Hurra, künstliche Intelligenz ist da!
Der Chatbot ChatGPT macht Schreibenden Konkurrenz. Ein exzellenter Grund, darüber nachzudenken, was Menschen auszeichnet und welche Dinge wirklichen Wert haben, findet Philosophie-Kolumnist Christian Budnik.
Wäre es nicht unglaublich witzig, wenn dieser erste Absatz meiner Kolumne nicht von mir, sondern von einem Algorithmus geschrieben wäre? Man würde die Kolumne lesen und sich nichts dabei denken, und im zweiten Absatz würde ich dann enthüllen: Es war kein Mensch, der den Text geschrieben hat, sondern ein schlaues Computerprogramm.
Okay, es wäre nicht witzig, und vor allem wäre es nicht gerade originell. Seit alle Welt von ChatGPT redet, habe ich Dutzende von Texten gelesen, die mit so einem Trick beginnen.
Für alle, die es verpasst haben: ChatGPT ist ein Programm, das Texte produziert, die in vielen Fällen ununterscheidbar von Texten sind, die Menschen schreiben. Man kann in ChatGPT alle möglichen Fragen oder Aufforderungen eintippen. Daraufhin generiert das Programm in der Regel sinnvolle, prägnant formulierte Texte, die auch meist der Wahrheit entsprechen.
Literaturanalysen und Saucenempfehlungen
«Warum sind Spaghetti besser als Tagliatelle?» – «Schreibe einen Absatz über das Bild des Engels in Rilkes Spätwerk.» – «Wie ersetze ich den Thermostat im Electrolux SK232?» – «Wie könnte man bezahlbaren Wohnraum in Bern schaffen?»
Auf alle diese Fragen hat mir ChatGPT Antworten gegeben, die mindestens als solide zu bezeichnen sind. Bei der Pasta-Frage wurde ich gerügt, es gäbe nicht so etwas wie die «bessere» Pasta. Es folgte eine detaillierte Aufzählung der Vor- und Nachteile von Spaghetti und Tagliatelle, inklusive Saucenempfehlungen. Die Rilke-Antwort war nicht brillant, enthielt aber zwei, drei subtile Einsichten über eine dezidiert nicht-christliche Auffassung des Göttlichen in den «Duineser Elegien». Auf die spezielle Wohnraumsituation in Bern konnte das Programm nicht eingehen, lieferte aber einen beeindruckenden Katalog von Massnahmen, die in anderen Städten erfolgreich waren. Wollte ich wirklich meinen Kühlschrank reparieren, würde ich mir definitiv die Antwort von ChatGPT ausdrucken.
Man muss nur eine Viertelstunde mit dem Programm spielen, bis man feststellt: Das alles funktioniert wirklich erstaunlich gut.
Von der Niederlage für den Schachweltmeister…
Hinter ChatGPT steht die US-Firma OpenAI, zu deren Geldgebern Elon Musk und Microsoft gehören. Das allein ist schon ein Grund, etwas unruhig zu werden. Das Programm selbst beruht auf maschinellem Lernen, einem Forschungszweig der Informatik, der zur Entwicklung von künstlicher Intelligenz (KI) gehört. Beim maschinellen Lernen werden Computerprogramme mit grossen Datensätzen dazu trainiert, eigenständig nach Lösungen für Probleme zu suchen.
Die Technologie macht atemberaubende Fortschritte. Das von der Firma IBM entwickelte Programm Deep Blue hat 1997 den Schachweltmeister Garri Kasparow noch mit reiner Rechenleistung schlagen können: Es berechnete im Durchschnitt 126 Millionen Stellungen pro Sekunde. Die modernen Formen maschinellen Lernens haben so ein ungehobeltes Vorgehen nicht nötig.
Das 2000 Jahre alte chinesische Brettspiel Go ist weitaus komplexer als Schach. Es galt eine Zeitlang als zu schwierig für einen Computer. 2016 dann die Sensation: Das von der Google-Tochter DeepMind entwickelte Programm AlphaGo hat es geschafft, einen professionellen Go-Spieler zu schlagen. AlphaGo wurde mit einem Datensatz aus Zügen vergangener Go-Spiele gefüttert und hat auf dieser Basis selbständig erfolgreiche Spielstrategien entwickelt.
