Inklusion

Inklusive Schule: Vision oder Illusion?

Im Wankdorf befinden sich unterschiedliche Modelle integrativen Schulunterrichts am selben Standort. Wo liegen die Vor- und Nachteile für Kinder und Lehrpersonen? Ein Schulbesuch.

Inklusion in der Schule Wankdorf: Flavia Marti unterrichtet
Integrative Förderung: Flavia Marti, Heilpädagogin in Ausbildung, arbeitet mit Schüler*innen der Klasse 3-6 A im Schulhaus Wankdorf. (Bild: Danielle Liniger)

Es ist Montagmorgen, 8.20 Uhr. Die Glocke der Schule Wankdorf hat eben geklingelt. Im Klassenzimmer der Klasse 3-6 A zieht ein Kind noch seine Jacke aus. Die anderen der knapp 20 Kinder sitzen an ihren Pulten und arbeiten still an verschiedenen Aufgaben. Ein Junge lernt am iPad Englisch, daneben sitzt ein anderer Junge an Matheaufgaben. Ab und zu steht ein Kind auf, um der Lehrerin eine Frage zu stellen.

So läuft es jeden Morgen in diesem Klassenzimmer. Während der sogenannten Ankommenszeit arbeiten die Kinder die ersten fünfzehn Minuten des Tages an ihrem individuellen Förderplan oder an Aufgaben, die an der Tafel stehen. Danach unterbricht Klassenlehrerin Andrea Bachmann die Kinder, begrüsst sie und beginnt mit dem Unterricht nach Stundenplan.

Diese Ankommenszeit ist ein Teil des integrativen Unterrichts, den Bachmann mit der Heilpädagogin in Ausbildung, Flavia Marti, praktiziert. Für die Kinder, die Förderung benötigen, erstellt Flavia Marti individuelle Pläne.

Das Modell, das in der Klasse 3-6 A unterrichtet wird, nennt sich Schule mit integrativer Förderung (IF). Gemeint ist damit: Die Kinder besuchen die Regelschule, erhalten aber in ihrer Klasse punktuell Spezialunterricht.

Inklusion: Schulanlage Wankdorf: Übersicht Campus
Die verschiedenen Unterrichtsmodelle in Bern

In der Stadt Bern wird in unterschiedlichen sonderpädagogischen Abstufungen unterrichtet. Neben der Regelschule mit integrativer Förderung gibt es heilpädagogische Sonderklassen, denen maximal neun Schüler*innen zugeteilt sind. Diese beiden Modelle werden im Wankdorf und im Tscharnergut auf dem gleichen Campus unterrichtet. Zusätzlich gibt es die besondere Volksschule Bern, die früher heilpädagogische Schule hiess und die in einem separaten Schulhaus zentralisiert wird, das im Moment neben der Regelschule Statthalter in Bümpliz gebaut wird. In der besonderen Volksschule Bern umfasst eine Klasse maximal sieben Schüler*innen.

Auf dem Campus der Schule Wankdorf befindet sich gleich neben der Regelschule der Klasse 3-6 A ein anderes Gebäude, in dem verschiedene sonderpädagogische Schulen und Angebote vereint sind: Die Heilpädagogischen Sonderklassen (HPSK), die Sprachheilschule und die Psychomotorik-Therapie.

Das ist kein Zufall und wird von der städtischen Schuldirektion auch an anderen Standorten gefördert. Obwohl die Kinder durch unterschiedliche Schulen separiert sind, befinden sie sich auf demselben Gelände. So ist eine Durchmischung durch den geteilten Pausenplatz und geteilte Räume möglich. Das soll das gegenseitige Verständnis und die Toleranz aller Kinder und Jugendlichen fördern.

Aber funktioniert das wirklich? Wie nahe kommt man so der Vision einer inklusiven Schule? Bleibt sie eine Illusion?

