Inklusion

«Wir machen jetzt Politik, nicht morgen!»

Menschen mit Behinderungen wollen in der Politik mitreden, mitbestimmen und sich engagieren. An der Behindertensession vom letzten Freitag haben sie eine entsprechende Resolution verabschiedet.

Parlamentarier*innen der Behindertensession im Bundeshaus
Verena Kuonen, Damian Bright, Jasmin Rechsteiner und Alain Bader (v.l.n.r) setzen sich an der Behindertensession und im Alltag für politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ein. (Bild: Dominique Meienberg / Pro Infirmis)
Ein Beitrag von «Reporter*innen ohne Barrieren»

Diesen Text übernimmt die «Hauptstadt» von «Reporter*innen ohne Barrieren». «Reporter*innen ohne Barrieren» ist ein Projekt von Inclusion Handicap, dem Schweizer Dachverband der Behindertenorganisationen. In einem Schulungsprogramm lernen Menschen mit verschiedenen Behinderungen, journalistisch zu arbeiten. Ziel ist, dass die Perspektive von Menschen mit Behinderungen in die öffentliche Debatte Einzug findet. Für den «Hauptstadt»-Schwerpunkt Inklusion berichtet Reporterin Mirjam Münger über die Behindertensession.

Obwohl die Schweiz die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2014 ratifiziert hat, ist noch heute die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen eingeschränkt oder nicht möglich. Das wollen die Parlamentarier*innen, die letzten Freitag an der Behindertensession teilgenommen haben, ändern.

Mit viel Herzblut trugen die Parlamentarier*innen ihre Statements vor und betonten, wie wichtig es sei, nicht ohne sie, sondern mit ihnen zusammen zu politisieren. Die 44 Teilnehmer*innen mit Behinderungen fordern die volle und gleichberechtigte Teilhabe in der Politik: «Wir machen jetzt Politik, nicht morgen!» Doch davon ist die Schweiz noch weit entfernt.

Wo die Hindernisse liegen

Verschiedene Hindernisse behindern den Zugang zur Politik:

  • «Personen mit umfassender Beistandschaft sind vom Recht abzustimmen und zu wählen ausgeschlossen», sagt Fabian Putzing, Geschäftsführer von insieme Schweiz. «Es braucht eine Änderung der Verfassung, damit alle das Stimm- und Wahlrecht ausüben können.»
  • «Stark sehbehinderte und vollblinde Menschen können die Wahl- und Abstimmungsunterlagen nicht lesen. Letzten Herbst hat das Parlament angenommen, dass auf eidgenössischer Ebene eine Abstimmungsschablone entwickelt wird», erklärt Luana Schena, Vorstandssmitglied des Schweizerischen Sehbehindertenverbands SBV. Noch fehle diese Lösung auf kantonaler und kommunaler Ebene. Hinzu komme, dass es kompliziert sei, mit der Schablone bei den Wahlen zu kumulieren und panaschieren.
  • Simone Leuenberger, EVP-Grossrätin des Kantons Bern und Mitglied der Behindertenkommission, die die Session vorbereitet hat, hält fest: «Auch Barrieren im öffentlichen Verkehr, in Gebäuden sowie das Fehlen von Behindertenparkplätzen und -toiletten hindern Menschen mit Körperbehinderungen, sich politisch zu engagieren.»
  • «Viele Informationen sind weder in Gebärdensprache noch mit Untertiteln verfügbar und somit für gehörlose Menschen nicht zugänglich», führt Andreas Janner, Parlamentarier der Behindertensession, aus.

Recht auf Inklusion auch in der Politik

Nach Artikel 29 der UN-BRK haben Menschen mit Behinderungen das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der internationalen, nationalen, kantonalen und kommunalen Politik. Diese beinhaltet das Recht, abzustimmen, zu wählen sowie ein politisches Amt auszuüben. Dazu sind die Hindernisse, auf die Menschen mit Behinderungen stossen, abzubauen. Ebenso sind Menschen mit Behinderungen in politische Prozesse aktiv einzubeziehen und ihre Anliegen zu berücksichtigen.

Zum Abbau von Hindernissen beitragen können vielerlei Dinge auf verschiedenen Ebenen. Zum Beispiel einfache Sprache. «Diese ist für Menschen mit kognitiven Behinderungen wichtig», erläutert Fabian Putzing, «um sich über Abstimmungen und Wahlen zu informieren». Zudem plädiert Luana Schena für ein elektronisches Wahlsystem, sogenanntes eVoting, mit dem sehbehinderte und blinde Menschen autonom abstimmen und wählen können.

