Ein Ort für die, die keinen haben
Mit dem «Calypso» schliesst der letzte Spunten am Eigerplatz. Das Quartier hat sich in atemberaubendem Tempo gewandelt.
Einmal die Zeit anhalten. Marcel Eichenberger tut das, wenn er kurz nach elf Uhr morgens das «Calypso» betritt, eine grosse Flasche Feldschlösschen bestellt und trinkt. Später noch eine bestellt. Zuerst in alten Geschichten schwelgt, dann freche Sprüche macht und am Schluss traurig wird.
Wirt Ruedi Hubacher sitzt bei ihm im Fumoir, trinkt ein Ballönli Weisswein, raucht eine Zigarette, ab und zu sagt er etwas, noch öfter aber schweigt er und hört zu.
«Vielleicht magst du die einen Gäste lieber als die anderen, sind dir die einen sympathischer und die anderen weniger, aber das darfst du dir als Wirt nie anmerken lassen», sagt Hubacher. Es ist sein Credo. Seit 1999, als er das «Calypso» zusammen mit seinem Bruder übernommen hat und von einem Tag auf den anderen Wirt wurde.
Im Juli ist Hubacher 71 geworden. Seit sein Bruder 2014 gestorben ist, führt er die Beiz am Eigerplatz allein. Fünf Tage die Woche, vom Morgen früh, wenn er Sandwiches vorbereitet und Gipfeli aufbackt, bis am Abend, wenn er die letzten Gäste nach Hause schickt. Es sind lange Tage, 13 oder 14 Stunden. Natürlich sitzt er oft am Tisch bei seinen Gästen, Pausen gibt es trotzdem keine.
Mitte Dezember schliesst Hubacher das «Calypso». «Klar hätte ich es schön gefunden, wenn es weitergegangen wäre», sagt er, «aber für mich ist es jetzt Zeit.»
Man hat noch Zeit
Einmal die Zeit anhalten. Das «Calypso» gilt als vielleicht letzte Beiz der alten Sorte in Bern, als Spunten. Ein Ort, der gerne auch ein bisschen verklärt wird. Manche haben Erinnerungen an wilde Feste hier, es sind Heldengeschichten aus anderen Zeiten, die durch die Brille der Nostalgie lustiger und legendärer klingen, als sie vielleicht jemals waren.
Hier im «Calypso» wird bis heute geraucht und getrunken, aber nicht Latte Macchiato, sondern Milchkaffee; nicht Pale Ale aus der Mikrobrauerei, sondern Feldschlösschen aus der Flasche. Es wird Schlager gehört und diskutiert. Man hat noch Zeit.
Es ist kein gutbürgerliches Restaurant, auch keine szenige Bar, am ehesten ist es eine Zuflucht vor der Welt und vor dem Fortschreiten der Zeit. Es ist ein Ort für die, die sonst keinen haben.
Und für die, die sich mit Wirt Ruedi Hubacher verbunden fühlen. Weil er immer ein gutes Wort hat, ein Ohr, ein Lächeln. Manchmal auch einen Schein. Vielen habe er im Laufe der Zeit Geld geliehen, viele hätten es auch zurückgezahlt. Aber etwa 10’000 Franken habe er abgeschrieben, sagt Hubacher. «Manche von denen, die mir noch Geld schuldeten, sind gestorben, die anderen gehen mir aus dem Weg.»
Ein alter Freund, der regelmässig vorbeikommt, ist Daniel Meyer. Einst führte er das längst geschlossene Restaurant Winkelried. Auch das lag in der Nähe des Eigerplatzes. Meyer wohnt mittlerweile in Italien. «Wenn ich einen Besuch in Bern mache, verlasse ich die Autobahn und fahre erst bei Ruedi am Eigerplatz vorbei, um Sälü zu sagen», erzählt er. So wie heute. Meyer trinkt ein Mineralwasser, denn auch wenn das «Calypso» den Ruf einer bierseligen Beiz hat, halten sich hier längst nicht alle an Alkohol.
