Meine Brille spricht Italienisch

Mit einer VR-Brille die italienische Schweiz bereisen und dabei die Sprache lernen – die Idee einer Berner Italienischlehrerin ist nun Realität.

xy fotografiert am Freitag, 15. August 2025 in Bern. (liveit.ch / Jana Leu)
Italienisch lebt von Gesten – die Virtual Reality Technologie auch. (Bild: Jana Leu)

Der kürzeste Weg nach Bellinzona? Ines Honegger Wiedenmayer kennt ihn. Sie sitzt in der Mediothek der PH Bern am Helvetiaplatz und trägt eine VR-Brille. Auf deren Innenflächen sind Bilder projiziert, die ein dreidimensionales Raumgefühl erzeugen. Die Bilder zeigen das Tessin.

Honegger ist Italienisch- und Spanischlehrerin am Gymnasium Kirchenfeld und unterzieht die Brillen einer letzten Prüfung: In einer Sequenz entdeckt sie noch einen Schreibfehler, den sie direkt der Entwicklerin neben ihr am Tisch meldet.

Seit diesem September verleiht die PH Bern solche Brillen, die dabei helfen, Italienisch zu lernen. Interessierte können sich in der Deutschschweiz die Brillen zusenden lassen –  wobei im aktuell verfügbaren Set nicht mehr als zwölf zur Verfügung stehen. Die Berner Schüler*innen Honeggers kommen nach den Herbstferien an die Reihe.

Überzeugte Anhängerin

Honegger hat sich die Grundzüge der virtuellen Lernwelt von «viagg-io» bereits vor über sechs Jahren erdacht. In einem Alter, in dem andere über Pläne für die Pension sinnieren, setzte sich die damals 54-Jährige mit einer für sie komplett neuen Technologie auseinander: «Ich habe in der Migros Klubschule gesehen, wie man Englisch mithilfe einer VR-Brille lernen kann». 

Viagg-io fotografiert am Freitag, 15. August 2025 in Bern. (liveit.ch / Jana Leu)
In diesen Sets werden die Brillen an Nutzer*innen versendet. (Bild: Jana Leu)

Die Faszination für dieses damals noch sehr junge Medium lässt sie seitdem nicht los. Zwar ist der grosse Siegeszug der virtuellen Realität – Stichwort Metaverse und Apple Vision Pro – bislang ausgeblieben, doch Honegger entmutigt das nicht. Eröffnen sich ihr im Museum oder im Einkaufszentrum virtuelle Welten, will Honegger sie entdecken.

An diesem Freitagnachmittag ist die Frau aus Bolligen zum ersten Mal in «ihrer» VR-Welt unterwegs. Der Stolz ist ihr anzumerken, auch wenn die klobige VR-Brille ihre Augen bedeckt. Die Lehrerin ist unterwegs auf einer virtuellen Zugreise in Richtung Tessiner Kantonshauptstadt. Im Zugabteil nimmt die junge Tessinerin Francesca gegenüber von ihr Platz und fragt sie nach ihren Plänen für das Mittagessen in Bellinzona. Alles auf Italienisch. 

Aufwendige Produktion  

Die Idee, Italienisch über die VR-Brille zu lernen, verfolgte Honegger zunächst in Eigenregie, holte sich aber schnell Lehrerkolleg*innen aus anderen Kantonen ins Boot. Rückendeckung erhielt sie auch durch ihre Schule. Anschliessend machte sie sich auf die Suche nach der technologischen Expertise für die Umsetzung und fand diese schliesslich bei der Fachhochschule Graubünden. Diese hatte bereits die englischsprachige VR-Lernwelt für die Migros-Klubschule erstellt.

Die Hochschule produzierte mit Darstellenden aus der italienischen Schweiz einzelne Videosequenzen,  die in eine gestaltete 3D-Welt eingefügt wurden. Hinzu kommen fotorealistische Aufnahmen einer 360-Grad-Kamera

Screenshot 2025-08-23 081935
Blick durch die Brille: In der VR-Welt treffen die Nutzer*innen auf die Tessinerin Francesca. (Bild: Screenshot, FH Graubünden)

Das Komplexe dabei: Ähnlich wie in einem Video-Rollenspiel müssen verschiedene Szenarien mitgedacht und produziert werden. «Möchtest du auf der Burg picknicken oder in einem Grotto Risotto essen?» lautet zum Beispiel eine der Fragen, die Sprachlernende bei «viagg-io» zu hören bekommen. 

Je nach Antwort führt die Protagonistin Francesca einen in eine andere Welt. Diese ist grafisch zwar nicht auf dem Level, das man von modernen Spielkonsolen gewöhnt ist, weiss aber durch flüssige Bewegungen zu gefallen. Der Clou bei «viagg-io» ist laut dem Projektteam, dass über das Mikrofon direkt mit dem Gegenüber in der virtuellen Welt kommuniziert werden kann.

