Fassadenflecken als ziviler Ungehorsam?
Ein Neubau in der Lorraine wurde noch vor dem Bezug mit Farbe beschmiert – und unser Philosophie-Kolumnist fragt: Ist das ziviler Ungehorsam gegen die Gentrifizierung oder einfach nur schlechter Protest?
Ich mochte die Lorraine von Anfang an. Doch in all den Jahren, seit ich in Bern angekommen bin, hat sich das Quartier sehr verändert. Nicht alle dieser Veränderungen gefallen mir. Wollte man Prozesse der Gentrifizierung studieren, man hätte zwischen Nordring und Aare ganz besonders viel Anschauungsmaterial.
Ich bin diesbezüglich durchaus ambivalent. Einerseits bin ich selbst Bestandteil des Problems, weil ich hier meinen Kaffee trinke und meine T-Shirts einkaufe. Andererseits scheint die Lorraine sozial immer gleichförmiger zu werden. Solche Prozesse lassen sich auch in anderen Teilen von Bern beobachten, in der Lorraine sind sie aber besonders sichtbar.
Das mag der Grund dafür sein, dass man hier immer wieder an neu gebauten oder sanierten Häusern vorbeiläuft, bei denen jemand die Fenster eingeschmissen oder die Fassaden mit Farbbeuteln beworfen hat. Solche Akte der Sachbeschädigung sind gesetzeswidrig. Doch manchmal höre ich das Argument, dass sie unter die Kategorie des zivilen Ungehorsams fallen und deshalb moralisch legitim sind. Ist an so einer Argumentation etwas dran?
Moralische Motive allein reichen nicht
Ziviler Ungehorsam besteht in der Verletzung von rechtlichen Normen, sonst wäre es kein Ungehorsam. Aber selbstverständlich ist nicht jede Gesetzesübertretung ein Akt zivilen Ungehorsams. Üblicherweise wird angenommen, dass eine Handlung aus moralischen Motiven zu erfolgen hat, um als ein Fall von zivilem Ungehorsam zu gelten.
Die meisten Gesetzesbrüche finden aus reinem Eigennutz statt, oder vielleicht auch, weil man sich in einer bestimmten Situation nicht beherrschen kann. Das sind keine moralischen Motive. Die beteiligten Personen selbst, seien es Ladendiebe oder Mörder, würden dies in der Regel auch nicht behaupten.
Die moralische Motivation allein macht aus einer Gesetzesübertretung aber noch keinen Akt des zivilen Ungehorsams. Wenn ich bestimmte Gesetze nicht befolge, weil sie meiner Auffassung von Moral widersprechen, dies aber nicht öffentlich mache, dann handelt es sich dabei ebenfalls nicht um zivilen Ungehorsam. Eine Person, die etwa aus religiösen Gründen den Kriegsdienst verweigert, ohne dies an die grosse Glocke zu hängen, legt keinen zivilen Ungehorsam an den Tag.
Die Botschaft ist zentral
Zum zivilen Ungehorsam gehört eine Botschaft: Man handelt aus moralischen Gründen und möchte gleichzeitig öffentlich kommunizieren, dass etwas, das von Gesetzen gedeckt ist, moralisch problematisch ist. Ziviler Ungehorsam ist auf diese Weise immer eine im weitesten Sinne politische Handlung.
Als Rosa Parks sich auf den ihr gesetzlich verbotenen Platz in einem Bus gesetzt hat, war das eben nicht nur ein privater Akt der Nichtbefolgung eines Gesetzes, das sie für unmoralisch gehalten hat – es war gleichzeitig die Anklage eines ganzen politischen Systems.
Wie der Name es schon verrät, muss ziviler Ungehorsam aber auch noch zivil sein. Was ist mit dieser Bedingung gemeint? In der philosophischen Diskussion scheiden sich an dieser Frage die Geister.
Ziviler Ungehorsam ist gewaltlos
Auf der einen Seite wird unter «zivil» verstanden, dass die relevanten Formen des Ungehorsams die jeweilige Rechtsordnung nicht grundsätzlich in Frage stellen. Wer dieser Auffassung ist, versteht zivilen Ungehorsam als einen notwendigen aber lediglich punktuellen Gesetzesbruch, der symbolischen Charakter hat und andere Bürger*innen zu einem Dialog über bestimmte sozialpolitische Missstände einlädt.