Illustration der Inklusion anhand von farbigen Puzzleteilen
Themenschwerpunkt Inklusion

Was brauchen Menschen mit Behinderungen, damit sie gleichberechtigt am Arbeits- und Sozialleben teilhaben können? Was können wir alle zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen und was sind die Herausforderungen dabei? Diesen Fragen widmet sich die «Hauptstadt» in einem Schwerpunkt zu Inklusion

Wir schreiben unter anderem über selbstbestimmtes Wohnen mit Assistenz und die entsprechende Gesetzeslage im Kanton Bern und sprechen mit einer Person im Autismus-Spektrum über Begrüssungsrituale und die Deutung von Gesichtsausdrücken. Nach dem Grundsatz «Nichts über uns ohne uns» arbeiten Journalist*innen mit und ohne Behinderungen an diesem Schwerpunkt mit. Längerfristig planen wir auch zu anderen Themen Texte aus der Perspektive von Journalist*innen mit Behinderungen zu publizieren.

«Kürsli» statt Blackbox

Zurück zu Lehrerin Andrea Bachmann und ihrer Klasse 3-6 A im Wankdorf. 

An jenem Montagmorgen ist Flavia Marti im Unterricht mit dabei. Nachdem Bachmann mit der Klasse das Programm für den Tag durchgegangen ist, startet sie mit Mathematik. Auf dem Whiteboard konnten sich die Schüler*innen für ein «Kürsli» zur Subtraktion einschreiben. Bachmann hat noch ein paar Kinder hinzugefügt. 

Die Gruppe geht mit Marti in ein separates Zimmer, wo sie mit Hilfe von Klötzen das Minusrechnen im Hunderter- und Tausenderbereich repetiert. Hat ein Kind das Prinzip vor den anderen begriffen, kehrt es zurück in den Unterricht zu Bachmann, wo alle ruhig an ihrem Platz Aufgaben lösen.

Diese «Kürsli» haben verschiedene Vorteile, erklären Bachmann und Marti. Den Kindern ist weniger bewusst, dass ein paar unter ihnen besonderer Förderung bedürfen. Es sind nicht immer dieselben, die mit der Heilpädagogin etwas nochmal anschauen. Das wirkt der Stigmatisierung entgegen und fördert die Selbstreflexion aller und das Selbstwertgefühl der Kinder, die IF erhalten. 

Integrative Förderung in der Schule Wankdorf
Flavia Marti nimmt sich Zeit, bis jedes Kind den Schulstoff begriffen hat. (Bild: Danielle Liniger)

Zudem weiss Bachmann als Lehrperson, was Marti mit den Kindern mit besonderem Förderbedarf lernt. Die beiden arbeiten eng zusammen und sprechen sich ab, wenn es um das «Präpen», die Vorbereitung auf die einzelnen Stunden, geht. Das sei aber nicht die Norm, erklären sie. Vor allem die jüngere Generation der Lehrpersonen und Heilpädagog*innen kennt diese Art von Zusammenarbeit, da sie mit dem Lehrplan 21 eingeführt wurde. 

Das separative Modell sei bei der älteren Generation noch verbreiteter, so Bachmann. Die Heilpädagog*innen schauen mit den Kindern mit besonderem Förderbedarf etwas an, ohne den aktuellen Lehrplan der Klasse einzubeziehen. Für Bachmann ist das wie eine Blackbox. Im ungünstigsten Fall führt die Lehrperson ein neues Thema ein und die Schüler*innen lernen mit der*dem Heilpädagog*in etwas komplett anderes. 

Das bewirke genau das Gegenteil von dem, wofür die raren Stunden mit der oder dem Heilpädagog*in gedacht sind: Die Schere zwischen den Schüler*innen mit besonderen Förderbedarf und den «Regelschüler*innen» gehe immer weiter auf. 

4 bis 5 Lektionen pro Woche

Flavia Marti hat sich für die Ausbildung zur Heilpädagogin entschieden, weil sie als Lehrerin immer wieder das Gefühl hatte, nicht allen Kindern gerecht zu werden. Jetzt hat sie sieben Lektionen in der Klasse 3-6 A. Davon gehören fünf Lektionen zur integrativen Förderung, die zwei weiteren Lektionen sind zur erweiterten Unterstützung (sogenannte eU) eines einzelnen Kindes. 

Wie kommt die Anzahl IF-Lektionen zustande?

Die Anzahl IF-Lektionen, die einer Klasse zugewiesen wird, variiert je nach Sozialindex des Schulstandortes. Dieser wird von der Stadt Bern berechnet und dementsprechend teilt sie die IF-Lektionen zu. In der Regel ist die Zahl der IF-Lektionen unabhängig von der Zahl der Kinder mit Förderbedarf. Jedoch können einzelnen Schüler*innen zusätzliche heilpädagogische Ressourcen zugeteilt werden.

