Schmerz – «Hauptstadt»-Brief #225
Samstag, 30. September 2023 — die Themen: Flucht aus Bergkarabach; Wahlen 2023; Eritrea; Asylunterkunft; Galenica-Turm; Helvetiaplatz; Klimademo. Berner Kopf der Woche: Thomas Harnischberg.
Vor zwei Tagen rief ich eine Bekannte an. Eine Armenierin, die seit über 15 Jahren als Computerspezialistin in Bern lebt und Wurzeln in Bergkarabach hat. Jene Bergregion südlich des Kaukasus, aus der Armenier*innen jetzt nach der Eroberung durch Aserbaidschan fliehen müssen.
Es wurde ein aufwühlendes Gespräch. Aus verschiedenen Gründen möchte sie nicht, dass ihr Name publiziert wird. Aber sie ist einverstanden, dass ich hier kurz wiedergebe, was sie mir erzählte.
An das wilde, fruchtbare Karabach (armenisch: Arzach) hat sie aus ihrer Kindheit intensive Ferienerinnerungen, «die nach Honig riechen», wie sie lachend sagt. Bis zum blutigen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan von 2020 lebten enge Verwandte von ihr in einem Dorf in Arzach, ehe sie in die armenische Hauptstadt Jerewan flohen.
«Man lässt sein Leben zurück. Arbeit, Häuser, Gärten, Nachbarschaft. Von heute auf morgen. Unwiderruflich», sagt sie. Das ist der Schmerz, der jetzt Zehntausenden widerfährt, die in langen Fahrzeugkolonnen erzwungen aus Arzach abreisen. Für immer. Oft traumatisiert, weil sie zuvor neun Monate lang von der Aussenwelt abgeriegelt waren. Teilweise hätten die Geflüchteten nicht einmal genügend Kleider dabei.
Meine Bekannte versucht von Bern aus, Hilfe zu koordinieren. Armenien sei nicht vorbereitet auf so viele ankommende Menschen. Zwar stellten Armenier*innen solidarisch Zimmer zur Verfügung, aber das reiche wohl nirgends hin. Es fehlen Medikamente, Jobs – und Zukunftsperspektiven: «Viele Armenier*innen hoffen diffus, dass ihnen der demokratische Westen irgendwie zu Hilfe eilt», sagt sie. Gleichzeitig liege auch in Jerewan in vielen Haushalten der Notfall-Rucksack bereit, wegen der Angst, Aserbaidschan rücke ganz nach Armenien vor. Nach dem Modell des russischen Angriffs auf die Ukraine.
Ruhelos pendelt meine Bekannte zwischen zwei Welten. Tagsüber das arbeitsame, behütete Mittelstands-Leben in Bern, abends Chats und Telefonate nach Armenien und mit der armenischen Community in der Schweiz. Sie fragt sich: Soll sie jetzt wie geplant mit ihrem schulpflichtigen Kind nach Armenien fliegen? Ist es zu riskant? Könnte sie dort überhaupt sinnvoll Hilfe leisten?
Klare Antworten hat sie nicht. Gibt es nicht.
Und das gebe ich dir ins Wochenende mit:
Wahlen 2023: In drei Wochen sind eidgenössische Wahlen. Das wichtigste Ziel: eine hohe Wahlbeteiligung. Die «Hauptstadt» bemüht sich, dazu beizutragen. Indem sie niederschwellig den Weg durch den Wahldschungel erklärt. In einer leichtfüssigen Stafette Kandidierende kurz zu Wort kommen lässt. Und – ich schwöre es – Politik sogar unterhaltend macht. Am 11. Oktober laden wir in die Berner Rathaus-Bar ein zum Pubquiz mit Politiker*innen aller Parteien – von SVP bis Grüne. Corina Liebi, Janosch Weyermann, Sibyl Eigenmann, Natalie Imboden, Tobias Frehner und Vanessa Bieri freuen sich, wenn du dabei bist. Willst du Teil eines Teams werden? Come on! Hier kannst du dich anmelden.
Migration: An sogenannten «Eritrea-Festivals» in der Schweiz kam es in den vergangenen Wochen wiederholt zu Gewaltexzessen. Was ist los? Der Berner Jurist Metkel Yosief seziert für die «Hauptstadt» die Probleme in der eritreischen Diaspora.
