Ewiger Flaschenhals
Seit Montag liegen die Pläne für den Ausbau der Grauholz-Autobahn auf acht Spuren öffentlich auf. Ausgerechnet während der Herbstferien.
Die Autobahn, die übers Grauholz führt, war vor genau 60 Jahren das erste Teilstück der Ost-West-Verbindung A1. Ihr damaliger Zweck bestand darin, die Bernstrasse in Zollikofen vom Durchgangsverkehr zu entlasten. Nach Ansicht des damaligen Bundesrats Hans-Peter Tschudi (SP) fügte sich die vierspurige Schnellstrasse «hervorragend ins Landschaftsbild» ein. Kostenpunkt: 30 Millionen Franken.
Es dauerte nur bis in die 80er-Jahre, ehe die Berner Kantonsregierung die Kapazitätsgrenzen erreicht sah und einen Ausbau auf sechs Spuren forcierte. Es gab heftigen Widerstand von Umweltschützer*innen, angeführt vom Verkehrsclub der Schweiz (VCS), und Landwirt*innen, die den Kulturlandverlust beklagten. Doch 1995 wurden die zwei zusätzlichen Spuren am Grauholz in Betrieb genommen. Kostenpunkt: 90 Millionen Franken.
Die Hoffnung, damit den Flaschenhals endgültig beseitigt zu haben, erwies sich wie erwartet rasch als trügerisch. Bereits 2008 nahm der Bund die Grauholzautobahn ins Programm seiner Engpassbeseitigungen auf.
Entschlossener Widerstand
Seit bald zehn Jahren ist klar: der Ausbau auf acht Spuren soll kommen. 2018 gab der Bundesrat grünes Licht, die Planung zu konkretisieren. Jetzt liegt das Projekt vor – und bis zum 25. Oktober in den Anrainergemeinden Bolligen, Ittigen, Moosseedorf, Urtenen-Schönbühl, Zollikofen, Lyssach und Wohlen öffentlich auf.
Die Grauholz-Autobahn wäre damit wohl das erste Teilstück in der Schweiz, das voraussichtlich ab 2027 auf acht Spuren ausgebaut würde. Kostenpunkt für die Kapazitätserweiterung: 275 Millionen Franken.
Allerdings wird diesmal der Widerstand wohl noch entschlossener sein als vor 30 Jahren – obschon die Autobahnausbau-Gegner*innen in der Region Bern gerade an ihre Kapazitätsgrenzen stossen. Eben waren sie noch damit beschäftigt, die von ihnen als Farce empfundene Mitsprache am geplanten Um- und Ausbau der Spaghetti-Kreuzung beim Autobahnknoten Wankdorf zu verdauen. Jetzt müssen sie die vierwöchige öffentliche Auflage des Grauholz-Ausbaus während der Schulherbstferien wahrnehmen, um mit einer Einsprache ihre Kritik offiziell zu deponieren.
Entlastung auf der Bernstrasse?
Die Kapazitätserweiterung am Grauholz ist realistischerweise nur denkbar, wenn auch der Anschluss Wankdorf ausgebaut wird. Insofern hängen die Projekte zusammen. Interessanterweise befürwortet die rot-grüne Berner Stadtregierung aber nur den Ausbau im Wankdorf, für besseres und sicheres Verkehrsmanagement. Die zusätzlichen zwei Spuren am Grauholz sieht der Gemeinderat hingegen kritisch.
In der Sprache des Bundesamts für Strassen (Astra) tönt es so: Die «Fahrstreifenergänzung» auf acht Spuren am Grauholz stelle sicher, «dass der Verkehr auch weiterhin über die Autobahn fliessen kann und die benachbarten Achsen und Dorfzentren vom Ausweichverkehr entlastet werden».
Der exakt gleiche Sound wie 1962, als man mit der Autobahn die Zollikofer Bernstrasse entlasten wollte. Heute hat die Bernstrasse mit 20’000 Autos einen höheren Tagesschnitt als die Gotthard-Autobahn.
Umweltverträglichkeit ohne Klima
Der VCS ist per Verbandsbeschwerderecht legitimiert, gegen den Grauholz-Ausbau Einsprache zu erheben. Er werde dies mit fast hundertprozentiger Sicherheit tun, sagt Benjamin Zumbühl, Geschäftsführer der VCS-Sektion Bern, auf Anfrage – ausser, das vom Astra vorgelegte Projekt sei so perfekt, dass es juristisch nichts zu beanstanden gebe. Davon gehe er aber nicht aus, so Zumbühl.
Ein kritischer Aspekt ist ihm jedenfalls schon ins Auge gestochen: Das Astra berücksichtige in der über 700 Seiten dicken Umweltverträglichkeitsprüfung für den Grauholz-Ausbau die Auswirkungen aufs Klima nicht. Fast absurd angesichts der Dringlichkeit des Klimaproblems. Hingegen berufe sich das Astra bei der Abschätzung der Umweltverträglichkeit auf ein eigenes Handbuch, in dem das Klima nicht als Thema aufgeführt sei. Zumbühl rechnet damit, dass man einen Bundesgerichtsentscheid erwirken müsste, um allenfalls eine Praxisänderung herbeizuführen.
Alte, neue Argumente
Fast mehr als die juristischen Problemzonen beschäftigt Zumbühl, dass sich an Denkweise und Problemlösungsverhalten in den letzten 30 Jahren praktisch nichts verändert habe. Er habe die Unterlagen hervorgeholt, die den Widerstand gegen den Ausbau am Grauholz auf sechs Spuren in den 90er-Jahren dokumentieren: «Die Argumente, die wir damals vorbrachten, sind alle immer noch gültig. Nichts hat sich geändert. Es kommt mir vor, als wäre die Zeit stehengeblieben», sagt Zumbühl.
Was er damit beispielsweise meint: Der Bau von zwei weiteren Spuren verschlingt mehrere Hektaren Kulturland, dazu wird Wald gerodet, während man gleichzeitig von der Dringlichkeit redet, gegen den Biodiversitätsverlust zu kämpfen. Oder: Wenn man einen Strassenengpass entschärft, indem man die Kapazität erhöht, entsteht der Engpass am nächsten Ort. Beides gelte damals wie heute genau gleich.
Ein-Personen-Autos
Und was ihn, Zumbühl, besonders beschäftige: Strassenverkehrsstatistiken zeigten, dass heute pro Auto eher noch weniger Passagiere unterwegs seien als früher. Der Ausbau am Grauholz würde für «wenige Staustunden und viele Pendler*innen, die allein in ihren Autos sitzen», realisiert. Hätte man die Viertelmilliarde Franken, die der Grauholz-Ausbau koste, in intelligente Mobilitätsmassnahmen wie Sharing-Konzepte, den ÖV- oder Velostrecken-Ausbau gesteckt, «bin ich sicher, dass wir heute nicht über acht Spuren am Grauholz reden müssten».
Es ist anders gekommen. Der Verein Spurwechsel, in dem Exponent*innen von Linksgrün bis Grünliberal versammelt sind, kritisiert den Ausbau am Grauholz als Projekt «im Geiste der 60er-Jahre», das die politischen Klima- und Bodenschutzziele «vollständig missachtet».
Ein ewiger Flaschenhals, auch von der anderen Seite gesehen.