Hemmungen abbauen

Gerade darin sieht Honegger viel Potenzial: «Es motiviert, ohne Hemmungen zu reden und das Erlernte anzuwenden», ist sich die Lehrerin sicher. Eine Schulreise im realen Leben soll die VR-Brille aber nicht ersetzen. Die Macher*innen sehen sie eher als Ergänzung im bestehenden Lehrplan. «Es sind Sessions von jeweils zehn Minuten vorgesehen, zu denen es Begleitmaterialien mit entsprechenden Lernzielen gibt», erklärt Honegger. 

Bevor Schüler*innen die Brillen ausprobieren können, müssen sie die Grundlagen in der realen Welt gelegt haben. Denn «viagg-io» biete erst ein befriedigendes Nutzer*innenerlebnis, wenn mindestens das Sprachniveau A2 erreicht sei, so das Projekt-Team. Das ist in der Regel nach zwei Jahren Italienisch-Unterricht der Fall.

Wobei die Wortbeiträge der Nutzer*innen weniger ausgefeilt sein müssen, als zunächst angenommen werden könnte. Im Selbsttest fällt auf, dass häufig schon einfache Schlüsselwörter wie «mangiare» und «risotto», und nicht etwa komplett fehlerfreie Sätze, ausreichen, um das Kommunikationsziel in der VR-Welt zu erreichen. 

Screenshot FH Graubünden
Die Brille hilft beim Italienischlernen, doch satt macht sie noch nicht: Ein Grotto in VR-Ansicht. (Bild: Screenshot / FH Graubünden)

Elke Schlote, die das Projekt für die FH Graubünden begleitet, führt das auf die Spracherkennung der Software zurück, die auf eben diesen Schlüsselwörtern beruhe. Kommt man also in der VR-Welt auch radebrechend voran? Schlote gibt zu bedenken, dass eine solche reduzierte Kommunikation auch in der echten Welt erfolgreich sein kann. Die Simulation will nicht besser sein als die Realität.

Tessin statt Turin

Die virtuellen Reisen führen ins Tessin und das italienischsprachige Graubünden, nicht aber nach Italien. Kein Zufall: «Fast alle Lehrmittel im Gymnasialbereich fokussieren auf Italien, die italienische Schweiz kommt dagegen zu kurz. Das wollen wir ändern», sagt Honegger. Mit dieser Strategie konnte sie auch Unterstützer*innen auf Bundes- und Kantonsebene finden. Diese steuerten insgesamt rund 400’000 Franken bei, was laut Honegger ungefähr die Produktionskosten decke. Mit an Bord sind neben dem Bundesamt für Kultur (BAK) auch das Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) des Kantons Bern, die Kulturförderung Graubünden, der Tessiner Swisslos-Fond sowie die Bündner Gemeinden Mesocco und Bregaglia.

Viagg-io fotografiert am Freitag, 15. August 2025 in Bern. (liveit.ch / Jana Leu)
Ines Honegger (links) vom Gymnasium Kirchenfeld und Elke Schlote (rechts) von der FH Graubünden haben «viagg-io» umgesetzt. (Bild: Jana Leu)

Zurück in der Mediothek der PH Bern. Die zwölf Brillen sind unterdessen wieder in zwei schwarzen Transportkoffern verstaut. Ihre Grösse erstaunt, denn die Brillen des chinesischen Herstellers Bytedance sind vergleichsweise platzsparend. Im Koffer sind sie mit viel Schaumstoff umhüllt, da sie in der ganzen Deutschschweiz als Set per Post verschickt werden und dementsprechend geschützt sein müssen. Um den Versand kümmert sich die PH Bern – die Transportgebühren werden den Nutzenden aufgrund vorhandener Fördermittel während zwei Jahren erlassen.

Pascal Piller, Leiter des Medienzentrums der PH Bern, sagt: «Wir haben schon seit 2024 eine VR-Brille im Angebot, die hilft, den Wasserkreislauf zu verstehen». Diese habe einen «Mehrwert» geliefert. Ob es ihn auch bei «viagg–io» gibt, soll eine pädagogische Auswertung des Nutzungsverhaltens zeigen, welche die PH plant.

Erst sind die Lehrer*innen dran

Das ist aber noch Zukunftsmusik. Zunächst steht eine andere Herausforderung an: Kommen auch die Lehrkräfte mit den Geräten klar? VR-Expertin Honegger beschwichtigt: Man müsse es schon ein paar Mal selbst ausprobieren, bevor man damit vor die Klasse trete. Dann sei es aber recht intuitiv. 

Immerhin bringen die VR-Brillen-Sets schon ihren eigenen Internetzugang mit, mit dem diese sich automatisch verbinden. Es wird also nicht ein schwaches Schul-Wlan über Sieg oder Niederlage von Virtual Reality zum Spracherwerb entscheiden.

Ohne Dich geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Das unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Das geht nur dank den Hauptstädter*innen. Sie wissen, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht und ermöglichen so leser*innenfinanzierten und werbefreien Berner Journalismus. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 3’000 Menschen dabei. Damit wir auch in Zukunft noch professionellen Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 3’500 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die «Hauptstadt» und für die Zukunft des Berner Journalismus. Mit nur 10 Franken pro Monat bist du dabei!

tracking pixel