Gegner dieser Ansicht machen darauf aufmerksam, dass auch in Unrechtsregimes politische Akte möglich sind, die wir als zivilen Ungehorsam klassifizieren würden. Solche Handlungen lassen sich aber nicht mehr als «zivil» im Sinne einer grundsätzlichen Zustimmung zu den bestehenden Rechtsverhältnissen verstehen: Man denke hier etwa an die mutigen iranischen Schülerinnen, die seit vergangenem Herbst gegen die Hijab-Pflicht verstossen, um das iranische Regime zu kritisieren.
Um solche Fälle einzuschliessen, wird als Minimalbedingung für Zivilität das Kriterium der Gewaltlosigkeit vorgeschlagen. Was zivilen Ungehorsam auf diese Weise zivil macht, ist demnach, dass die betreffende Rechtsverletzung keine Gewaltausübung beinhaltet. Denkt man an klassische Beispiele für zivilen Ungehorsam, etwa den Salzmarsch von Mahatma Gandhi oder den Montgomery-Busboykott, so scheint ihnen auch tatsächlich gemeinsam zu sein, dass sie auf friedliche Weise abgelaufen sind.
Auch ein kaputtes Fenster verursacht Schaden
An dieser Stelle taucht das erste Problem für die Vertreter*innen der Ansicht auf, dass es sich bei der gentrifizierungskritischen Beschädigung von Fenstern und Fassaden um eine Form des zivilen Ungehorsams handelt. Es ist ja nicht ganz friedlich, was da passiert. Zwar kommen keine Personen zu Schaden, so dass es eher unangemessen wirkt, in solchen Fällen von Gewaltanwendung zu reden, aber es lässt sich nicht bestreiten, dass ein kaputtes Fenster mit einem finanziellen Schaden einhergeht.
Nun kann man sich trefflich darüber streiten, ob die Abwesenheit von materiellem Schaden eine notwendige Bedingung für die Zivilität eines ungehorsamen Aktes ist. Wer etwa die Sitzblockade von Klimaaktivist*innen als einen Akt des zivilen Ungehorsams versteht, wird diese Frage verneinen wollen: Immerhin erzeugen Sitzblockaden ebenfalls finanzielle Schäden.
Gegner*innen der Auffassung, dass das Zerstören von fremdem Eigentum kompatibel mit zivilen Ungehorsam ist, können allerdings folgendermassen argumentieren: Die historisch wichtigste Form des politischen Ungehorsams ist der Widerstand mit militärischen Mitteln.
Der ganze Witz an der Kategorie des zivilen Ungehorsams besteht darin, eine Abgrenzung zu solchen bewaffneten Formen des politischen Ungehorsams zu schaffen. Und wer die Zerstörung von fremdem Eigentum für kompatibel mit zivilem Ungehorsam hält, droht diese wichtige Unterscheidung aufzuweichen.
Eine Reaktion auf Ungerechtigkeit
Selbst wenn man diese Problematik ausser Acht lässt, ist nicht jeder zivile Ungehorsam automatisch legitim. Anders gesagt: Nur weil eine Handlung sich als ziviler Ungehorsam klassifizieren lässt, heisst das noch nicht, dass sie moralisch gerechtfertigt ist.
John Rawls, der wohl einflussreichste Theoretiker des zivilen Ungehorsams im vergangenen Jahrhundert, macht hier auf zwei Punkte aufmerksam: Ziviler Ungehorsam ist nur dann gerechtfertigt, wenn er erstens eine Reaktion auf eine wesentliche Ungerechtigkeit darstellt und wenn zweitens alle gesetzeskonformen Alternativen zur Beseitigung dieser Ungerechtigkeit ausgeschöpft wurden.
