Schweizer Familie
Der Kanton Bern stimmt über eine Elternzeit ab. Widerstand ist selbstverständlich, wie immer bei Familienpolitik in der Schweiz. Warum ist hier utopisch, was in Europa normal ist?
Das wäre schön, denken sich wohl viele zur Vorlage. Aber utopisch.
Eine kantonale Initiative der SP fordert 24 Wochen bezahlte Elternzeit im Kanton Bern, zusätzlich zum eidgenössischen Mutter- und Vaterschaftsurlaub. Von den 24 sollen je sechs Wochen für jeden Elternteil reserviert sein. Den Rest sollen beide frei unter sich aufteilen können. Parlament und Regierung lehnen die Initiative ab. Prognosen zur Abstimmung gibt es keine – aber einfach wird es am 18. Juni nicht für die Befürworter*innen.
Alle Bestrebungen, in der Schweiz eine Elternzeit einzuführen, sind bisher krachend gescheitert. Zuletzt im Kanton Zürich. Dort wurde vor einem Jahr eine kantonale Initiative mit fast 65 Prozent Nein-Stimmen versenkt. Nationale Vorstösse waren bis jetzt erfolglos.
Der Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen, 2020 per Volksabstimmung eingeführt, war familienpolitisch die Schweizer Sternstunde der letzten Jahre.
Wenn Eltern vom Gebären nach Hause kommen, wartet möglicherweise neben einem Säugling, einem Haushalt und einer postpartalen Depression auch noch ein Zweijähriger auf Aufmerksamkeit. Bis vor drei Jahren fand man in der Schweiz, dass es in so einer Situation die Väter nicht länger als zwei Tage braucht. Heute findet man, dass sie in den ersten zwei Lebenswochen ihrer Babies nützlich sind.
Wie weit weg von ihren Neugeborenen die Väter in der Schweiz gesehen werden, zeigt auch eine Gesetzeslücke, die gerade geschlossen werden soll. Wenn derzeit die Mutter eines Neugeborenen stirbt, geht ihr Mutterschaftsurlaub nicht auf den Vater über. Der muss normal weiterarbeiten. Mit einem zweiwöchigen Halbwaisen und einer toten Partnerin. Künftig sollen die hinterbliebenen Väter 14 Wochen nicht arbeiten müssen. Die Referendumsfrist läuft noch.
Das ist das Level, auf dem die Schweiz diskutiert. 24 Wochen zusätzliche Elternzeit klingt da tatsächlich utopisch.
Als die Eidgenössische Kommission für Familienfragen im Februar eine nationale 38-Wochen-Elternzeit forderte, äusserten auch linke Kreise Bedenken – das sei realpolitisch nicht umsetzbar und vielen «zu extrem», sagte etwa die Grüne Nationalrätin Florence Brenzikofer.
Die andere Nachbarschaft
Nur: Im europäischen Vergleich ist die Vorlage nicht utopisch oder extrem, sondern sehr normal.
- Deutschland kennt 14 Monate Elternzeit. Mindestens zwei davon müssen pro Elternteil bezogen werden.
- In Frankreich haben Mütter 42 und Väter 28 Wochen zugute.
- Österreichische Eltern haben ein Anrecht auf «Elternkarenz» bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr des Kindes. Sie können sich dabei abwechseln und zwischen verschiedenen Längen wählen. Ausserdem besteht in grösseren Betrieben bis zum Schuleintritt der Kinder ein Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung.
- In Finnland erhält jeder Elternteil 160 bezahlte Tage, davon können 63 dem anderen Elternteil überlassen werden. Das sind insgesamt 14 Monate Elternzeit.
- In Spanien steht beiden Elternteilen fix 16 Wochen zu, mit einem Lohnersatz von 100 Prozent. Die Zeit kann nicht frei untereinander aufgeteilt werden.
Der Deutsche «Spiegel» bezeichnet die Schweiz als eines der familienfeindlichsten Länder Europas: Zu wenige und zu teure Kitas, gemeinsame Besteuerung von Ehepaaren, kaum Elternzeit.
Weshalb ist die Schweiz derart konservativ, wenn es um Familienpolitik geht?
