«Alle träumen von der Welt»

Thomas Burkhalter ist ein profunder Betrachter der weltweiten Musikszenen. Der Gründer des Berner Festivals Norient arbeitet momentan daran, diese Welten zu verbinden.

Thomas Burkhardt vom Norient Festival fotografiert am Freitag, 22. Dezember 2023 in Bern. (Jana Leu)
Thomas Burkhalter hat sich quasi seinen eigenen Beruf erfunden: Er ist Musikanthropologe, Künstler, Kulturunternehmer. (Bild: Jana Leu)

Auf dem Tisch steht eine Wasserflasche mit einem Flamingo drauf. Auf dem danebenliegenden Plattencover prangt auch ein pinker Vogel. «Alles Zufall», sagt Thomas Burkhalter. Er sei gar kein expliziter Flamingofan. Und relativiert dann doch: «Ich habe gelesen, dass der Flamingo ein Symbol der Hoffnung ist.» Das passe gut in die heutige Zeit der Unsicherheit, aber auch zu seinem aktuellen Projekt, in dem der Flamingo einen kleinen Auftritt hat.

«Melodies In My Head» heisst das Projekt, an dem der Berner momentan arbeitet. Es soll eine Mischung aus vertonten Interviews in Videoform, Musik und Tanz sein. Das Album ist bereits auf Platte erschienen, am 2. und 3. Februar findet in der Dampfzentrale die Premiere des multimedialen Konzerts statt. Weil die Videos noch den letzten Schliff brauchen, hat Burkhalter momentan lange Arbeitstage.

Bei Norient im Hintergrund

Dass in ein paar Tagen das Norient Festival ansteht, hat dabei gar keinen grossen Einfluss. Dabei ist es doch eigentlich sein Festival.

2010 zeigte Burkhalter unter diesem Namen im Kino in der Reitschule erstmals Musikfilme aus aller Welt, nun wird das Festival von einem internationalen Team kuratiert und findet an verschiedenen Spielstätten in Bern statt. Das diesjährige Festival dauert vom 10. bis 14. Januar. Es ist Teil und Aushängeschild der Musikplattform Norient, die mittels journalistischen und wissenschaftlichen Beiträgen Sichtweisen auf Musik und Töne ermöglicht, die sich vom Mainstream unterscheiden. Auch sie gegründet von Burkhalter.

Norient ist einerseits eine Website, andererseits auch mehr als das. So werden die Norient-Betreiber*innen zum Beispiel regelmässig für die Kuration von internationalen Festivals gebucht. Daraus speist sich auch ein guter Teil des Budgets. Dazu kommen Projektbeiträge von Stiftungen, Programmbeiträge von Stadt, Kanton und Burgergemeinde sowie Einnahmen über Abos.

Burkhalter arbeitet zwar immer noch für Norient, aber mittlerweile mehr im Hintergrund. Er sieht seine Aufgabe darin, neue Formate und Ideen zu erarbeiten, zu schauen, dass die Plattform in Bewegung bleibt. Die Rolle behagt ihm. «Es ist schön, wenn andere Leute andere Sichtweisen ins Festival einbringen, und du merkst: Es lebt weiterhin.»

Thomas Burkhardt vom Norient Festival fotografiert am Freitag, 22. Dezember 2023 in Bern. (Jana Leu)
Der Rückzugsort von Thomas Burkhalter ist bunt und in Bewegung. (Bild: Jana Leu)

Der 50-Jährige zieht im Moment die Arbeit im stillen Kämmerlein vor. Dieses befindet sich in einem Atelier im Progr und ist gross, luftig, voller Poster, Möbel, Utensilien. Viele Farben, viele Blickwinkel, viel Bewegung. Vielleicht symbolisiert der Raum das, was Burkhalter braucht: Einerseits das Reisen und die neuen Eindrücke, andererseits das Verarbeiten davon in einer möglichst ungestörten Umgebung.

Vom Saxofon zum Reisen

Musik begleitet ihn durch sein Leben. Eigentlich wollte Burkhalter Berufsmusiker werden, verbrachte seine Tage mit dem Saxofon im Proberaum. Dann merkte er, dass ihm der soziale Kontakt fehlte, dass er mit anderen Menschen über Musik sprechen wollte, dass er sie gar nicht unbedingt nur spielen wollte.

Er begann Anthropologie zu studieren, jobbte in Plattenläden, schrieb für Zeitungen über Musik. Es folgten immer mehr Reisen, bis heute ist er jedes Jahr ein bis zwei Monate unterwegs. Seine Masterarbeit war ein Film über die Musikszene in London, seine Dissertation widmete er der Untergrundmusik im Libanon.

Burkhalter liebt es, sich ganz in etwas hineinzugeben. Und er hat sich so quasi seinen eigenen Beruf erfunden: Er ist Musikanthropologe, Künstler, Kulturunternehmer. Und immer ganz nah an den Tönen. «Mit Musik kannst du relativ tief in Gesellschaften eintauchen. Und du kommst dabei schnell auf wirtschaftliche und politische Fragen.»