Die Klassen in der Schule Wankdorf erhalten wöchentlich zwischen 4 und 5 IF-Lektionen. In der Mittelstufe, wie der Klasse 3-6 A, liegt die Unterrichtszeit bei 24 bis 28 Lektionen pro Woche.

Selbst jetzt, wo Flavia Marti als Heilpädagogin arbeitet, ringt sie immer wieder damit, dass die Zeit nicht reicht, um die Kinder so zu fördern, wie es ihr vorschwebt. Die verschiedenen Methoden der beiden Lehrpersonen – die Ankommenszeit, die Tagesplanung und die enge Zusammenarbeit – helfen Marti wie auch Bachmann dabei, jedem Kind und seinen Bedürfnissen gerechter zu werden. 

Das Vorgehen der beiden Lehrpersonen aber braucht Ressourcen, die nicht alle haben. An derselben Schule unterrichten zum Beispiel zwei Heilpädagog*innen in jeweils sechs Klassen integrativ. Da sei eine enge Zusammenarbeit nicht möglich.  

Integrierte Separation

In Bümpliz an der Statthalterstrasse, wo gerade ein neues Gebäude für die besondere Volksschule Bern gebaut wird, ist man derselben Meinung. «Ohne unsere Schulen geht es nicht», sagt Johanna Dürst-Lindt, Schulleiterin der besonderen Volksschule Bern. «Die Kinder erhalten hier die Unterstützung und die individuelle Förderung, die sie brauchen. An einer Regelschule wären sie überfordert.»

An einer sonderpädagogischen Schule wie der HPSK hat die Lehrperson eine heilpädagogische Ausbildung und bereitet sich auf jedes Kind oder jede*n Jugendliche*n individuell vor. Es bleibt mehr Zeit für jedes Kind. 

Linda Spahr; Schulleiterin der Heilpädagogischen Schule Wankdorf
«Unsere Schule ist eine integrierte Separation», sagt Linda Spahr, Schulleiterin der Heilpädagogischen Sonderklassen auf dem Campus Wankdorf. (Bild: Danielle Liniger)

Trotz geteiltem Campus mit der Schule Wankdorf ist die HPSK separativ. «Unsere Schule ist eine integrierte Separation», präzisiert Linda Spahr, Schulleiterin der HPSK. Integration sei zwar erstrebenswert, aber sie müsse allen Kindern zugutekommen. Deshalb sei sie nicht immer die beste Lösung für Kinder, die mehr Unterstützung benötigen. 

Das schreibt auch der Artikel 17 des kantonalen Volksschulgesetzes vor: Schüler*innen, die durch Störungen, Behinderungen oder Probleme bei der Integration Schwierigkeiten im Unterricht haben, sollen Zugang zu ordentlichen Bildungsgängen haben. Vorausgesetzt, die Förderung der leistungsstarken Mitschüler*innen ist gewährleistet.

Im Gegensatz zum Gesetzesartikel steht für Spahr das Kind mit Beeinträchtigung im Zentrum.

Lieber separativ

Wie läuft Schulunterricht konkret im sonderpädagogischen Setting? 

Zurück auf dem Campus Wankdorf in einem Klassenzimmer der HPSK. Samuel Zingg plant mit seiner Klasse das Mittagessen. Es gibt Salat, Kartoffelgratin und einen Schokokuchen. Die neun Jugendlichen der 7. bis 9. Klasse sind in drei Gruppen aufgeteilt: Vorspeise, Hauptspeise und Dessert. Sie rechnen die Zutaten im Rezept auf die Anzahl Anwesenden hoch, schreiben eine Einkaufsliste und erhalten Geld, um einzukaufen. Danach kochen sie gemeinsam. Der Lehrer begleitet sie, stellt Fragen, damit sie nichts vergessen und unterstützt bei Schwierigkeiten.

Das Ziel: Die Jugendlichen lernen selbständig zu sein und werden darauf vorbereitet, ihr Leben selbstbestimmt führen zu können. Neben Einkaufen und Kochen stehen bei ihnen auch Deutsch, Englisch oder Mathematik auf dem Stundenplan.

