Moralische Expertise und Missbrauch
Das Ausmass der Missbräuche in der katholischen Kirche ist grösser als befürchtet. Die neuen Befunde lassen unseren Kolumnisten darüber nachdenken, ob es Expert*innen in Sachen Moral gibt.
Ich bin in einem katholischen Land aufgewachsen, habe am katholischen Religionsunterricht teilgenommen, bin mit meinen Eltern jeden Sonntag zur Messe gegangen. Immer wenn im Mai der Flieder blüht, erinnere ich mich an die glücklichen Tage vor meiner Erstkommunion. Daran, wie aufregend es war, mit den anderen Jungs in schlecht sitzenden Anzügen, mit den Mädchen in ihren weissen Kleidchen in den ersten Reihen unserer Kirche Platz zu nehmen und darauf zu warten, dass ich gleich nach vorne gehen, mit den anderen vor dem Altar knien würde, den Blick gesenkt, bis der Pfarrer mir die geweihte Hostie auf die vorsichtig ausgestreckte Zunge legt.
Inzwischen habe ich ein ziemlich distanziertes Verhältnis zur einzig wahren Kirche. Andererseits: So ganz wird man die katholische Kirche nicht los, und so berühren mich die in regelmässigen Abständen auftauchenden Berichte von Missbrauchsskandalen auf doppelte Weise. Einmal ganz allgemein, weil ich mit den Opfern mitfühle und Wut auf die Täter und die Personen, die sie gedeckt haben, empfinde. Und dann noch einmal individuell und persönlich, weil ich noch ein unmittelbares Gespür für die Atmosphäre habe, in der solche Missbräuche haben stattfinden können.
Mit den Jahren komme ich mir dabei immer mehr wie jemand vor, der gerade noch davongekommen ist. Der eigentlich nur Glück hatte in dem Hochrisiko-Milieu der Soutanenträger.
Die Schweizer katholische Kirche ist kein Sonderfall
Nun also auch die Schweiz. Wie hätte es auch anders sein können? Wundert es wirklich jemanden? Wie wir seit Mitte September wissen, ist das Ausmass der sexuellen Missbräuche in der katholischen Kirche in der Schweiz weitaus größer als bisher gedacht. Historiker*innen der Universität Zürich weisen in einer Vorstudie nach, dass in der Schweiz seit den 1950er-Jahren 1002 Fälle von sexuellem Missbrauch aufgedeckt worden sind. Die Forscher*innen gehen von einer grossen Dunkelziffer aus. Politiker*innen zeigen sich schockiert und betroffen.
Dass irgendetwas an den spezifischen Strukturen der katholischen Kirche dafür sorgt, dass Geistliche zu Sexualtätern werden, hätte man sich allerdings schon länger denken können. Schockierend ist eher, wie sehr sich die Skandale gleichen: Die USA, Irland, Chile, Österreich, Deutschland, Polen. Seit einem Vierteljahrhundert wird weltweit aufgedeckt, und es ist immer die gleiche Geschichte: Priester missbrauchen, werden versetzt, Akten werden weggepackt, strafrechtliche Verfolgung möglichst verhindert. Bis alles doch rauskommt. Oder man nicht anders kann als auszupacken.
Selbstverständlich fehlt es nicht an Deutungen dieser für manche offenbar immer noch überraschenden Korrelation zwischen Missbrauch und Katholizismus. Die Autor*innen der Studie benennen völlig zu Recht, wie mir scheint, die spezifisch katholischen Machtstrukturen als den zentralen Faktor.
Als jemand, der eine katholische Kindheit erlebt hat, kommt mir eine spezielle Facette dieser Erklärung besonders einleuchtend vor. Sie lässt sich zunächst mit dem Begriff der Moralexpertise umschreiben, der im Zentrum einer seit einigen Jahren geführten Debatte an der Grenze zwischen Moralphilosophie und Erkenntnistheorie steht.
Ohne Expertise sind wir aufgeschmissen!