Vor allem wegen Ruedi Hubacher wird das «Calypso» verklärt von den eher älteren Stammgästen. So schrieb letzthin eine Frau in einem Leserinnenbrief im «Bund»: «Ruedi Hubacher ist der Inbegriff eines gastfreundlichen Menschen und er weist niemanden ab.»
Plötzlich angesagt
Aber auch von den sporadischen jungen Gästen wird er geliebt, obwohl sie an jedem anderen Tag gerne die hipperen Orte des Quartiers besuchen. Das «Da Nino», die angesagteste Pizzeria der Stadt, gleich nebenan. Das «Drip Roasters», ein Kaffeeladen, in dem sich alles um Röstgrade und Sortenreinheit dreht. Das «Nari», ein Thai-Imbiss, der jeden Tag fünf verschiedene Menüs im Angebot führt, die alle vegetarisch sind.
Diese Lokale wurden eins nach dem anderen in den letzten paar Jahren eröffnet. Sie haben die «Drachen-Bar», den «Eiger-Beck», die Café-Bar Simpel ersetzt. Ende Dezember sind vom alten Eigerplatz dann nur noch der Kostümverleih Häxebäse (die erste Adresse für die Fasnacht!) und das Fotostudio Elite (die billigsten Passfotos der Stadt!) übrig.
Selten wurde ein Stadtteil in einem so atemberaubenden Tempo von einer verschlafenen zu einer äusserst angesagten Ecke wie der Eigerplatz.
Alles abgeschrieben
Einmal die Zeit anhalten. «Hier wurde lange nichts gemacht», sagt Ruedi Hubacher. Er sitzt immer noch im Fumoir, mittlerweile sind ein paar Mittagsgäste eingetroffen, alle einzeln, sie sitzen an verschiedenen Tischen und reden doch miteinander. Man kennt sich. Früher, als vis-à-vis noch das Bundesamt für Landwirtschaft einquartiert war und ein paar Schritte in die andere Richtung die Zurich Versicherung ihren Berner Hauptsitz hatte, servierte Ruedi Hubacher am Mittag um die 70 Menüs. Jetzt hat die Zurich hier nur noch einen Helppoint und ins Bundesamt ist eine Zwischennutzung eingezogen, die Start-Ups (wie zum Beispiel die «Hauptstadt») und Künstler*innen beherbergt. Keine Kundschaft für Ruedi Hubacher.
Die kleine Küche im Lokal hat er in den letzten 24 Jahren nie renoviert. «Wenn ich aufhöre, ist alles abgeschrieben», sagt er. Das Mobiliar, schwere hölzerne Beizenstühle und ebensolche Tische, will er verkaufen. Und auch fast alle anderen Sachen, die sich über die Jahre hier angesammelt haben. Einiges ist schon weg, der Billard-Tisch zum Beispiel, er wurde bereits abgeholt. Auch auf dem winkenden Zwerg, der im Schaufenster des Fumoirs steht, befindet sich ein Post-It mit dem Vermerk «verkauft». «Den will ich selber mit nach Hause nehmen, darum steht das dort», sagt Ruedi Hubacher und lächelt verschmitzt.
35 Kuchen
Ruedi Hubacher geht in Rente, nach einem bewegten Leben. Nach Stationen in Zürich, im Tessin und in Bern. Ursprünglich wollte er Bäcker-Konditor lernen. Im zürcherischen Wädenswil fing er die Lehre an. «Es war nicht schön», sagt Hubacher, «dabei habe ich doch immer gerne gebacken und gekocht.» Doch der Lehrmeister schlug ihn, sperrte ihn ein, misshandelte ihn. Als die Sache schliesslich rauskam, hatte es für den Lehrmeister Konsequenzen. Aber auch für Ruedi Hubacher, der nun keine Lehrstelle mehr hatte.
Die Konditorlehre hat er darum nie beendet. Trotzdem sind seine Zwiebel-, Käse- und Lothringerkuchen bis heute weit herum bekannt. Für den diesjährigen Zibelemärit backt er ein letztes Mal 35 Kuchen. «Dann kommen immer alle vorbei», sagt der «Calypso»-Wirt.
