Willkommen an der Bernstrasse
Zollikofen ist eine Verkehrshölle. Die pausenlos befahrene Bernstrasse zerschneidet das Dorf. Und doch liegt das Herz der Agglogemeinde an diesem Schmelztiegel.
Die Bernstrasse ist kein Ort zum Verweilen – und trotzdem spielt sich an ihr das pralle Leben ab.
20’000 Autos passieren täglich die Bernstrasse, die quer durch Zollikofen führt. Das sind fast doppelt so viele, wie die Agglogemeinde Einwohner*innen hat. Und es sind mehr als auf der Gotthard-Autobahn, auf der im Schnitt 16'000 Fahrzeuge pro Tag verkehren. Die Bernstrasse ist neben der Autobahn A1 die Hauptverkehrsachse aus Norden nach Bern.
Die Avia-Tankstelle preist Bleifrei für 1.93 Franken an, die Coop-Tankstelle gleich daneben auch. Ein oranger RBS-Bus, vollgestopft mit Menschen, fährt vorbei. Am Bahnhof stehen die Massen, sie warten auf das orange RBS-Bähnli, das sie in neun Minuten nach Bern bringt. Morgendliche Stosszeit.
Die Läden sind noch zu, später wird es Bubble Tea, Sushi und billiges Gemüse im türkischen Supermarkt geben. Jetzt hat nur der Coop Pronto geöffnet, Arbeiter kaufen Schoggi-Gipfeli und Red Bull, die sie sich im Gehen einverleiben. In den Geruch von Benzin mischt sich der süssliche Duft von Frischbackware.
Der Verkehr rollt. Und rollt und rollt. Auto an Lastwagen an Auto, dazwischen ein Elektrovelo. Es ist laut. Am Abend, wenn die Fahrzeuge oft stehen müssen, sind sie etwas leiser. Jetzt, nach der morgendlichen Stosszeit, fahren sie so schnell, dass man die Strasse nur auf einem Zebrastreifen überqueren will.
In anderen Gemeinden wäre im Zentrum der Gemeinde, also an der Bernstrasse zwischen dem Coop- und dem Unterzollikofen-Kreisel, eine Dreissiger- oder Vierzigerzone markiert. Da abends sowieso Stau herrscht, wäre der Pendler*innenverkehr davon praktisch nicht tangiert.
Ampeln, keine 40er Zonen
Doch im Norden Berns hat sich das kantonale Tiefbauamt entschieden, einen anderen Weg zu gehen. Derzeit werden sogenannte Dosieranlagen in Betrieb genommen. Sie sollen den Verkehr verflüssigen. Sobald er im Zentrum zu stocken beginnt, werden die Fahrzeuge am Dorfeingang aufgehalten. Davon nimmt der Verkehr nicht ab – aber er wird besser verteilt. Das Projekt startet etappenweise im Oktober und soll bis nächsten Frühling ganz umgesetzt sein.
Vor dem Rüedu in der Nähe des Bahnhofs küsst sich ein Paar innig, bevor die Frau im Container-Hofladen verschwindet. Rüedu hat mittlerweile in der ganzen Region und gar in Zürich Ableger, doch Zollikofen war 2020 einer der ersten Läden der Kette. Trendige Urbanität in der Agglogemeinde. Der Geruch von der nahe gelegenen Rösterei sorgt für Kaffeegelüste. Aber die Cafeteria des Altersheims auf der anderen Strassenseite beim 2018 fertiggestellten und sogar preisgekrönten Senevita-Komplex, ist mit einem Vorhang vor neugierigen Blicken geschützt.
Städtische Food-Trends
Erfolgsversprechender scheint das Café Pinocchio, im selben Gebäude wie das Altersheim zwischen einem Hörgeräte-Hersteller und dem Coiffeur Florida. Die Strasse ist schwierig zu überqueren. Auf der anderen Strassenseite angekommen, gibt es fast einen Zusammenstoss mit einem Elektrovelo, das aufs Trottoir ausgewichen ist, weil ein Lastwagen angehalten hat, um abzubiegen. Velostreifen gibt es stadteinwärts keinen. Das Leben einer Fussgängerin ist hier fast so aufregend wie im wilden Westen.
