Wozu ist Neutralität? Askforce-Selection #6

Neutralität steckt tief in der Seele der Schweiz. Aber aus was genau sie besteht und ob sie wirklich etwas taugt, darauf kennt nur die unbestechliche Askforce eine neutrale Antwort.

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Der fragende Denkzustand der Askforce, wie ihn die Illustratorin Pia Zibulski sieht. (Bild: Pia Zibulski)

Frl. Z. aus B. stellt uns eine sehr schlichte Frage: «Wozu ist Neutralität?» Wir sind froh, können wir das hier gründlich klären. Dazu fangen wir ganz vorne an und fragen uns zunächst: Was ist Neutralität?

Neutralität ist ein Wort, ein Substantiv, aber ein spezielles. Anders als die Wörter «Apfelschorle», «Nagelschere», «Stalinorgel» oder «Kinderschokolade» umschreibt N. nichts Feststehendes oder Fassbares. Das Spezielle ist nämlich, dass die N. funktioniert wie die kleine, tapfere Dampflokomotive einer hölzernen Brio-Eisenbahn: Sie zieht etwas nach sich – und um dieses Etwas geht es. Wir verstehen das gut: Erst dank den angehängten Wagen wird aus dem Ganzen ein Zug – je nach Wagen ein Zug unterschiedlicher Art. Eine Lok, die nichts zieht, ist noch kein Zug.

Neutralität – nützt sie oder schadet sie der Schweiz?

Diskussion in Bern, am Montagabend, 17. Oktober um 18.15 Uhr, Schmiedstube. Veranstaltet von der Neuen Helvetischen Gesellschaft Bern. Die Schweiz steht laut Umfragen hinter dem Neutralitätsprinzip. Aber immer weniger Menschen glauben, dass es die Schweiz vor internationalen Konflikten schützt, und der russische Angriff auf die Ukraine hat die Neutralitätsdebatte neu aufgeladen. Es diskutieren: Prof. Dr. André Holenstein (Universität Bern), Tiana Angelina Moser (Nationalrätin GLP), Anna-Lina Müller (Thinktank foraus). Moderation: Jürg Steiner, «Hauptstadt».

Als sprachliche Lokomotive zerrt die N. also selbstlos unterschiedlichste Adjektive in den Fokus. Einige wenige Beispiele müssen hier zur Illustration genügen:

Wir kennen die von Grossmächten verordnete N. (Wiener Kongress, 1814/1815), die differentielle N. (Schweiz, 1920; die «Dabeisein-wollen-aber-nicht-Mitmachen-müssen-Neutralität»), die selektive N. (ab 1938, «Man-wird-doch-wohl-noch-Geschäfte-machen-dürfen-Neutralität»), die zeitgleich propagierte integrale N. (Bundesrat Giuseppe Motta, 1938), die solidarische N. (Ungarn 1958, Tschechoslowakei 1968), die aktive N. (Calmy-Rey, 2003–2011), die inaktive N. (Ignazio Cassis, Bern, Februar 2022), die kooperative N. (Ignazio Cassis, Davos, Mai 2022) und natürlich die immerwährende, umfassende, bewaffnete, blochersche N. (Christoph Blocher, 1291–∞)

In der Summe führt dies zur so genannten immergärenden Neutralität. Ihr Hauptmerkmal ist eine alles andere als neutral geführte Dauerdebatte, bei der es nie um die N. an sich geht, sondern eben ums Adjektiv, das die N. mit sich zieht. 

Das Gastspiel

Über 20 Jahre lang erschien die Askforce wöchentlich im «Bund» und erarbeitete sich den soliden Ruf, die schrägste Kolumne der Schweiz zu sein. Im Angesicht der Fusion von Bund und BZ im Herbst 2021 verschwand die Askforce aus dem Traditionsblatt, verewigte sich in einem Buch und tauchte als Startup Anfang 2022 wieder auf. Bis Weihnachten kuratiert die Askforce in der «Hauptstadt» jeden Montag eine spezielle Selection. Und natürlich sind Hauptstädter*innen eingeladen, die Askforce mit neuen Fragen zu beliefern: [email protected].

In der Folge stehen sich verschiedene neutrale Lager spinnefeind gegenüber, was eher nicht der Kernidee von Neutralität im ganz volkstümlichen Sinn entspricht. Zum Beispiel sind sich Micheline Calmy-Reys «aktive N.» und Ignazio Cassis’ «kooperative N.» sehr ähnlich. Aber beide möchten unbedingt betont haben, es handle sich um etwas ganz Unterschiedliches.

Fazit: Die Neutralität, Frl. Z., ist dazu da, leidenschaftlich zu diskutieren, bis das Problem, zu dem man Stellung beziehen möchte, vorbei ist. Wir erahnen dies bereits bei der neusten Strömung, der atomaren Neutralität. Sie hat grossen Rückhalt im Umland der AKW Beznau I und Beznau II, die beide mit Uran aus Russland betrieben werden. Hier fordern neutrale Denker, neue Atomkraftwerke zu planen, um so die Energieabhängigkeit von Russland zu vermindern. Besonders die immer neutralen Neutronen strahlen ob dieser Logik: It’s smart, it’s politics!

Askforce-Selection #6, 17. Oktober 2022 

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