Immer klettert der Tod mit
Das Alpine Museum «Alps» zeigt den Nachlass des Alpinisten Erhard Loretan. Sein Wirken provoziert die Frage: Wie extrem sollen wir leben?
Erhard Loretan war berühmt für seinen alpinistischen Stil: Wenig Material zum Absichern, leichteste Ausrüstung, kaum Verpflegung, niemals künstlichen Sauerstoff, dafür Tempo.
Schnell und agil erklomm er vor allem in den 1980er- und 90er-Jahren schwierigste Wände und Gipfel. Er ass auch mal nichts als zwei Ovo-Sport-Riegel pro Tag und übernachtete bei minus 50 Grad Celsius sitzend auf seinem Rucksack.
Der Mann aus dem Greyerzerland, geboren 1959, bestieg als erster Schweizer alle 14 Achttausender der Welt.
«Ich brauche Bewegung und Abenteuer», sagte Erhard Loretan einmal. «Dazu gehört, mich in schwierige Situationen zu begeben und dem Tod nahe zu sein. Bei jedem Achttausender weiss ich, dass er mich das Leben kosten kann.»
Loretan brach sich 1986 zwei Rückenwirbel, als er 13 Nordwände in 13 Tagen aneinanderreihen wollte. Im selben Jahr begleitete er seinen Freund Pierre-Alain Steiner am Himalaya-Achttausender Cho Oyu in den Tod. Vier Tage lang litt der Freund nach einem Absturz. Hilfe war nicht zu organisieren. Schliesslich liess Loretan seine Leiche in eine Felsspalte gleiten.
Seine fatalste Begegnung mit dem Tod aber fand weit weg von Berggipfeln statt. 2001 schüttelte Erhard Loretan seinen sieben Monate alten Sohn, nachdem das Kind längere Zeit geschrien hatte. Das Kleinkind starb an einem Schütteltrauma.
Das extreme Leben des Ausnahme-Alpinisten und Bergführers ist nun mit der Ausstellung «Am Limit» im Alpinen Museum «Alps» dokumentiert. Loretans Familie hat seinen Nachlass dem Museum geschenkt. Der Fundus enthält unzählige Ausrüstungsgegenstände, Bilder, Film- und Tonaufnahmen sowie 45 Tagebücher.
Besonders die in der Ausstellung erstmals veröffentlichten Tagebucheinträge zeigen nicht nur einen akribisch planenden, von seinen Expeditionen besessenen Alpinisten. Sie zeigen auch einen Menschen, der mit Heimweh kämpft, Angst hat und sich fragt, ob er glücklich ist. «Warum will der Mensch leiden?», fragt Loretan, und: «Wäre man anderswo nicht nützlicher?»
Gestorben ist Erhard Loretan schliesslich, wie so viele Alpinist*innen, nicht auf einer gefährlichen Expedition. Sondern bei einer einfachen Bergtour am Gross Grünhorn in den Berner Alpen. Es war April 2011, Loretans 52. Geburtstag. Seine Lebenspartnerin rutschte aus. Die beiden stürzten 200 Meter in die Tiefe. Sie überlebte schwer verletzt, er nicht.
Sind wir verpflichtet, auf uns aufzupassen?
Ich denke an die Menschen in meinem persönlichen Umfeld, die in den Bergen gestorben sind. Ich kann, gemessen an meinem Alter, zu viele Namen gedanklich aufzählen. Ich denke an all den Schmerz, den sie bei ihren Nächsten hinterlassen. Und an die Diskussionen, die Unfälle bei Bergsportler*innen immer wieder auslösen: Wie schwierige Touren wollen wir noch unternehmen? Dürfte ich meinen Liebsten gewisse Risiken verbieten? Und warum hören die Berge trotz allem nicht auf, uns zu faszinieren?
Über Menschen, die in den Bergen starben, sagen wir oft: Sie taten, was sie liebten. Aber macht das ihren Tod weniger sinnlos?
Was liebte Erhard Loretan mehr: die Berge oder das Risiko? Die rohe Schönheit der Natur, oder die Machtgefühle, die es verleihen muss, diese Natur mit eigener Kraft zu bezwingen?
«Im Moment interessieren mich nur Erstbesteigungen», schrieb er einmal in sein Tagebuch.
Anderswo wird Loretan zitiert: «Seien wir ehrlich, wenn ein Alpinist davon träumt, auf den Everest zu gehen, dann tut er dies aus zwei Gründen: erstens, um einen schönen Berg zu besteigen, und zweitens, um in der Szene anerkannt zu werden.»
Er sagte aber auch: «In einem ganzen Leben gibt es sehr wenige Momente der Erfüllung, Momente, in denen der Mensch nichts anderes begehrt, als was er eben hat. Das Glück liegt in diesen Sekunden des Gleichgewichts, der Harmonie. Das empfinde ich auf dem Gipfel des Everests.»
Wofür lohnt es sich, sein Leben aufs Spiel zu setzen?
Sterben ist nicht bloss ein einsamer Vorgang. Der Tod eines Menschen reisst gigantische Wunden in das Leben seiner Nächsten. Wir sind nicht allein auf der Welt. Wir haben Geschwister, Freundschaften, Eltern, Kinder, die uns lieben und die unsere Liebe und Fürsorge schätzen. Mitmenschen verlassen sich auf uns. Manche Menschen sind abhängig von uns und wir von ihnen. Mit unserem Leben bereichern wir das Leben anderer. Es aus freiem Willen immer wieder aufs Spiel zu setzen, ist egoistisch.
Sind wir also verpflichtet, auf uns aufzupassen? Schulden wir irgendjemandem ein vernünftiges Leben?
All das geht mir im Museum durch den Kopf. «Wo gehst du an deine Grenzen?», fragt zum Schluss der Ausstellung eine Plakatwand. Die Besucher*innen können sie mit eigenen Antworten beschriften.
«Leider nie!», hat jemand auf einen Zettel geschrieben. «Es würde das Leben so viel reicher machen, hätte mensch mehr Mut und Zuversicht.»
Ich denke mir dazu: Vielleicht würde es das Leben noch reicher machen, bewunderten wir als Gesellschaft Fürsorge und Achtsamkeit genauso wie aussergewöhnliche Leistungen und Extreme.
Die Ausstellung «Am Limit. Auf Expedition mit Erhard Loretan» ist bis im März 2025 im Alpinen Museum Alps in Bern zu sehen.