Bergen von Erden – wo der Fluss entspringt

Unsere Literatur-Kolumnistin bricht auf ins Quellgebiet der Aare. Und fragt sich, was sein wird, wenn die Gletscher verschwinden.

HS_AareKolumne
(Bild: Silja Elsener)

Auf dem Weg zur Fähre nimmst du meine Hand. Ich steige vom Steg in die Fähre, spüre unter meinen Füssen den Grund. Ich bin hier sicher. Ich kenne die Ufer, die Bäume, den Kiesweg, den Fluss. Es ist ungewöhnlich, dass du es bist, der meinen Blick sucht. Und ich es bin, die ihn erwidert. 

Die Fährfrau stösst mit ihrem Ruder auf den Grund. Sie sagt: Der ganze Schnee ist schon geschmolzen. Das Wasser, auf dem wir jetzt treiben, ist Eiswasser vom Gletscher. Deshalb ist der Wasserstand so niedrig. Das darf man sich gar nicht so genau vorstellen.  

Ich will dorthin, wo der Fluss entspringt. Und wissen, wie das aussieht, wenn sein Körper schmilzt. Am Telefon sagt der Hüttenwart: «Gletscherzunge», «Schwemmland». Und das sei eine Welt für sich. 

Das Postauto fährt nach Grimsel Hospitz. Im Krachen gibt es keinen Schnee. So ist es erst seit letztem Jahr. Jetzt tauen die Berge auf. Aus dem Berg bricht frischer Stein. Der frische Stein ist weiss.

Im Gletschervorfeld stehen Sträucher am Weg, Blüten in allen Tönen gelb und rot. Sie heissen Reichästiger Enzian, Heidenkraut, Moor-Birke. Der Wind riecht nach Meer. Er zieht durch die Sträucher, meine Ohren, mein Gesicht.

Weil der Gletscher sich zurückzieht, bricht der Berg. Von Stein zu Schotter zu Sand. Die Schotterwüste führt ins Tal. Der See mündet in eine mit Eiswasser gefüllte Spur. Dass sie schon Gletscher ist, erfahre ich später vom Hüttenwart. Sie wird von Schotter bedeckt, geht in den Berg über wie eine Haut. Hier wird der Gletscher auseinandergerissen. Die Spur ist eine Wunde im Eis.

Die Leere verführt mich und verwirrt. Sie ist laut und fordernd wie der Wind. Ich weiss, dass ich jetzt etwas Tiefes fühlen sollte, aber ich kann nicht. Ich stehe in dieser Landschaft ohne Referenz.

Die Aare tritt aus dem Berg, fliesst von hinter zwei auseinandergezogenen Steinen über einen bemoosten Felsen ins Tal. Sie schneidet den Stein in Scheiben, berührt ihn wieder und wieder, überzieht ihn mit rotem Rost. 

Zwei Vögel fallen ins Tal. Es fühlt sich seltsam an, dass einer singt.

Als ich die Hütte erreiche, sagt der Hüttenwart: Alle Gletscher auf dieser Höhe werden bis Ende des Jahrhunderts vollständig verschwunden sein. Wenn man sieht, wie schnell es jetzt schon geht. Vor vierzig Jahren reichte der Gletscher noch bis zum See und füllte das ganze Tal. Jetzt zerreisst es ihn.

Die Aare wird ihre Wasserzufuhr verlieren. Entweder es wird stark regnen, dann wird sie voll sein, vielleicht überschwemmen, oder es wird keinen Niederschlag geben, dann wird sie weniger Wasser haben, vielleicht im Sommer vollständig austrocknen.

Ich lege mich in die Hütte zwischen eine Alpinwanderin und ein junges Paar, das verspätet mit dem Hund eintraf. Im neuen Band meine*r Lieblingsdichter*in lese ich: 

Waren die Meilen, die du gereist bist, ein fairer Handel?

Hast du dem Boden gegeben, was du ihm nahmst? 

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Was lässt sich bergen von Erden?

Welche lebende Materie wird mit dir gehen? 

(Rike Scheffler, Lava. Rituale / 2023) 

Am Ufer der Aare höre ich den Regen auf jedem Blatt. Und wie ein zweiter Regen die Krähen, die die Blätter streifen. Kann ich etwas davon bergen? Kann ich bergen, was ich (nicht) beschreiben kann?

Ich setze mich in den kleinen Wald neben dem Ufer, höre zu.

Selma Imhof
Aarekolumne
hauptstadt.be
Zur Person

Selma Imhof (27) lebt und schreibt in Bern. Aktuell arbeitet sie an ihrem literarischen Debut «Wasser, Taube», das von Stadt und Kanton Bern gefördert wird. Für die «Hauptstadt» schreibt sie einmal im Monat eine literarische Kolumne zur Aare.

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Diskussion

Unsere Etikette
Maja Balmer
20. März 2024 um 07:43

Danke für diesen wundervollen Text! Meine Heimat und die ganze Welt verweben sich. Schön für mich, dass viele junge Leute wiederentdecken, dass ALLES zusammenhängt und eben - verwoben ist.

Ich freue mich darauf, mehr von Selma Imhof zu lesen.