Adieu, Mille Feuilles! – Oder doch nicht?
Seit das Französischlehrmittel «Mille Feuilles» 2011 an den Berner Schulen eingeführt wurde, steht es unter Dauerkritik. Ab diesem Sommer ist es im Kanton Bern nicht mehr obligatorisch – doch nur die wenigsten Schulen wechseln. Warum, fragt sich unser «Mille Feuilles»-geschädigter Autor.
Adieu, «Mille Feuilles!» Der Kanton Bern hat entschieden: «Mille Feuilles» ist ab diesem Sommer nicht mehr das einzige zugelassene Französischlehrmittel. Finalement! Was habe ich mich gefreut, als ich hörte, dass ein Ende der Ära «Mille Feuilles» in Sicht ist.
Wer wie ich irgendwann zwischen Mai 2002 und April 2003 auf die Welt kam, gehört nicht nur den geburtenschwächsten Jahrgängen der letzten 60 Jahre an, sondern erlebte während der Schulkarriere im Kanton Bern prägende Neuerungen. Frühfranzösisch ab der dritten Klasse mit «Mille Feuilles», Englisch ab der fünften und ab ans Gymnasium schon nach acht Schuljahren.
Ich hatte mich in der zweiten Klasse immer auf die erste Lektion Französisch gefreut. Und sollte damit recht behalten: Das damals erstmals eingesetzte Französichlehrmittel «Mille Feuilles» beginnt mit der Geschichte des «Monstre de l’Alphabet» und Monsieur Point. Das gefrässige Monstre isst dem armen Monsieur – einem leidenschaftlichen Wortsammler – alle Wörter weg. Die Schüler*innen begleiten und helfen Monsieur Point also beim Zurückerobern seiner geliebten Schätze.
Eigentlich eine perfekte Geschichte für Drittklässler*innen, um in die französische Sprache einzutauchen. Es war das ominöse Sprachbad. Vorbei sollten die Zeiten sein, in denen streng Wörtli gebüffelt und Verb-Konjugationen rauf und runter geübt werden mussten; die Schüler*innen sollten die Sprache lernen indem sie darin eintauchten. So musste ich als Kind im Französisch anfangs noch nicht mal die Wörter korrekt schreiben. Solange klar war, was ich meinte, wurde das bei den Tests als Punkt gezählt.
Bis in die Sekundarstufe war ich ganz gut im Französisch. Ab der siebten Klasse hiess das Lehrmittel dann «Clin d’Œil» – vom selben Verlag entwickelt, der auch «Mille Feuilles» produzierte. Die zugrunde liegenden Prinzipien sind dieselben.
Kritikmagnet «Mille Feuilles»
Gegenstimmen zum neu eingeschlagenen Weg gab es schon kurz nach der Einführung des Lehrmittels. Diese wurden über die Jahre immer lauter. Die Schüler*innen würden Dinge lernen, die sie im Alltag nie gebrauchen würden. Alarmierend klein seien die erworbenen Kompetenzen. Diese Befürchtungen konnten schon bald durch Studien belegt werden. Mit vernichtendem Ergebnis: Über ein Drittel der Schüler*innen erreichten die Grundkompetenz im Leseverstehen nicht, und nicht einmal die Hälfte konnte ausreichende Kompetenzen im Sprechen aufweisen.
Im Jahr 2017 kam der erste «Mille Feuilles»-Jahrgang an die Gymnasien. Darunter auch ich, ein Schüler, der vorher im Französisch locker Noten im Bereich zwischen 5 und 6 holen konnte. Nach dem ersten Test am Gymnasium die Ernüchterung: noch knapp genügend. Es war, als hätte das «Monstre de l’Alphabet» das benötigte Vokabular gefressen und dann nie mehr zurückgegeben.
Unsere Französischlehrerin suchte verzweifelt nach einem Grund, warum ziemlich genau die Hälfte unserer Klasse so miserable Französischkompetenzen aufwies. Sie fand ihn: Die Hälfte der Klasse begann nach der neunten Klasse mit dem Gymnasium und war mit «Bonne Chance», dem Vorgänger von «Mille Feuilles», unterrichtet worden. Die andere Hälfte trat nach der achten und mit «Mille Feuilles» an.