Themenschwerpunkt Inklusion

Was brauchen Menschen mit Behinderungen, damit sie gleichberechtigt am Arbeits- und Sozialleben teilhaben können? Was können wir alle zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen und was sind die Herausforderungen dabei? Diesen Fragen widmet sich die «Hauptstadt» in einem Schwerpunkt zu Inklusion

Wir schreiben unter anderem über selbstbestimmtes Wohnen mit Assistenz und die entsprechende Gesetzeslage im Kanton Bern und sprechen mit einer Person im Autismus-Spektrum über Begrüssungsrituale und die Deutung von Gesichtsausdrücken. Nach dem Grundsatz «Nichts über uns ohne uns» arbeiten Journalist*innen mit und ohne Behinderungen an diesem Schwerpunkt mit. Längerfristig planen wir auch zu anderen Themen Texte aus der Perspektive von Journalist*innen mit Behinderungen zu publizieren.

Nathalie Anderegg vom Radio «loco-motivo» beider Basel sieht derweil Handlungsbedarf im Bereich der psychischen Behinderungen und fordert von den Politiker*innen mehr Flexibilität. «Menschen mit psychischen Behinderungen sollen die Möglichkeit haben, via Zoom an einer Sitzung oder an einem Anlass teilnehmen zu können, wenn sie aufgrund der psychischen Verfassung nicht vor Ort erscheinen können.»

Für Menschen mit Gehörlosigkeit sind Gebärdensprachdolmetscher*innen essenziell für gesellschaftliche und politische Teilhabe. Deshalb setzt sich Andreas Janner dafür ein, dass deren Finanzierung geklärt und gesetzlich geregelt wird.

Untervertretung in der Politik

Erst wenige Politiker*innen mit Behinderungen haben den Sprung in ein Parlament geschafft. Im Nationalrat sitzt Christian Lohr (die Mitte) als einziger Bundespolitiker mit Behinderung. Gemäss dem Bundesamt für Statistik BFS leben in der Schweiz mehr als 20 Prozent der Bevölkerung mit einer Behinderung. Mit den 44 Sitzen an der Behindertensession sollte verdeutlicht werden, wie eine angemessene Vertretung der Menschen mit Behinderungen im Nationalrat aussehen würde. «Wir sind eine ernst zu nehmende Minderheit», erinnert die Berner Grossrätin Simone Leuenberger.  

Zögerlicher Wandel

Der Wandel zu einer barrierefreien Gesellschaft vollzieht sich nur langsam und zähflüssig. «Dabei haben wir seit 20 Jahren ein Behindertengleichstellungsgesetz. Da dieses Gesetz den hindernisfreien Zugang nicht gewährleistet hat, muss es griffiger werden», unterstreicht Leuenberger das Ziel einer inklusiven Politik. Der UNO-Ausschuss gibt ihr Recht. In seinem Bericht von 2022 hat er in über 80 Punkten aufgezeigt, was die Schweiz verbessern muss. Auch den fehlenden Einbezug von Menschen mit Behinderungen und ihren Themen in politische Entscheidungsprozesse bemängelt der UNO-Ausschuss. Um dies zu ändern, müssten finanzielle und andere Ressourcen eingesetzt werden.

Nach der Behindertensession geht es weiter

Die erste Behindertensession markiert einen Meilenstein in der Schweizer Politik für Menschen mit einer Behinderung. In der verabschiedeten Resolution wird der Abbau aller Hindernisse gefordert, damit Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen der Politik vollständig teilhaben können. Doch dabei soll es nicht bleiben. Nationalrat Christian Lohr, Präsident der Behindertensession, hat verkündet, dass es eine zweite Session geben wird. Zudem haben mehrere Menschen mit Behinderungen für die Nationalratswahlen in diesem Herbst ihre Kandidatur lanciert.

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren

Diskussion

Unsere Etikette
Peter Buri
02. April 2023 um 10:03

Als einer der 44 Teilnehmenden habe ich diesen Tag alleine und gemeinsam mit anderen Mitpatlamentariern seriös vorbereitet. Es war für mich eine grosse Ehre, dieses Privileg geniessen zu dürfen und meine Redezeit zu erhalten. Für dieses Jahr kann ich leider noch nicht für den Nationalrat kandidieren, aber vielleicht im 2027 aber wer weiss.

Es gibt ja noch Gemeindewahlen (Ostermundigen oder dann vielleicht nach der Fusion Stadtratswahlen) und Grossratswahlen für den Kanton Bern.

Aber ich bleibe dran und kämpfe weiter.

Danke an die Redaktionen von der Hauptstadt und von Reporter*innen ohne Barrieren für die tolle Berichterstattung und den Themenfokus.