Maria Shatrova hat das Café seit acht Uhr geöffnet, sie freut sich über den ersten Gast. «Montags ist immer wenig los», sagt sie. Das Café Pinocchio heisst erst seit drei Monaten so, vorher gehörte es zur kroatischen Gastrokette Mlinar. Jetzt setzt es auf städtischen Trendfood: Pinsa Romana, ein pizzaähnliches Gebäck, das seit etwa einem Jahr in Bern für Furore sorgt. Zollikofen ist früh auf den Zug aufgesprungen – ob die Zollikofer*innen sich dafür erwärmen können? Burek und Cevapi seien immer noch auf der Karte zu finden, beruhigt Shatrova. «Unsere kroatischen Stammgäste wollen das so.» Das Café ist zwar an der Strasse gelegen – und doch so unscheinbar angeschrieben, dass es nicht auffällt und nicht nur montags oder morgens ziemlich leer wirkt. Dabei kommen die Gäste laut Shatrova von weit her.
Voller ist es im McDonald’s, dort, wo es Richtung Autobahn und Münchenbuchsee geht. Der Drive-In des Fast-Food-Restaurants ist den ganzen Tag über beliebt, das Restaurant ist am Mittag gut gefüllt. Bestellt wird per Touch Screen, ein persönlicher Kontakt ist nicht mehr nötig. Und – der Stimmung nach zu schliessen – auch nicht gesucht. Die sehr durchmischt wirkenden Kund*innen scheinen froh, beim Pommes- und Burgeressen nicht sprechen zu müssen und ungestört ins Handy schauen zu können. Wer sich mit Zollikofer*innen austauschen will, geht definitiv nicht in den McDonald’s.
Aber wohin dann?
Fitness-Studio-Konkurrenz
Auf die Fenster des Fitnessstudios B-Fit hat jemand mit dem Finger «13.30» in den Staub geschrieben. Eine Verabredung? Schemenhaft sieht man durch die verdunkelte Glasfront jemanden auf einem Hometrainer trampeln. Das Abo gibt es hier für 39 Franken im Monat. Direkt über der Strasse ist die grössere und schreiender wirkende Konkurrenz, Discount Fit eingemietet. Auch hier ist eine Mitgliedschaft für 39 Franken möglich. Beide Fitnessstudios sind gesäumt von einem Hörgerätehersteller – perfekt direkt neben dem Altersheim gelegen. Und so ergibt sich über die Bernstrasse hinweg ein Spiegelbild. Zweimal Fitness, zweimal Hörgeräte. Oder: Die Marktwirtschaft lebt.
Um die beiden Fitnessstudios ranken sich in Zollikofen Gerüchte. Ein ehemaliger Mitarbeiter soll die Strassenseite gewechselt und mit B-Fit ein konkurrierendes Unternehmen eröffnet haben. Diese Geschichte geben mehrere Zollikofer*innen zum Besten, erhärten lässt sie sich nicht. Fakt ist: Zuerst war Discount Fit, dann B-Fit. Beide sind gleich teuer (nachdem Discount Fit den Preis gesenkt hat) – und beide werben sich immer wieder Kund*innen ab.
Ist es das Zentrum?
Um den Coop-Kreisel wirkt Zollikofen am ehesten, als hätte es ein Zentrum. Es ist der historische Kern, auch wenn davon von der Bernstrasse aus nicht viel zu sehen ist. Im Coop-Restaurant sitzen die Leute auf der Terrasse gegen die Bernstrasse an der Sonne, geniessen den wunderbaren Herbsttag. Zollikofens Gemeindepräsident Daniel Bichsel findet gar, Coop und Migros seien der Treffpunkt, der Dorfplatz der Gemeinde, hier treffe man sich am Samstagmorgen beim Einkaufen.
Ein paar Schritte neben dem Coop befindet sich noch so etwas wie ein Dorfplatz, mit arenamässigen Betonstufen am Rand, auf die man sitzen könnte. Im Winter gibt es manchmal Marktstände. Jetzt ist der Platz leer bis auf einen Arbeiter, der am Boden kauert und ein Sandwich isst. Das sieht nicht wirklich bequem aus.