Expert*innen sind Personen, die sich in einem bestimmten Gebiet besonders gut auskennen. Es ist wichtig, dass es sie gibt, weil wir von ihnen Dinge erfahren können, die uns ansonsten verschlossen bleiben würden. Sie sind eine Quelle des Wissens, kann man sagen, und in manchen Fällen sogar die beste Wissensquelle, die uns zur Verfügung steht.
Es mag überraschend klingen, aber fast alles, was wir wissen, wissen wir aus zweiter Hand. Wir haben ja nicht selbst herausgefunden, dass es auf der Mondrückseite einen riesigen Krater gibt, dass am 14. Juli 1789 die Bastille gestürmt wurde oder dass Asbest krebserregend ist. Wir wissen es, weil jemand es uns mitgeteilt oder diese Information in einem Medium – einem Handbuch, einem Atlas, einer Videodokumentation – festgehalten hat, das wir bei Bedarf zur Rate ziehen können.
Menschen behaupten allerdings Vieles, und selbst wenn wir keinen Grund zu der Annahme haben, dass sie uns bewusst täuschen wollen, können wir nicht immer automatisch davon ausgehen, dass sie sich in den Dingen, über die sie uns etwas mitteilen, auch tatsächlich gut auskennen. Deswegen haben Menschen im Verlauf der Jahrhunderte ein komplexes System der Überprüfung und Kennzeichnung von Expertise geschaffen: Wenn mein Onkel mir erzählt, dass es auf der Mondrückseite einen riesigen Wald gibt, eine promovierte Astrogeologin dies aber bestreitet, weiss ich sofort, an wessen Meinung ich mich bis auf Weiteres halten sollte.
Expert*innen für Moral?
Nun reden wir auch im Zusammenhang mit Fragen der Moral sehr selbstverständlich in der Kategorie des Wissens. Die meisten von uns würden sagen, dass sie wissen, dass bestimmte Dinge wie Mord oder Folter moralisch verwerflich sind. Und manchmal entschuldigen wir die Handlungen von Personen damit, indem wir sagen, dass sie nicht wussten, dass diese Handlungen moralisch verboten sind.
Es ist sehr wichtig zu wissen, was moralisch richtig und falsch ist, aber in vielen Fällen sind wir uns diesbezüglich nicht sicher. Auch in diesem Bereich wäre es sehr hilfreich, wenn wir uns auf die Hilfe von Expert*innen verlassen könnten.
Doch kann es so etwas wie Moralexpert*innen überhaupt geben? Für gläubige Katholik*innen ist die Antwort klar: Die Geistlichen der katholischen Kirche werden von ihnen in Fragen der Moral als Experten betrachtet, deren Urteil über «richtig» oder «falsch» sie sich in jedem Fall anvertrauen können. Nun gibt es auch andere Religionen, Weltanschauungen oder Wertegemeinschaften, in denen einzelnen Personen eine besondere Expertise in moralischen Dingen zugeschrieben wird, ohne dass sich daraus ein strukturelles Missbrauchsproblem ergibt.
Es gibt ein weit verbreitetes Bedürfnis nach Orientierung in moralischen Angelegenheiten, und manche Menschen versuchen eben so gut es geht, dieses Bedürfnis zu befriedigen.
Die moralische Autorität des katholischen Geistlichen
Genau an diesem Punkt muss ich immer wieder daran denken, wie ich selbst die katholische Kirche und ihre Geistlichen als Kind erlebt habe. Sie waren für mich nicht nur Menschen, die orientierungsbedürftigen Gemeindemitgliedern ihre moralische Expertise angeboten haben. Sie waren vielmehr Wesen, die mit einer ganz besonderen moralischen Autorität ausgestattet waren. Und wenn ich in diesem Zusammenhang von «Wesen» rede, dann meine ich, dass sie für uns gewissermassen ausserhalb des Kreises der gewöhnlichen Menschen standen, weil sie einen unmittelbaren Kontakt zu dem transzendenten Bereich hatten, aus dem sich für uns Gläubigen nun mal wirklich alles speiste, was mit Gut und Böse zu tun hatte.