Thomas Burkhardt vom Norient Festival fotografiert am Freitag, 22. Dezember 2023 in Bern. (Jana Leu)
Plakate zieren die Wände von Burkhalters Atelier. (Bild: Jana Leu)

Eigentlich findet Burkhalter, dass man über Musik die Welt – zumindest ein bisschen – besser verstehen kann. «Über Musik kannst du die Diversität der Gesellschaft sehen. Das hilft gegen Vorurteile und Fehlurteile», sagt er. Die Welt sei nicht einfach schwarz-weiss, die Meinungen in der Bevölkerung, auch in restriktiven Gesellschaften, nicht einfach gemacht.

Nicht umsonst gebe es oft Soundtracks zu Revolutionen, aber auch zu Drogenkartellen und Diktatoren. «Musik kann eine riesige Kraft entwickeln.» Positiv oder negativ. Musik sei aber auch voller Versprechungen. «Früher wärst du als Musiker in einem südafrikanischen Township einfach der Held in deiner Neighborhood gewesen, jetzt träumst du von der Welt. Alle träumen von der Welt. Und ein paar schaffen es ja auch», sagt er.

Durch die Globalisierung locken der angesagteste Club in London, der Auftritt in New York. «Die Leute geben unglaublich Gas», sagt Burkhalter, «aber der Verschleiss ist halt auch höher.» Ein bisschen Berühmtheit sei schnell möglich, aber dauerhaft von der Musik zu leben, schwierig. Denn kurz darauf tauche schon der nächste unfassbar gute Track aus einer anderen Ecke der Welt auf.

Lyrics, die das Leben schrieb

Seit Jahren ist Burkhalter ganz nah an diesen Entwicklungen dran, hört und entdeckt neue Musik, heute auch oft übers Internet. Immer wieder hat er in dieser Zeit Interviews mit Musiker*innen aus den unterschiedlichsten Szenen und Ländern geführt. Sein digitales – und aus den Anfängen noch analoges – Archiv platzt aus allen Nähten.

Aus ausgewählten Teilen dieser Interviews, die er in den letzten 15 Jahren geführt hat, besteht sein aktuelles Projekt «Melodies In My Head». Dafür hat er seine Lieblingszitate von Künstler*innen aus aller Welt hervorgeholt. «Das sind wahnsinnige Lyrics», sagt er, «wenn du die am Schreibtisch so schreiben möchtest, müsstest du ein wirklich guter Schreiber sein, und sie haben das einfach so gesagt.»

Poetisch, tiefgreifend, oft auch tragisch. So erfährt man etwa, dass ein pakistanischer Rapper so kontroverse Lyrics hat, dass er dafür Todesdrohungen bekommt. Ein libanesischer Death-Metal-Musiker erzählt, was für ihn das Schlimmste am Krieg ist: Man hat Angst um die Zukunft, Angst, dass es keine Zukunft gibt. Ein Musiker aus Ghana beschreibt seine Wut, wenn er von einem Polizisten im Auto angehalten wird. Er weiss, dass er leicht rauskommt, wenn er ihm ein paar Scheine in die Hand drückt, er weiss, dass es der Weg des geringsten Widerstands ist, und doch will er es nicht tun.

Thomas Burkhardt vom Norient Festival fotografiert am Freitag, 22. Dezember 2023 in Bern. (Jana Leu)
Thomas Burkhalter mit dem Plattencover von «Melodies In My Head». (Bild: Jana Leu)

«Es sind extrem persönliche Geschichten, aber sie erzählen auch viel über die Welt», sagt Burkhalter. Das fasziniere ihn. Dabei verbindet er seine drei Passionen: Musik, Journalismus und Wissenschaft. Seit drei Jahren arbeitet er an «Melodies In My Head», seinem Duo mit dem Musiker Daniel Jakob.

Es ist die konsequente Weiterführung seiner Arbeit. Er versucht quasi, mit Musik die Welt zu erklären. Es ist das, was die Plattform Norient seit ihrem Anfang tut. «Norient ist ein politisches Projekt, aber ich glaube indirekt. Weil die Musiker*innen, die dabei vorkommen, eine Haltung zu ihrer lokalen Gesellschaft und zur Welt haben.»

Der schöne Nebeneffekt: Immer im Januar wird Bern ein bisschen mehr Weltstadt. Denn längst ist das Filmfestival auch ein internationales Netzwerktreffen. Als Berner*in kann man ganz unvoreingenommen mit dabei sein. Und vielleicht einen neuen Gedanken aus irgendeinem Land dieser Welt mit nach Hause nehmen.

Im Idealfall besteht Hoffnung genau daraus.

Norient Festival: vom 10. bis 14. Januar, diverse Orte, Bern. Mehr Infos hier.

Mehr Infos zum Projekt «Melodies In My Head» gibt es hier.

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