Asylunterkunft: Das Staatssekretariat für Migration will in der unterirdischen Zivilschutzanlage Allmend an der Mingerstrasse ab 9. Oktober bis Februar 2024 300 Unterbringungsplätze für Asylsuchende in Betrieb nehmen. Die Behörden befürchten einen Engpass an Plätzen. Betreut würden die Asylsuchenden von Personal der Firma ORS. Unterirdisch sei das, kritisiert das Solidaritätsnetz Bern.
Wohnungsbau: Der Hauptsitz des Apothekenkonzerns Galenica zwischen Bern und Bümpliz soll saniert und bis 2030 um 69 Wohnungen ergänzt werden. Das teilt die Medienstelle der Credit Suisse mit, deren Immobilienfonds den Umbau verantwortet. Der «Galenica-Turm» befindet sich neben dem Parkplatz im Untermattquartier, den die Stadt Bern für 3,7 Millionen Franken kaufen und zum Quartierplatz machen will. Die Referendumsabstimmung darüber findet am 19. November statt.
Entsiegeln: Die Stadt Bern startet im Oktober mit Bauarbeiten für eine punktuelle Aufwertung des Helvetiaplatzes. Dank Entsiegelung der Fläche beim Welttelegrafen-Denkmal, Bäumen in Trögen und flexiblem Sitzmobiliar soll der Platz klimafreundlicher werden, schreibt die Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Zudem werden 19 Parkplätze aufgehoben.
Schönes Wochenende!
PS: Zwar befindet sich gefühlt halb Bern zwecks Sommerverlängerung am Mittelmeer. Doch die nationale Klimaallianz ruft für heute Samstag nach Bern zur nationalen Klimademo (14 Uhr, Bollwerk, danach Bundesplatz). Gefordert wird Klimagerechtigkeit. Drei Wochen vor den Wahlen dürfte das auch ein Event sein, an dem die Grünen gegen die prognostizierte Wahlniederlage ankämpfen.
Berner Kopf der Woche: Thomas Harnischberg
Am Dienstag verkündete Bundesrat Alain Berset (SP) die Krankenkassenprämien für 2024. Es war der erwartete Prämienschock, der viele Familien bis in den Mittelstand leer schlucken lässt. Auch Thomas Harnischberg (61), Chef der Berner Krankenkasse KPT, muss wohl ab und zu leer schlucken. Allerdings nicht, weil er die Prämien seiner Familie nicht mehr bezahlen könnte: Er verdient über 500’000 Franken im Jahr.
Das Problem ist der Jo-Jo-Effekt seiner Kasse: Vor einem Jahr stand die KPT zu ihrer eigenen Überraschung in vielen Regionen der Schweiz als Kasse mit den tiefsten Prämien da. 200’000 Personen wechselten mit einem Schlag zu ihr, was sie beinahe kollabieren liess. Harnischberg navigierte die KPT souverän durch den Sturm, indem er Probleme sofort ansprach. Weil die KPT ihre Prämien per 2024 relativ stark erhöht, wird sie viele Kunden wohl wieder verlieren.
Überhaupt ist Harnischberg für einen Krankenkassen-Chef ungewöhnlich offen. Vielleicht, weil er erst mit fast 60 Jahren an die Spitze aufstieg und die Imagepolitur weniger gewichtet. In den 90er-Jahren gehörte er zu den legendären «Ogi-Boys» um den damaligen SVP-Bundesrats Adolf Ogi. Die Boys entfachten viel Wind im Bundeshaus, Harnischberg scheute auch Konflikte nicht, Ogi entliess ihn.
Der leutselige KPT-Chef ist YB-Fan (und die KPT Leibchensponsor), legt aber auch gerne als DJ auf. Er versteht sich als wertkonservativ, will aber andere Meinungen hören. Als Bewohner des Kirchenfelds reibt er sich gerne an der Politik der rot-grünen Stadtregierung. Im Unterschied zu anderen Krankenkassen-Chefs war Harnischberg letzte Woche bereit, bei SRF zu seinem Lohn Stellung zu nehmen. Das macht das Salär zwar nicht nachvollziehbarer. Aber er hält den Kopf hin. Immerhin.