Länggasse-Groove in Bremgarten

Soll das traditionell bürgerliche Bremgarten mit rot-grünen Verkehrsrezepten urbaner werden? Gemeindepräsident Andreas Schwab (SP) erläutert seine Offensive für mehr Lebensqualität in der eher autofreundlichen Gemeinde.

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Linker Pragmatiker: Gemeindepräsident Andreas Schwab auf dem «roten Platz» im Dorfzentrum Bremgarten. (Bild: Jonathan Liechti)

Andreas Schwab, Historiker, selbständiger Ausstellungsmacher und im Nebenamt Gemeindepräsident von Bremgarten, beschäftigt sich gerne damit, wie Menschen aus Konventionen ausbrechen. Letztes Jahr publizierte er ein Buch mit dem Titel «Zeit der Aussteiger», in dem er sich mit Künstler*innenkolonien beschäftigt, die im 19. und 20. Jahrhundert Gegenentwürfe zur Mehrheitsgesellschaft zu leben versuchten.

Intensiv befasste sich Schwab mit den Exzentriker*innen auf dem Monte Verità im Tessin. Auf dem Hügel bei Ascona liege «die Basis für mein berufliches Schaffen», sagt Schwab, der intensiven Kontakt mit dem Kurator Harald Szeemann pflegte. Dieser erregte in den 1960er-Jahren internationales Aufsehen, als er als Direktor die Berner Kunsthalle von Christo und Jeanne Claude einpacken liess. Später zog Szeemann ins Tessin.  

Andreas Schwab ist kein Künstler im Tessin, sondern linker Realist im bürgerlichen Bremgarten bei Bern. Aber Visionen faszinieren ihn. Deshalb möchte Sozialdemokrat Schwab in seinem Nebenleben als Lokalpolitiker einer gewagten Idee zum Durchbruch verhelfen. Seine eher gemütliche Gemeinde soll urbaner werden, und das hat viel mit Verkehrspolitik zu tun.

Andreas Schwab steht jetzt, nach einem kräftigen Vormittagsregen, in der Dorfmitte in Bremgarten, auf der einen Seite das Alterszentrum und die Haltestelle des Bernmobil-Busses, vis-à-vis die Migros. Dazwischen zieht sich wie ein Strich die Strasse, auf der gross die Zahl 20 aufgemalt ist. «Das ist eine der wenigen Kantonsstrassen, die zu einer Begegnungszone mit Tempo 20 gemacht worden ist», sagt Schwab. Und deutet damit an, in welche Richtung die Reise gehen soll.

Strassen als Lebensraum

Seit den Wahlen von 2019 ist Schwab Gemeindepräsident, erstmals seit über 60 Jahren schaffte es ein SPler an die Spitze der Gemeinde. Die FDP verlor einen Sitz an die Grünen. Dank den Grünliberalen blieb die bürgerliche Mehrheit zwar intakt, aber die Grünfärbung ist stärker geworden. Das ermöglicht, unter anderem, neue verkehrspolitische Lösungen.

Bewohner*innen aus verschiedenen Bremgartner Quartieren hätten in den letzten Jahren den Wunsch geäussert, in ihrer Wohnumgebung mehr Tempolimiten und Begegnungszonen einzuführen, sagt Schwab. Die öffentlichen Strassen sollen als Lebensraum nutzbar gemacht werden. Es sind Rezepte für das urbane Zusammenleben, die in der rot-grünen Stadt Bern seit Jahren dezidiert umgesetzt, aber politisch auch heftig diskutiert werden. 

Schwab allerdings verstehe sich nicht als «linker Ideologe, der jetzt die Chance sieht, mein verkehrspolitisches Credo durchzusetzen», wie er festhält. Obschon Schwab, Vater dreier Kinder, nicht Autobesitzer ist, sondern Velofahrer. Aber das spiele bei seinem Engagement als Politiker keine Rolle. «Wir stellen fest, dass der Verkehr in Bremgarten zunimmt, aber gleichzeitig immer mehr Menschen finden, dass das ihre Lebensqualität beeinträchtigt». Darauf müsse man politische Antworten finden.

