«Ich wurde angespuckt und mit Äpfeln beworfen»
Berner Stadträt*innen erhalten regelmässig Hassbotschaften. Das zeigt eine Recherche der «Hauptstadt».
Nach einer Stadtratssitzung Ende Mai tauchte das Foto von JA!-Stadträtin Anna Jegher auf Twitter auf. Darüber ein Text, der ihr Votum kritisierte. Und: ihre Mailadresse. Mitglieder der Jungfreisinnigen hatten den Tweet abgesetzt, eine Mitte-Stadträtin hat ihn geteilt.
Doxxing nennt sich dieses Verhalten: Öffentlich einsehbare Informationen zu einer Person werden zusammengetragen und veröffentlicht. Betroffene werden durch solche Aktionen oft eingeschüchtert, belästigt oder ihre digitale Identität missbraucht.
«Ich kann damit umgehen, wenn jemand meine Meinung kritisiert. Aber ein öffentlicher Aufruf, mich als Person anzugreifen, geht gar nicht», sagt Anna Jegher.
Der Post wurde nach einer Nacht gelöscht, nachdem weitere Stadträt*innen interveniert hatten. E-Mails hat Jegher keine erhalten. «Aber der Vorfall hat Spuren hinterlassen. Bei Voten überlege ich mir stärker, welche Reaktionen sie auslösen könnten.»
Wie viele Belästigungen erleben die Berner Stadträt*innen?
Die «Hauptstadt» hat dazu eine nicht repräsentative Umfrage erstellt und an alle 80 Ratsmitglieder verschickt. 58 von ihnen haben die Umfrage im Juni ausgefüllt: 37 Frauen, 20 Männer und eine Person, die sich mit einem anderen Geschlecht identifiziert. Der Anteil der Fraktionen im Rat entspricht weitgehend jenem der ausgefüllten Umfragebögen.
Die Antworten erfolgten anonym. Sechs Umfrageteilnehmer*innen haben aber ihre Anonymität aufgegeben und der «Hauptstadt» von ihren Belästigungs-Erfahrungen erzählt.
«Kurz nachdem ich in den Stadtrat gewählt worden bin, drückte ich meinen Frust über die Nationalratswahlen in einem Facebook-Post aus. Ein Screenshot davon landete im Blick und löste einen Shitstorm aus. Es hagelte Kommentare und Briefe, sogar eine Morddrohung war darunter. Seither überlege ich mir zwei Mal, zu welchen Themen ich mich öffentlich äussere.» Nora Krummen, SP
Belästigungen sind bei Stadträt*innen keine Seltenheit: 37 Ratsmitglieder (63,8 %) gaben an, im Internet mindestens einmal in ihrer politischen Funktion Kommentare oder Nachrichten erhalten zu haben, von denen sie sich beleidigt, belästigt oder bedroht gefühlt haben. 31 Ratsmitglieder (53,4 %) bejahten die Frage auch für das analoge Leben.
In beiden Sphären bezogen sich die weitaus meisten Feindseligkeiten auf die politische Ausrichtung und politische Positionen der Betroffenen. An dritter Stelle wurde ihre politische Kompetenz genannt, gefolgt von Geschlecht und Aussehen.
«Es ist kein Geheimnis, dass SVPler in der Stadt Bern einen schweren Stand haben. Fahre ich Tram oder Bus, werden mir oft Schlämperlige angehängt. Und in der Lorraine hat mir kürzlich ein Velofahrer auf das Auto gespuckt. Ich frage mich jeweils, was ich falsch gemacht habe. Solche Vorfälle sind wohl der Preis, den ich dafür zahle, dass ich Mitglied einer Polpartei bin. In Ordnung ist das aber nicht.» Janosch Weyermann, SVP
Am meisten Belästigungserfahrungen gemacht haben Mitglieder der SP/Juso-Fraktion (24,5 %), gefolgt von FDP/JF, GB/JA!, GLP/JGLP (alle 13,3 %); GFL/EVP, SVP (beide 11,1 %); Mitte (6,6 %), AL/PdA (2,2 %). Zwei Umfrageteilnehmer*innen haben ihre Fraktionszugehörigkeit nicht angegeben.
Wie viele Feindseligkeiten Politiker*innen in der Schweiz erleben, dazu gebe es keine wissenschaftlich belegbaren Zahlen, erklärt die Soziologin Lea Stahel. Stahel forscht an der Universität Zürich zu Hassrede im Internet. Studien aus anderen Ländern würden jedoch zeigen, dass eine grosse Mehrheit von Politiker*innen Feindseligkeiten erfahren, insbesondere über Facebook und Twitter.
«Ein Zwanzigjähriger postete unter alle meine Facebook-Posts Kommentare mit sexuellem Inhalt. Er stoppte erst, als ich seine Mutter kontaktierte. Ältere Männer schreiben mir Briefe und laden mich zum Essen ein – oder haben den Eindruck, mir als junge Frau die Welt erklären zu müssen. Bei Standaktionen wurde ich auch schon angespuckt und mit Äpfeln beworfen. Die Angriffe hörten erst auf, als meine männlichen Parteikollegen eingriffen.» Corina Liebi, GLP
Die Umfrage aus Bern zeigt: 70 Prozent der Online-Beleidigungen richteten sich gegen Frauen; bei jenen im analogen Leben sind es 67 Prozent.