Schule Wankdorf
Integriert separierte HPSK auf dem Campus Wankdorf. (Bild: Danielle Liniger)

Sowohl Linda Spahr wie auch Johanna Dürst-Lindt ist es wichtig, die Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung der Schüler*innen zu fördern. «Wir gehen mit ihnen raus in die öffentlichen Hallenbäder, in die Stadt oder einkaufen. Die Schüler*innen lernen, mit den öffentlichen Verkehrsmittel in die Schule zu kommen, sofern es ihre Beeinträchtigung ermöglicht», sagt Dürst-Lindt. 

Hierfür werden die Kinder auch begleitet und später beschattet, um sicherzugehen, dass alles gut geht. Das mag nach Detektivarbeit klingen, macht aber in der sonderpädagogischen Schule durchaus Sinn: Die besondere Volksschule Bern steht in der Verantwortung, dass die Kinder heil zur Schule oder nach Hause kommen. Aus demselben Grund hat die besondere Volksschule Bern einen geschützten Aussenbereich, damit die Kinder nicht wegrennen können. 

Was zwar nach Separation töne, sei letztendlich der Rahmen, den manche Kinder brauchen, sagen Dürst-Lindt und Spahr.

Gesellschaft versus Gesetz

Ist also eine inklusive Schule, wo Kinder mit und ohne Beeinträchtigung miteinander in einer Klasse sind, überhaupt erstrebenswert?

Sowohl Andrea Bachmann, Flavia Marti, Linda Spahr und Johanna Dürst-Lindt sind sich einig. Bei einer inklusiven Schule würden – Stand heute – «alle Kinder zu kurz kommen», sagt Bachmann. Weil der Fokus auf den Kindern mit höherem Unterstützungsbedarf liegen würde, hätte man zu wenig Zeit für die Regelschüler*innen. Und weil die Kinder mit höherem Unterstützungsbedarf im Dauerstress wären. 

Alle vier stellen zudem auch die Frage: Ist unsere Gesellschaft bereit für Inklusion? 

Schule Wankdorf
Könnten alle Kinder von einer inklusiven Schule profitieren? (Bild: Danielle Liniger)

«Wenn es darum geht, den Schulstoff durchzubringen, den unsere Wirtschaft verlangt, wird es sehr schwierig», sagt Bachmann. Neben den fehlenden finanziellen und personellen Ressourcen brauche es auch die richtige Einstellung für einen inklusiven Umgang in der Schule, sagen alle vier. Es brauche mehr Verständnis und eine grössere Offenheit gegenüber Menschen mit Behinderungen, sagt Spahr. Und es brauche Fachkräfte, die Kinder und Jugendliche mit einer Beeinträchtigung individuell unterrichten wollen, so Dürst-Lindt. Und zwar nicht, weil es vorgeschrieben sei, sondern weil sie dies von sich aus wollen. 

Eine inklusive Schule sei zwar nicht undenkbar, sagt Spahr, aber «wir sind als Gesellschaft nicht dort, wo wir nach dem Gesetz sein sollten». Flavia Marti lässt sich davon nicht entmutigen: «Ich denke, man kann im Kleinen schon viel machen, indem man sein Bestes gibt.» Der stete Tropfen höhlt den Stein.

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Diskussion

Unsere Etikette
Christoph Kuhn
29. März 2025 um 06:42

Ein Verwandter von mir machte in einer Berner Schule eine Zeitlang sehr schlechte Erfahrungen in einer gemischten Klasse. Über Monate war Lernen kaum möglich wegen der vielen Störungen. Zu wenig Ressourcen - oder rief die Schule die eigentlich vorhandenen Ressourcen wegen "eigener Überforderung" einfach nicht ab?

Hans Joss
20. März 2025 um 16:33

Inklusive Schule: Vision oder Illusion?

Sehr informativer, gut verständlicher Text, der Aussenstehenden gute Einblicke in den vielschichtigen Schulalltag erlaubt.

Gute Modelle, wie Lehrpersonen Unterricht gemeinsam mit Lernenden weiter entwickeln können. «Von unten nach oben». Formen, die sich auch auf die Berufszufriedenheit der Lehrpersonen auswirken werden. Die Attraktivität des Lehrberufs erhöhen.