Privatsache
Meret Lütolf ist auf Gleichstellungs- und Vereinbarkeitspolitik spezialisiert. Sie forscht an der Universität Bern zu Elternzeit im internationalen Vergleich.
Die Politikwissenschaftlerin betont vor allem eines: «Familie ist in der Schweiz Privatsache.»
Um zu veranschaulichen, wie tief das bei uns sitze, holt sie im 19. Jahrhundert aus: 1882 wollte man in der Schweiz eine einzige neue Stelle schaffen, den Schulvogt. Der sollte das Schulwesen der Kantone minimal überwachen. Es kam via Referendum zur Volksabstimmung. Der Widerstand war enorm, die Idee scheiterte kläglich. Der Bund sollte sich nicht darin einmischen, wie die eigenen Kinder auszubilden sind. «Und als der Kanton Bern 2009 mit HarmoS über eine nationale Harmonisierung des Schulwesens abstimmte, brachten die Gegner noch immer vor: ‘Wir wollen keine Staatskinder!’», sagt Lütolf. «Und dort geht es um Bildung – bei der Kleinkinderbetreuung ist die Haltung, dass der Staat nichts zu suchen hat, noch viel stärker.»
Den Ursprung für diese Haltung verortet sie im Katholizismus. Nur: Einen ganz ähnlichen Hintergrund hat zum Beispiel Deutschland. Trotzdem steht das Land heute familienpolitisch an einem anderen Ort.
Gönnen wir uns
«Unser Reichtum spielt eine Rolle», sagt Meret Lütolf. In der Schweiz konnte man sich das bürgerliche Familienmodell – der Mann arbeitet, die Frau bleibt zu Hause – viel besser leisten als in unseren Nachbarländern. In Deutschland hingegen seien Eltern schon länger darauf angewiesen, dass zwei Personen statt nur eine die Familie ernähren. Also habe man dort auch früher nach Lösungen gesucht wie Elternzeit oder bezahlbare Kleinkinderbetreuung.
Abstimmen
Ein weiterer Unterschied zu den Schweizer Nachbarländern ist die direkte Demokratie. «Oft stellt sich die Huhn-und-Ei-Frage», sagt Lütolf. Wollten die meisten Deutschen zuerst eine Elternzeit, und dann wurde sie eingeführt, oder wurde sie eingeführt, und dann erst entdeckten sie ihre Vorteile? «Beide Wege sind bei politischen Entwicklungen möglich und üblich», sagt Lütolf. In der Schweiz funktioniert aber nur der eine Weg – solange eine Mehrheit einer Veränderung kritisch entgegensieht, wird sie auch nicht eingeführt.
Hinzu kommt beim Thema Elternzeit: Nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung ist davon direkt betroffen. Nämlich die, die stimmberechtigt sind und Kinder wollen. Auch das erschwere es für einen solchen Vorschlag, eine Mehrheit zu erreichen.
Flickenteppich
Schliesslich: «Es gibt in der Schweiz keine gemeinsame, einheitliche Ausrichtung dazu, was Familienpolitik soll», sagt sie. Deutschland zum Beispiel hat ein Familienministerium. In der Schweiz existiert so etwas nicht. Das Politikfeld sei heterogen und diffus, sagt Meret Lütolf. Die Mutterschaftsentschädigung fällt zum Beispiel unter das Arbeitsrecht, während die Kinderbetreuung stark kantonal geregelt ist. Deshalb sei oft nicht klar, wer politisch zuständig ist, auch wenn sich gesellschaftliche Normen verschieben.
Auch in diesem Bereich drücke also die Haltung durch, die hierzulande so tief sitzt: «Familie ist Privatsache. Dann braucht es auch kein Bundesamt für Familien.»
Dass Familie Privatsache sei, sagen auch jetzt die Gegner*innen der Elternzeit-Initiative im Kanton Bern. Und dass eine nationale Lösung nötig wäre und keine kantonale. Vielleicht ist es eine Frage der Zeit, bis die Elternzeit auch in der Schweiz kommt. Nur braucht es hier für so etwas immer mehrere Anläufe. Die Initiant*innen im Kanton Bern nehmen jetzt einen.