Diese Zahl deckt sich nicht mit den Studien, die Lea Stahel nennt. Diese würden auf ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis hindeuten, sagt sie. In der Tendenz gäben Männer sogar etwas häufiger an, Feindseligkeiten erfahren zu haben. Das könne jedoch auch damit zusammenhängen, dass hohe politische Posten überwiegend von Männern besetzt sind und diese mehr Aufmerksamkeit erhalten, so Stahel.
Entscheidender als das Geschlecht sind die Inhalte: Wer sich zu politisch brisanten Themen wie Klima, Feminismus und Rassismus äussert, erfahre mehr Feindseligkeiten, sagt Stahel. Ebenso, wer sich häufig mit seinen Wähler*innen auf Social Media austauscht. Auch die Bekanntheit spielt eine Rolle: «Politiker*innen mit grösserer Sichtbarkeit und Macht erfahren mehr Feindseligkeit», so Stahel.
«Äussere ich mich zu Feminismus oder Rassismus, erhalte ich auf Social Media viele Hasskommentare. Bei Posts zu Armut bleibt es meistens still. Ich finde es schwierig, mir ein dickes Fell zuzulegen, ich bin verletzlich. Trotzdem habe ich mir diese Haltung antrainiert und versuche die Kommentare nicht mehr an mich ranzulassen. Würde ich mich nicht mehr äussern, hätten die Hater gewonnen.» Barbara Keller, SP
In der «Hauptstadt»-Umfrage hat ein Viertel der Antwortenden angegeben, dass die Anfeindungen, die sie erlebten, ihre politische Arbeit beeinflussen.
Viele berichten, dass sie sich zu gewissen Themen nicht mehr äussern und sich genau überlegen würden, was sie posten und wie sie es formulieren. Andere schreiben, dass die Belästigungen viel Energie raubten; jemand berichtet von Angst vor öffentlichen Auftritten.
Lea Stahel erklärt, dass Feindseligkeiten die Bereitschaft, einen politischen Job auszuführen, beeinträchtigen können. Zum Beispiel hat letztes Jahr die Zürcher Kantonsrätin Sarah Akanji ihre Polit-Karriere nach einer Legislatur beendet, weil sie rassistisch und sexistisch attackiert worden ist.
«Klar erhalte ich unangenehme Kommentare und Nachrichten auf Social Media. Aber wer ein gewisses Mass an niveaulosen Kommentaren nicht aushält, soll dort kein Profil haben. Es ist ja auch ein Abbild eines Teils unserer Gesellschaft. Davor möchte ich die Augen nicht verschliessen. Blockiert habe ich erst einen Nutzer. Bei ihm störte mich nicht hauptsächlich die Qualität, sondern die Quantität seiner Posts gegen mich. Besonders während der Wahlkämpfe erhalte ich SMS von Männern, die mir Glück wünschen. Das nehme ich nicht als Belästigung wahr, eher als Annährungsversuche. Vielleicht bin ich naiv.» Sibyl Eigenmann, Die Mitte
Frauen leiden laut Forschung psychisch stärker als Männer. «Frauen werden im Durchschnitt weniger stark wettbewerbsorientiert sozialisiert und bringen zudem mögliche Diskriminierungserfahrungen mit», so Stahel. Bei Angriffen könnten diese Vorerfahrungen das Gefühl von Stress verstärken. «Sollten Politikerinnen deshalb häufiger ausscheiden, könnte das der Entwicklung hin zu einer gleichberechtigten Politik schaden.»
«Viele Menschen haben den Eindruck, dass Osteurpäer*innen nicht mehr diskriminiert werden. Kommentare und Nachrichten, die ich auf Social Media erhalte, zeigen das Gegenteil. Den Hass öffentlich zu machen ist wichtig aber auch heikel, insbesondere wenn man eine Karriere in der Politik anstrebt. Rassismus und Migration sind wichtige Themas aber mein persönliches Kerngebiet in der Politik ist die Bekämpfung der Klimakrise.» Tanja Miljanović, GFL
Die Mehrheit der belästigten Ratsmitglieder hat in der Umfrage angegeben, die Anfeindungen ignoriert zu haben. Einige haben darauf geantwortet, zwei sich rechtlich gewehrt. Viele haben bereits selbst Massnahmen ergriffen, um sich vor künftigen Angriffen zu schützen: Eine Telefonnummer eigens für Stadtrat-Angelegenheiten; die Wohnadresse geheim halten; wenige Informationen zum Privatleben teilen; Schlagfertigkeit trainieren.
Das Ratssekretariat ist sich offenbar des Themas bewusst. Auf der Website des Stadtrates hat es eine Liste veröffentlicht mit Tipps, wie sich belästigte Stadträt*innen verhalten können.