Die Schüler*innen mit «Mille Feuilles» waren konstant um eine halbe bis ganze Note schlechter, auch wenn sie nicht in der fünften, sondern bereits in der dritten Klasse mit dem Unterricht begonnen hatten. Der Lehrmittelgraben blieb in unserer Klasse bis ans Ende meiner Gymnasialzeit bestehen.
Das ist mehr als eine Anekdote. Denn die unterschiedlichen Lehrmittel schlugen sich auch in den Noten der Parallelklassen nieder. Konkrete Zahlen dazu gibt es nicht. Die «Hauptstadt» hat bei der kantonalen Bildungs- und Kulturdirektion nachgefragt, ob sich ein Einschnitt in den letztjährigen Französischnoten der Matura abzeichne, als der erste «Mille Feuilles»-Jahrgang das Gymnasium abgeschlossen hat. Die kantonale Maturitätskommission führe keine Notenstatistik, heisst es in der Antwort. Anne Cugni, Sprecherin der Bildungs- und Kulturdirektion, führt aus, dass es im Vergleich zu den Vorjahren kaum Auffälligkeiten gegeben habe. Die an der Prüfung gezeigten Leistungen seien wie alle Jahre unterschiedlich gewesen. «Es gab sehr gute und deutlich ungenügende Leistungen», schreibt sie.
Meine gehörte definitiv zur zweiten Kategorie.
Grosse Ablehnung in anderen Kantonen
Die Ära «Mille Feuilles» hat in einigen Kantonen schon früher ein Ende genommen. Allen voran im Kanton Basel-Landschaft. Im Jahr 2019 stimmten überragende 85 Prozent der Baselbieter Stimmberechtigten für eine Wahlfreiheit der Schulen beim Französischlehrmittel. Die Schulen schienen darauf nur gewartet zu haben, über 70 Prozent verwenden inzwischen ein anderes Lehrmittel. Auch in den Kantonen Solothurn und Basel-Stadt können die Schulen seit einem Jahr selbst entscheiden, ob sie «Mille Feuilles» oder ein alternatives Lehrmittel verwenden.
Jetzt folgt der Kanton Bern. Und da gibt es eine Überraschung: Die Zahl der wechselnden Schulen scheint kleiner zu sein als in den anderen Kantonen. Dies zeigt eine nicht repräsentative Umfrage der «Hauptstadt». Sie hat bei über 20 Schulen in Bern und den direkt anliegenden Gemeinden nachgefragt und konnte in diesem Gebiet keine Schule finden, die sich auf diesen Sommer von «Mille Feuilles» verabschiedet. Der Kanton selbst hat dazu noch keine Zahlen, da die Wahl des Französischlehrmittels bei jeder einzelnen Schule liegt.
Ausnahme Münsingen
Eine Gemeinde, in der man sich zumindest teilweise von «Mille Feuilles» verabschiedet, ist Münsingen. Daniel Wildhaber, Schulleiter des Schulhaus Schlossmatt und bis diesen Frühling in der Bildungskommission des Grossen Rates aktiv, erklärt: «Als ein überparteilicher Vorstoss zur Wahlfreiheit beim Französischlehrmittel im Grossen Rat durchgekommen war, suchte der Kanton nach Praxistest-Klassen.» In diesen Praxistest-Klassen habe man evaluieren wollen, was ein Umstieg von «Mille Feuilles» bzw. «Clin d’Œil» bedeuten würde. «So haben wir vor zwei Jahren angefangen, unsere siebten Klassen mit ‹dis donc!› zu unterrichten.» (siehe Box)
«Die Rückmeldungen aus dem Kollegium waren überaus positiv», meint Wildhaber. Deswegen habe man sich entschieden, schon früher anzusetzen. «Ab dem neuen Schuljahr unterrichten wir alle Schüler*innen ab der fünften Klasse mit ‹dis donc!›», führt er aus. Münsingen bleibt vorerst eine Ausnahme.
