Der Gerichtssaal als Protestbühne
Im Frühling gehen die Berner Klimaprozesse weiter. Mit zunehmender Dauer der Verfahren bröckelt jedoch die Entschlossenheit einiger Aktivist*innen für den juristischen Weg.
Am 21. September 2020 zogen um die 400 Menschen auf den Bundesplatz. Sie forderten eine klimagerechte Welt und Netto Null Emissionen bis 2030.
Im Parlamentsgebäude tagten derweil die eidgenössischen Räte – Demonstrationen auf dem Bundesplatz waren deswegen nicht erlaubt. Stadt und Polizei duldeten jedoch die Aktivist*innen, auch der Wochenmarkt konnte stattfinden.
Dann die Wende: In der Nacht auf den 23. September räumte die Kantonspolizei den Platz auf Anordnung der Berner Stadtregierung. 200 Aktivist*innen wurden kontrolliert, 80 verhaftet.
Welche Wirkungen der «Rise up for Change»-Protest (RUFC) auf politischer und gesellschaftlicher Ebene lostrat, lässt sich schwer fassen. Doch für einzelne Aktivist*innen gab es juristische Folgen – in Form von Strafbefehlen, die einige Monate später in ihren Briefkästen lagen.
Anfang 2021 erhielt Mara, die eigentlich anders heisst, einen Strafbefehl. «Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen» und «Hinderung einer Amtshandlung» werden ihr vorgeworfen. Von anderen RUFC-Teilnehmer*innen vernahm sie gleiches. Insgesamt stellte die Berner Staatsanwaltschaft 151 Strafbefehle aus. Die meisten Menschen akzeptierten sie.
Nicht so Mara und ihre 17 Mitstreiter*innen. «Wir haben uns zu einem ‹Legal Team› zusammengeschlossen, um koordiniert vor Gericht zu gehen.» Denn wer einen Strafbefehl anfechtet, wird zu einer Gerichtsverhandlung eingeladen. Keine leichte Sache für juristische Lai*innen. So war auch ein Gründungsgrund des Legal Team, sich gemeinsam juristisches Wissen anzueignen und zu teilen.
Zentral aber war der politische Aspekt. Mara: «Der Bundesplatz war die erste Bühne unseres Protests, der Gerichtssaal sollte die zweite werden.» Der RUFC-Protest reiht sich ein in die Geschichte des zivilen Widerstands: Menschen protestieren friedlich gegen eine Politik, die aus ihrer Sicht falsch läuft. Ob auf der Strasse, oder im Gerichtssaal.
Bundesgericht lehnt Vereinigung ab
Als Vorbild für das Berner Legal Team dienten die Prozesse von Klimaaktivist*innen in Lausanne, über die viele Medien prominent berichtet hatten – und so den Anliegen der Aktivist*innen erneut Aufmerksamkeit bescherten. Die erste Instanz sprach sie frei, die zweite schuldig. Das Bundesgericht bestätigte den Schuldspruch, worauf die Aktivist*innen eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg einlegten, die noch hängig ist.
Um geeint vor Gericht ziehen zu können, beantragte das Berner Legal Team, alle einzelnen Verfahren zu einem einzigen zusammenzuschliessen. So gäbe es nur eine Verhandlung, dafür eine grössere. Und mehr Medienaufmerksamkeit, so die Hoffnung der Aktivist*innen. Doch das Regionalgericht Bern lehnte den Antrag ab, später auch das Bundesgericht.
Für den Berner Rechtsanwalt und SP-Stadtrat Dominic Nellen ist es unverständlich, warum die Verfahren nicht vereinigt und zusammen behandelt werden: «Diese Einzelbehandlung ist weder effizient noch sinnvoll.» Die Kosten seien höher und die Verteidigung der einzelnen Betroffenen schwieriger. Er habe den Eindruck, dass das Gericht verhindern will, dass die Betroffenen eine gemeinsame Bühne erhalten.
So stand zwei Jahre nach dem Protest auf dem Bundesplatz der erste Aktivist alleine vor Gericht. Das Regionalgericht Bern sprach Emil, der auch anders heisst, schuldig. Er legte Berufung ein. Aber nach der Lektüre des begründeten Urteils akzeptierte er den Schuldspruch. «Ich tauschte mich mit meinem Anwalt und dem Legal Team aus. Die Chancen, vor Obergericht zu gewinnen, wären minimal gewesen.» Das Risiko, noch höhere Anwalts- und Prozesskosten anzuhäufen, hingegen sehr gross.
Bei der Lektüre des begründeten Urteils von Emil, das der «Hauptstadt» vorliegt, fällt auf, dass sich das Gericht kaum mit den inhaltlichen Anliegen des Protests beschäftigt hat. Zwar sei es legitim, so schreibt das Gericht, auf den Klimawandel hinzuweisen – jedoch nicht mit illegitimen Mitteln wie einer unbewilligten Protestaktion.