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Soll in Bremgarten normal werden: Begegnungszone mit Tempo 20 im Dorfzentrum (Bild: Jonathan Liechti)

Diese liegen nicht einfach auf der Strasse. In einer Gemeinde des oberen Mittelstands wie Bremgarten, in der der Anteil von Autobesitzer*innen sichtbar hoch ist, bedeuten Verkehrsmassnahmen, dass sich fast alle mindestens ein bisschen einschränken müssen. Die Suche nach politischen Mehrheiten ist deshalb kompliziert. Und trotzdem entschied sich der Gemeinderat gegen die Salamitaktik, Tempo 30 oder Begegnungszonen mit Tempo 20 einfach nur an Strassen einzuführen, an denen gerade der Wunsch besteht. «Wir streben eine innovative, gesamtheitliche Lösung an», sagt Schwab.

Höchsttempo 40

Der Gemeinderat liess bei einem Planungsbüro ein flächendeckendes Gesamtkonzept für die Verkehrsberuhigung erarbeiten. Höchstgeschwindigkeit in Bremgarten wird nicht mehr Tempo 50 sein, sondern Tempo 40. Geplant sind zudem zusätzliche Tempo-30-Abschnitte sowie drei neue Begegnungszonen (Tempo 20), neben der bestehenden am Dorfplatz. Übermorgen Montagabend wird der Gemeinderat seine Pläne an einer Informationsveranstaltung darlegen. Im Dezember soll die Gemeindeversammlung entscheiden, ob das grün angehauchte Verkehrsregime eingeführt werden soll.

«Unser Plan ist gut überlegt und abgestützt», sagt Schwab, «aber ich rechne damit, dass es auch Widerstand geben wird.» Ob das Vorhaben in der Abstimmung im Winter an der Gemeindeversammlung eine Chance habe, könne man nicht voraussagen – wenn es in Bremgarten eine harte verkehrspolitische Debatte gebe, sei die Mobilisierung für die Gemeindeversammlung entscheidend. «Ich finde es wichtig», sagt Schwab, «diese für die Zukunft der Gemeinde zentrale Frage demokratisch zur Diskussion zu stellen.» Wie auch immer der Entscheid ausfalle: Die Verkehrspolitik in Bremgarten sei dann breit abgestützt. 

Wenn Schwab über Verkehrsmassnahmen redet, denkt er nicht nur an die Mobilität. Sondern vor allem an das Lebensgefühl in Bremgarten. Schwab gefällt das mediterrane Ambiente in Stadtberner Quartieren wie der Lorraine, wo er arbeitet, oder an der Mittelstrasse in der Länggasse, die an Sommerabenden zum hippen Quartiertreffpunkt geworden sind. Die Kehrseite dieser Entwicklung, die Verdrängung weniger gut bemittelter Menschen durch die Verteuerung der Wohnungen, droht im gut situierten Bremgarten nicht.

Diamant auf dem Dorfplatz

Die Gemeinde baut deshalb bei der Begegnungszone vis-à-vis der Migros einen neuen Dorfplatz, der dem Lehrbuch für Planer*innen rot-grüner Städte entstammen könnte. Der neue Bremgartner Dorfplatz wird klimagerecht entsiegelt sein, darauf kommt ein multifunktionaler Pavillon mit zusammenschiebbaren Glaswänden zu stehen. Hier sollen sich eine Pop-up-Bar einrichten, Marktstände stehen, spontane Kulturveranstaltungen stattfinden können. Der Name des Pavillons: Diamant.

Ein kleines, feines urbanes Zentrum, fast, als wäre Bremgarten ein Quartier der Stadt Bern? Etwas vom utopischen Flair der Aussteiger*innen vom Monte Verità hat der Pragmatiker Andreas Schwab doch aufgesogen. 

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