Ruedi Hubacher absolvierte schliesslich eine Lehre als Verkäufer im Shoppyland Spreitenbach, wurde später Abteilungsleiter in einer Migros. «Ich habe das gerne gemacht», sagt Ruedi Hubacher heute, «in den Pausen konnte man zusammensitzen, Zigarettli rauchen.» Später folgte er seinem Lebenspartner Edwin ins Tessin. Acht Jahre blieben sie in Lugano, er baute ein Kaffeemaschinen-Geschäft auf. «Es war keine schlechte Zeit.»
Man merkt, dass Ruedi Hubacher nicht so oft von sich erzählt – und meistens nur dann, wenn man ihn fragt. Lieber lässt er anderen den Vortritt. Und stoppt auch mal mitten im Satz, weil jemand anderer von einem anderen Thema zu sprechen beginnt. Auch mancher Stammgast kennt nicht seine ganze Geschichte.
Preise sind gestiegen
Recht häufig aber erzählt Ruedi Hubacher, wie er nach Bern kam. Ursprünglich nur, um 15 Wochen in der Spedition der Zurich Versicherung auszuhelfen. Es wurden sechs Jahre daraus. Als Stammgast kaufte er das «Calypso» schliesslich 1999 der damaligen Besitzerin ab. «Zu einem viel zu teuren Preis», sagt er heute und schüttelt den Kopf, wie wenn er es immer noch nicht glauben könnte.
Nun hat er das Lokal wiederum verkauft. Das Allresto Beirut, das sich momentan noch beim City West befindet, wird hier einziehen. Libanesisch. «Die kochen gewaltig gut», findet Ruedi Hubacher. Er werde sicher auch ab und zu hier essen kommen. Schliesslich wohnt er um die Ecke an der Eigerstrasse.
Und, hat er mit dem Lokal einen guten Preis erzielt? Ruedi Hubacher lächelt leicht. «Ich bin zufrieden», sagt er. Und was heisst das? «Sie haben mir den Preis bezahlt, den ich wollte.»
Liegenschaften am Eigerplatz sind begehrt. Denn nicht nur die Lokale haben sich gewandelt. Auch die Miet- und Verkaufspreise sind angestiegen, wie sich auf den gängigen Immobilienportalen zeigt. Noch werden hier mehr Wohnungen als zum Beispiel im Breitenrain oder in der Länggasse angeboten, allerdings sind sie nicht mehr viel günstiger als in den beiden bereits gentrifizierten Quartieren. Zudem sind in der Region Eigerplatz auffallend viele Wohnungen befristet zu vermieten, weil das Haus anschliessend gesamtsaniert werden soll. Es ist wie in jedem Trendquartier.
Eine Zuflucht verschwindet
Einmal die Zeit anhalten. Die Türglocke klingelt und Uschi Langenberger rauscht herein. In einem Korb bringt sie Ruedi Hubachers Wäsche vorbei, sauber gefaltet und geglättet. Uschi Langenberger wohnt im Haus, jahrelang hat sie an der Bar des «Calypso» ausgeholfen. Hat Ruedi Hubacher auch unterstützt, als 2014 sein Bruder starb und als später sein Lebenspartner Edwin schwer krank wurde und 2018 ebenfalls starb. «Manche nennen mich auch Frau Hubacher», sagt sie, «aber das ist schon okay, ich bin ja auch so etwas wie seine Familie.»
Für all diese Menschen wird eine Ära zu Ende gehen, wenn das «Calypso» im Dezember schliesst. Eine Zuflucht, ein Ort, an dem immer alles gleich blieb, wird verschwinden.
«Du wirst noch leiden wie ein junger Hund», sagt Stammgast Marcel Eichenberger zu Ruedi Hubacher. «Ja, es macht mich auch traurig», sagt der. Aber Pläne habe er schon. Eine Italienreise zum Beispiel. Und im Café Fédéral am Bundesplatz, da kehre er ganz gerne ein. Für Ruedi Hubacher läuft die Zeit weiter.