Nehmen wir an, dass es den Personen, die in der Lorraine Fenster und Fassaden beschädigen, darum geht, den Gentrifizierungsprozess aufzuhalten oder darauf aufmerksam zu machen, dass der Immobilienmarkt schreiende Ungerechtigkeiten generiert. Diese Anliegen mögen in der Sache richtig sein und auf wichtige Probleme hinweisen.
Aber einerseits scheint das Arsenal an alternativen Massnahmen zur Lösung dieser Probleme noch nicht völlig leer zu sein. Das Bewusstsein für städtebauliche Ungerechtigkeiten wird in unserer Gesellschaft immer grösser, und es ist unbedingt zu begrüssen, wenn Politiker*innen und Bürger*innen sich dieser Problematik mit allen Mitteln, die unser demokratisches System bereithält, annehmen.
Andererseits lässt sich zumindest darüber streiten, ob im Fall der Gentrifizierung von einer wesentlichen Ungerechtigkeit die Rede sein kann. Rawls versteht darunter die Einschränkung der Grundfreiheiten von Bürger*innen und schliesst andere Formen von Ungerechtigkeit explizit aus.
Verunglückter Widerstand
Wenn Personen aufgrund ihrer Hautfarbe der Zugang zu politischen Ämtern verwehrt wird oder wenn ein Staat die Rede- oder Religionsfreiheit einschränkt, dann könnten dies Gründe für zivilen Ungehorsam sein. Wenn eine sechsköpfige Arbeiter*innenfamilie sich keinen Wohnraum in der Stadt mehr leisten kann, weil kinderlose Doppelverdiener*innen bereit sind, das Doppelte für eine 4.5- Zimmerwohnung zu bezahlen, dann mag das ungerecht sein, aber diese Ungerechtigkeit legitimiert noch keinen zivilen Ungehorsam.
Nehmen wir aber trotzdem an, dass es ein Akt des zivilen Ungehorsams sein kann, eine Fensterscheibe zu zerschlagen oder eine Häuserfassade mit Farbe zu beschmutzen, um auf soziale Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Es bleiben dann immer noch Fälle übrig, die man selbst mit viel Wohlwollen nur als verunglückte Akte zivilen Ungehorsams bezeichnen kann.
Daran musste ich denken, als ich die ersten Farbbeutel-Flecken an der Fassade des neu errichteten Wohnhauses am Centralweg 15 gesehen habe. Das Haus wurde von der Stadt gebaut. Mehr als die Hälfte der Wohnungen wird an Personen mit kleinerem Einkommen vermietet. Die Stadt hat es sich zudem zum Ziel gemacht, auf eine diverse Mieter*innenauswahl zu achten.
Ein guter Anfang?
Ist das die perfekte Lösung für die Probleme in der Lorraine? Werden damit soziale Ungleichheiten auf einen Schlag beseitigt? Natürlich nicht. Aber es sieht auf den ersten Blick wie ein guter Anfang aus. Zumindest ist nicht sofort zu erkennen, woran denn eine Person, die das Haus mit einem Farbbeutel beworfen hat, sich stören könnte.
Geht es darum, dass die Mieter*innen kein Auto besitzen dürfen? Teilt hier jemand die von der SVP propagierte Ansicht, dass günstiger Wohnraum falsche Anreize setzt? Dass die neuen Mieter*innen sich entscheiden könnten, mehr Freizeit zu haben und auf Kinder aufzupassen, statt «richtig» arbeiten zu gehen? Sind die Wohnungen gar zu luxuriös für Geringverdienende? Man weiss es nicht.
Der Bau am Centralweg 15 demonstriert allerdings, dass es kein Naturgesetz ist, dass Wohnraum in der Stadt für immer mehr Menschen unbezahlbar wird. In dieser Hinsicht ist er ein Fanal gegen die nahezu schon perversen Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt.
Es gibt ja immer noch Menschen, die der Auffassung sind, dass alles besser wird, wenn der freie Markt sich selbst reguliert. Vielleicht waren es also kapitalistische Libertäre, die mit dem Farbbeutel ihren Protest anmelden wollten? Auch das weiss man nicht. Ziviler Ungehorsam oder nicht – ein Protest, der solche Verwirrung schafft, ist in der Regel schlechter Protest.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.