Ob ich wohl am Berner Stadtfest am Konzert der auf Französisch rappenden KT Gorique nicht nur getanzt, sondern auch tatsächlich etwas verstanden hätte, wäre «Bonne Chance» und nicht «Mille Feuilles» mein Lehrmittel gewesen?
Tant pis – oder wie sagen schon wieder die Welschen?
- Wie bisher, aber überarbeitet: «Mille Feuilles» (dritte bis sechste Klasse) und «Clin d'Œil» (siebte bis neunte Klasse)
- Wie in Münsingen: «Mille Feuilles» (dritte und vierte Klasse) und «dis donc!» (fünfte bis neunte Klasse)
- Komplett neu: «ça roule» (dritte bis sechste Klasse) und «c’est ça» (siebte bis neunte Klasse)
Doch was unterscheidet die verschiedenen Lehrmittel? Simone Ganguillet, Dozentin Mehrsprachigkeit und Fachdidaktik an der PH Bern, sagt: «Alle Lehrmittel bemühen sich, grundsätzlich die Anforderungen, die durch den Lehrplan 21 gestellt werden, umzusetzen.» Unterschiedlich seien die Schwerpunkte, die die Lehrmittel setzen würden.
«Mille Feuilles» lege in seiner überarbeiteten Version mehr Wert auf alltagsnahen Wortschatz und auf einen strukturierteren Aufbau der Grammatik. «Diese Überarbeitungsleistung rechne ich dem Schulverlag Plus sehr hoch an», sagt sie.
Der Überarbeitung ist zum Beispiel auch das «Monstre de l'Alphabet» zum Opfer gefallen. Damit bleibt zu hoffen, dass den zukünftigen Schüler*innen mit der neuen Version ohne das gefrässige Monstre mehr Französischvokabular hängen bleibt als mir.
«Mille Feuilles» lasse den Lehrpersonen und Schüler*innen viele Freiräume, da die Aufgaben der jeweiligen Lerneinheiten offen formuliert seien und die Schüler*innen mehr Wahlmöglichkeiten hätten. «Um diese Freiheit konsequent nutzen zu können, ist aber auch viel Motivation, Kapazität und eine entsprechende Sprachkompetenz seitens der Lehrpersonen erforderlich.»
Mit all den Fächern, welche die Lehrpersonen nebst Französisch meist unterrichten und allen zusätzlichen Belastungen, welche beim Lehrer*innenberuf anstehen würden, sei es nicht immer einfach, dem gerecht zu werden. «Das habe ich in meiner Zeit als Französischlehrperson, die mit ‹Mille Feuilles› unterrichtet hat, selbst gemerkt.»
Das neu entwickelte «ça roule» sei da geschlossener formuliert. Das habe Vor- und Nachteile. «Zum einen werden von den Schüler*innen weniger Transferleistungen erwartet.» Das bedeutet, dass die Schüler*innen weniger das Gelernte in komplett neuen Aufgaben wie zum Beispiel grösseren Schlussaufgaben anwenden müssen. Zum anderen würde das Lehrmittel die Lehrpersonen und Schüler*innen damit auch mehr an die Hand nehmen.
Das Ostschweizer Lehrmittel «dis donc!» liege in diesen Belangen etwa in der Mitte von «Mille Feuilles» und «ça roule».
«dis donc!» ist das Französischlehrmittel der Kantone Zürich und St. Gallen. Anders als in den Kantonen, welche bisher «Mille Feuilles» verwendet haben, wird dort Französisch als zweite Fremdsprache unterrichtet, also erst ab der fünften Klasse. Deswegen müssen, sofern «dis donc!» im Kanton Bern verwendet wird, die ersten zwei Jahre mit einem anderen Lehrmittel bestritten werden. Der Umstieg von «Mille Feuilles» auf «dis donc!» sei aber gut möglich, erklärt der Münsinger Schulleiter Wildhaber.
Simone Ganguillet fasst zusammen: «Schlussendlich müssen alle Kollegien selbst entscheiden, welches Lehrmittel ihnen am meisten hilft, einerseits die Lektionen auch tatsächlich auf Französisch abzuhalten und andererseits die Freude am Lernen einer neuen Sprache zu vermitteln. Denn das ist das Wichtigste für einen gelungenen Sprachunterricht.»