Am Rand des Platzes sind die Türen eines niedrigen Baus weit geöffnet. «Diaspora TV» steht auf einem Schild. Seit April 2021 befindet sich hier die Redaktion des Schweizer TV-Senders, der Sendungen in mittlerweile 18 Sprachen anbietet – und gerade während der Corona-Zeit wichtig war, um fremdsprachige Communities in der Schweiz zu informieren.
Camelia Capraru ist Projektmanagerin bei Diaspora TV, sie bespricht mit ihrem Kameramann gerade einen Dreh, während sie rasch das Büro wischt. «Kommt nur herein», sagt sie. Die Räume sind klein, aber einladend. Vor der grasgrünen Wandverkleidung werden jeweils die Nachrichten verlesen. Camelia Capraru sagt, sie lasse am Morgen die Türen oft offen. «So kommt frische Luft in die Räume.» Gleichzeitig kämen auch ab und zu spontan Passant*innen rein.
In Zollikofen sei das Startup Diaspora TV, das vorher kleinere Räume in Köniz hatte, sehr herzlich aufgenommen worden. Auch Gemeindepräsident Daniel Bichsel habe schon vorbeigeschaut, sagt Capraru. Am 1. August hat Diaspora TV zur Feier, dass der Sender seit neuestem auf Swisscom TV ausgestrahlt wird, ein Fest gemacht auf dem Platz vor dem Studio, mit Musik und Essen. 1. August à la Bernstrasse, Botschafter*innen aus aller Welt schauten vorbei.
Die Redaktion von Diaspora TV fühlt sich wohl in Zollikofen. «Wir gehen hier essen, zur Post, zum Copy Shop – und sogar ins Fitness-Studio», sagt Capraru. An der Bernstrasse in Zollikofen gebe es alles, was man brauche. Camelia Capraru hat sich deshalb auch schon überlegt, ganz nach Zollikofen zu ziehen.
Wo immer etwas los ist
Tatsächlich, an der Bernstrasse reiht sich Coiffeur-Geschäft neben Textilreinigung neben Blumenladen neben Elektro-Fahrzeugshop. Dort gibt es Pizzerien, ein asiatisches Restaurant, einen Döner. Und noch eine Tankstelle. Und in der Mitte der Strasse einen Streifen mit hübschen roten Pflastersteinen.
Leonora ist hier, oberhalb des Solariums, aufgewachsen. «Ich lebe sehr gerne an der Bernstrasse, es ist immer etwas los, man bekommt viel mit», sagt die junge Frau, die im Fitnessstudio weiter oben jobbt. Einmal habe sie gar einen Banküberfall auf die Valiant-Bank mitverfolgt. Sie gehe gerne ins Coop-Resti, und sie finde es toll, dass man zu Fuss einkaufen gehen könne. Auf die Autos angesprochen, meint sie, ja, das sei vielleicht das einzig Negative an der Bernstrasse. Aber das werde durch all das Positive ausgeglichen.
Und dann – einen Moment Ruhe
In Unterzollikofen gibt es Bänkli unter schattenspendenden Eichen. Ein Brunnen, auf dem die Daten des Mittelländischen Schwingfests eingraviert sind. Das letzte fand 2021 statt. In der Nähe sind Versicherungen und Banken, hinter den Selbstbedienungsschaltern der UBS hat sich ein asiatischer Schönheitssalon einquartiert. Als zum ersten Mal an diesem Tag für zwanzig Sekunden kein Auto vorbeifährt, hört man den Brunnen plätschern. Und man hört Kinderstimmen, die vom sehr gut besuchten Spielplatz auf der gegenüberliegenden Strassenseite hinüberwehen.
So könnte es auch sein, an dieser lauten Strasse, wo es doch noch einen Ort zum Verweilen gibt. Und wo sich die Kulturen treffen, wo immer etwas läuft. Die Bernstrasse ist ein Ort, der für Menschen wie Camelia Capraru oder Leonora sehr lebenswert ist. Weil er lebt und belebt ist.