«Richter*innen handeln immer politisch»
Die meisten Richter*innen würden es ablehnen, sich mit der Problematik des Klimawandels näher auseinanderzusetzen, schreibt der Sozialwissenschaftler Jevgeniy Bluwstein in einer juristischen Fachzeitschrift. Er leitet an der Universität Bern das vierjährige Forschungsprojekt «Verrechtlichung der Klimapolitik durch Klimaaktivismus und Klimaprozesse in der Schweiz». Dazu hat er mehr als 200 Urteile gesichtet, die in der Schweiz im Zusammenhang mit Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen die Klimapolitik ergangen sind.
Bluwstein beobachtet, dass viele Aktivist*innen und ihre Anwält*innen die Prozesse als politischen Akt darstellen, während die Richter*innen betonen, dass Klimapolitik nicht in den Gerichtssälen gemacht werde. Dieser Haltung widerspricht Bluwstein: «Richter*innen haben einen Spielraum, wie sie die Gesetze auslegen. Dadurch ist ihr Handeln immer politisch.» Er versteht die Aktionen des zivilen Ungehorsams darum als Kampf für Grundrechte und gegen staatliche Repression.
Das Recht auf Protest zu verteidigen, war für Emil ein wichtiger Grund, Einsprache gegen seinen Strafbefehl zu erheben. «Mir geht es darum, dass Polizei und Staatsanwaltschaft sorgfältig arbeiten müssen. Es darf nicht sein, dass sie Copy-Paste-Strafbefehle erlassen, sondern jeden Fall einzeln anschauen.» Ansonsten würden Menschen abgeschreckt, an weiteren Kundgebungen teilzunehmen.
Die Taktik anpassen
Das Gericht bezeichnete Emils Prozess als «Pilotprozess». Diesen Charakter hatte er auch für das Legal Team. Emils Taktik vor Gericht war, die aus seiner Sicht mangelnde Beweislage zu beanstanden. Doch sie verfing nicht, weil das Gericht den Prozess zweimal unterbrach, um zusätzliche Beweismittel einzuholen. «Meine Mitstreiter*innen können daraus lernen und eine andere Strategie fahren.»
Das tat Caterina Toffoletto, deren Verhandlung im letzten November stattfand und die mit ihrem richtigen Namen an die Öffentlichkeit tritt. Sie argumentierte, dass ihr Protest ein legitimes Interesse verfolgte und von der Versammlungs- und Meinungsfreiheit geschützt sei. Doch auch sie wurde vom Regionalgericht Bern verurteilt. Anders als Emil akzeptiert sie ihren Schuldspruch nicht und will vors Obergericht ziehen. Wann die Verhandlung stattfindet, weiss Toffoletto noch nicht.
Die Terminplanung der Gerichte und die unberechenbare Taktik der Aktivist*innen erschwert, den Überblick über die Verfahren zu behalten. Am 28. März hätte der dritte erstinstanzliche RUFC-Prozess am Regionalgericht Bern stattfinden sollen. Doch die angeklagte Person hat ihre Einsprache zum Strafbefehl zurückgezogen. Nach Angaben des Gerichtssekretärs ist die nächste RUFC-Verhandlung für Mitte April geplant. Und während Emil schon verurteilt worden ist und Caterina Toffoletto auf ihren Termin vor dem Obergericht wartet, wurde Mara noch gar nicht vom Gericht aufgeboten.
Sie wird es wahrscheinlich auch nicht mehr. Denn sie hat vor, ihre Einsprache gegen den Strafbefehl zurückzuziehen und die Strafe zu akzeptieren. In den drei Jahren, die ihr Verfahren schon dauert, hat sich ihre Einstellung dazu verändert. «Anfangs war ich überzeugt, dass Klimaproteste nicht nur auf der Strasse, sondern auch vor Gericht stattfinden müssen. Und ich wollte das Recht, protestieren zu dürfen, verteidigen.» Dass die Gerichte die Vereinigung der Verfahren abgelehnt haben, sei für sie ein grosser Dämpfer gewesen: «Mir ist es wichtig, dass mein Prozess einen politischen Effekt hat. Aber den sehe ich nicht, wenn ich alleine vor Gericht stehe.»
Prozesskosten
Nebst emotionaler und juristischer Unterstützung möchte das Legal Team seinen Mitstreiter*innen bald auch finanzielle Unterstützung bieten. «Wir möchten ein Crowdfunding machen, aber die Details stehen noch nicht fest», erzählt Mara.
Rund 10’000 Franken hat Emils Prozess gekostet. Die eine Hälfte bezahlte er selbst, die andere deckten Spenden.
Fast noch einschneidender als die Kosten empfindet Emil aber den Eintrag ins Strafregister, den seine Verurteilung zur Folge hatte. «Kürzlich musste ich an einem Bewerbungsgespräch erklären, wie der Eintrag zustande gekommen ist.» Den Job habe er trotzdem gekriegt. «Aber ich finde es unangenehm, mich im beruflichen Umfeld derart persönlich und politisch exponieren zu müssen.» Und nicht alle Arbeitgebenden hätten so viel Verständnis wie in seinem Fall.
Mara und Emil führen ihr Engagement gegen die Klimakrise abseits des juristischen Weges weiter. Sie nehmen an Demos teil und unterstützen andere Aktivist*innen bei ihren Tätigkeiten. Sie wollen sich nicht einschüchtern und einschränken lassen von möglichen staatlichen Repressionen – sondern ihre Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsäusserungsreiheit aktiv ausüben.