Wenn man mir als Kind erzählt hätte, dass meine Klassenlehrerin beim Brötchenklauen erwischt worden ist, hätte ich es früher oder später geglaubt. Hätte jemand dasselbe von einem unserer Pfarrer behauptet, hätte ich Mühe gehabt überhaupt zu verstehen, was man mir sagt.
Ich glaubte an einen gütigen Gott, und ich glaubte, dass seine Güte hienieden durch diese schwarzgekleideten Männer zum Ausdruck kommt. Deswegen musste ich beschämt meinen Blick abwenden, als ich einmal einen unserer jüngeren Pfarrer am Strand in Badehose gesehen habe. Es war ein fast schon zu irdischer Kontext für das, wofür dieser Geistliche für mich stand.
Es gab für viele von uns Kindern nichts, was erstrebenswerter wäre und einen glücklicher machen konnte, als von diesen Menschen gelobt oder gar gemocht zu werden. Die Hand, die einem über den Kopf streichelt, fühlte sich wie Gottes Liebe an, von der ansonsten immer viel die Rede war.
Die Last, davon zu berichten, dass man von diesen Händen missbraucht wurde, muss riesig sein. Und selbst wer die Kraft aufbringt, das Unvorstellbare in Worte zu fassen, muss immer noch damit umgehen, von Menschen umgeben zu sein, die von der moralischen Autorität des jeweiligen Täters ausgehen und einem nicht glauben werden.
Erwachsene sind vielleicht weniger naiv als Kinder, andererseits gibt es kaum ein besseres Training im Aushalten kognitiver Dissonanz als katholisch zu sein. Was nicht sein darf, ist nicht passiert. Da macht es keinen Unterschied, dass andere Kinder sich über Ähnliches beschwert haben, wie der eigene Sohn, die eigene Tochter. Und schliesslich muss gefragt werden, was es mit einem Menschen macht, wenn er auf diese Weise nicht nur für einen Moralexperten, sondern für die Verkörperung der Moral gehalten wird. Oder zumindest davon ausgehen muss, dass seine Opfer es sehr schwer haben werden, sich mit etwaigen Anklagen Gehör zu verschaffen.
Also doch lieber keine Moralexpert*innen?
Sollten wir also vielleicht insgesamt Abstand nehmen von der Idee einer genuin auf Moral zielende Expertise? Oder gibt es Moralexpert*innen, deren Urteil wir vertrauen können, wann immer wir nicht wissen, ob etwas moralisch erlaubt ist oder nicht? Obwohl ich selbst Moralphilosophie betreibe und Vorlesungen über ethische Probleme halte, bin diesbezüglich eher skeptisch. Wenn mit Moralexpert*innen Menschen gemeint sein sollten, deren Urteile wir «einfach so» übernehmen, wie wir der Astrogeologin aufs Wort glauben, wenn sie uns etwas über die Beschaffenheit der Mondrückseite sagt, dann glaube ich nicht, dass es diese Expert*innen gibt.
Eine Moralexpert*in zu sein, kann aber auch noch etwas anderes bedeuten: Es kann sich dabei um Menschen handeln, die ausführlich über moralische Fragen nachgedacht und dieses Nachdenken systematisiert haben, zudem viele Erfahrungen mit moralrelevanten Situationen gehabt haben und mit uns auf dieser Grundlage einen erhellenden Dialog über Fragen der Moral führen können.
So verstanden, begegnen Moralexpert*innen orientierungsbedürftigen Personen im Modus der gemeinsamen Reflexion. Sie verkünden keine «ewigen Wahrheiten», sondern helfen uns dabei, den Kern eines moralischen Problems zu verstehen, damit wir selbst klarer zu sehen vermögen, wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten sollten.
Eine Voraussetzung für diese Form der Expertise ist eine Haltung, an der es einigen katholischen Geistlichen, die mir begegnet sind, gemangelt hat. Eine Haltung, für die sich ein etwas antiquiert klingendes Wort verwenden lässt – Demut. Wie angedeutet, ist es in der Regel von grösster Bedeutung für uns, Moralexpertise identifizieren zu können. Echte Moralexpert*innen lassen sich gut daran erkennen, dass sie in einem Gespräch auch mal sagen: «Ich weiss es doch auch nicht.»
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.