gewählt. Dazu beigetragen hat sicher diese «David gegen Goliath»-Geschichte. Aber nicht nur: Durch seine auf Twitter publizierten breiten Social-Media-Recherchen im Umfeld von Corona-Leugner*innen und diesbezüglichen Demonstrationen ist das «Megafon» im vergangenen Jahr oft in anderen Schweizer Medien zitiert worden. So hat es unter anderem auf Twitter ein Bild von Bundesrat Ueli Maurer im Hemd der Freiheitstrychler publiziert oder die Verbindung der Besitzer*innen einer von der Polizei geschlossenen Beiz in Zermatt zur QAnon-Szene offengelegt.
«Diese Auszeichnung war mehr eine Reflexion des Schweizer Medienplatzes», sagt Reto Riggs jetzt achselzuckend, «wir haben ja nicht einmal eine Chefredaktion». Das Kollektiv habe die Auszeichnung wahr- und entgegengenommen. An der Ausrichtung und der Vorgehensweise des Mediums habe sich dadurch absolut nichts geändert. Man konzentriere sich auf anwaltschaftlichen Journalismus, auf Themen wie Ungerechtigkeiten im Migrations- und Asylbereich, Sexismus, Rassismus.
Wobei: Auf dem Twitter-Account, der massgeblich zu dieser gesteigerten Wahrnehmung des «Megafons» geführt hat, ist es seit einem Monat auffällig still geworden. Da werden keine investigativen Recherchen mehr vorgenommen, es gibt lediglich noch Retweets.
«Den Twitter-Account betrieb eine kleine Subgruppe», sagt Reto Riggs. «Wir arbeiten immer an dem, wofür wir gerade Energie haben, momentan ist das vor allem unsere Print-Zeitung.» Das mag auch daran liegen, dass nach fast zwei Jahren Pandemie, Homeoffice und Virtual Life wieder andere Themen als Corona-Massnahmen-Gegner*innen wichtig wurden. Allerdings hat eine Person massgeblich zu dieser Twitter-Betätigung beigetragen. Basil Schöni, der sich im März auf Twitter vom «Megafon» verabschiedet hat, um neue Projekte zu verfolgen.
Vertrauen in den Print
Das «Megafon» erfindet sich also neu und geht mehr Richtung Kultur. Solche Veränderungen gehören beim «Megafon» dazu. Die Zeitung prägen die, die dort sind und mitarbeiten. Die letzten grossen Wechsel der seit 1987 bestehenden Zeitung gab es 2014, als das «Megafon» nach halbjähriger Pause in neuem Format und mit vielfältigeren Inhalten erschien, und 2019, als die Social-Media-Auftritte dazu kamen.
Spannend an der aktuellen Neuerung ist das Vertrauen der beiden Medien in den Print, von dem sich doch die Grossen der Branche immer mehr verabschieden. Und spannend ist auch das Tempo, das «Megafon» und «KSB» dabei vorlegen. Während der Verein «Berner Kulturagenda (BKA)» seit Jahren damit hadert, dass für seine dem «Anzeiger Region Bern» beigelegte Kulturagenda eine andere Lösung gesucht werden muss, machen die kleinen Wilden auf der linken Seite einfach mal – die Idee dazu hatten sie erst im letzten Oktober.
Die Zeitung aus der Reitschule und der Kulturblog sind vielleicht nicht ganz aufgeräumt und auch nicht ganz fertig, aber voller Leben und immer im Wandel.