…zur nächsten Stufe der narzisstischen Kränkung
Alles schön und gut, mag man denken, aber der Fall zeigt doch nur, dass Computer inzwischen vieles von uns Menschen lernen können. Mitnichten. 2017 folgte die nächste Stufe der narzisstischen Kränkung. Eine modifizierte Version von AlphaGo wurde lediglich mit den Spielregeln von Go ausgestattet, hat Millionen Spiele gegen sich selbst gespielt und aus diesen Partien so schnell gelernt, dass sie innerhalb von drei Tagen das ursprüngliche AlphaGo 100:0 schlagen konnte.
Als wäre das nicht genug, hat DeepMind wenige Monate später eine Version des Programms vorgestellt, die innerhalb von wenigen Stunden die Spiele Go, Schach und Shogi – die japanische Variante des Schachspiels – erlernt hat, ohne dass dem Programm menschliche Strategien als Lernbasis zur Verfügung gestellt wurden. Die Spielzüge, die AlphaZero einsetzt, können von menschlichen Spieler*innen zum Teil gar nicht mehr nachvollzogen werden.
Künstliche Intelligenz ist überall
Das unglaubliche Tempo, mit dem solche Entwicklungen vonstattengehen, gekoppelt mit der Unerklärbarkeit der Ergebnisse, die diese Technologien liefern, können Anlass zu Sorge geben. Künstliche Intelligenz ist heutzutage nicht mehr nur auf Brettspiele beschränkt. Sie ist überall. Wer ein Smartphone verwendet oder etwas im Internet sucht, verwendet Algorithmen, die auf verschiedenen Formen des maschinellen Lernens basieren.
ChatGPT ist da nur ein besonders aufsehenerregendes Beispiel. Weil es mit Eingaben einer natürlichen Sprache arbeitet, zeigt es uns auf drastische Weise, wie mühelos wir zu Ergebnissen gelangen können, die eine nahezu grenzenlose Bandbreite an Anwendungsgebieten haben. Wer sich davon nicht beeindrucken lassen möchte, wird ChatGPT sehr schnell Fragen stellen können, bei denen das Programm an seine Grenzen stösst. Und dennoch steht es in manchen Bereichen jetzt schon in ernsthafter Konkurrenz zu uns Menschen.
Ein Albtraum für Lehrende
Letzte Woche war ich dabei, ein Handout für einen Vortrag vorzubereiten. Als mir keine knackigen Formulierungen mehr einfielen, habe ich angefangen, ChatGPT mit Fragen zu löchern. Die Antworten waren nicht besonders tiefgründig, aber präzise genug, dass ich mir meine eigene Mühe bedenkenlos hätte sparen können.
Ich habe es nicht getan, weil es sich nach Betrug angefühlt hat. Würde es genügen, eigene Fragen eingegeben zu haben, um davon reden zu können, dass ich es war, der das Handout produziert hat?
Das Rilke-Beispiel, das ich eingangs angeführt habe, deutet auf eine verwandte Problematik. Schon heute fragen sich Lehrende in Schulen und an Universitäten, wie sie kontrollieren sollen, ob Hausarbeiten tatsächlich von Schüler*innen und Studierenden geschrieben wurden. Plagiatssoftware ist keine Lösung. Immerhin generiert ChatGPT immer neue Antworten auf dieselben Fragen.
Und was ist eigentlich mit all den Menschen, die einer Arbeit nachgehen, bei der auf die eine oder andere Weise Texte produziert werden? Informationsbroschüren, Protokolle, Stellungnahmen, Gutachten. Es sieht so aus, als ob all das in naher Zukunft von künstlichen Intelligenzen geschrieben werden wird. Sie werden ihren Job effizienter machen, und sie werden ihn günstiger erledigen. Dasselbe gilt für eine ganze Reihe anderer Berufsfelder, in denen es nicht nur um die Produktion von Texten geht.
Am Inselspital erkennen Algorithmen Lungenembolien
Vor gut zwei Jahren hat am Inselspital das «Center for Artificial Intelligence in Medicine» seine Arbeit aufgenommen. Bereits heute kommen verschiedene Formen künstlicher Intelligenz in der medizinischen Praxis zum Einsatz. Auf Nachfrage hat mir die Kommunikationsabteilung des Inselspitals mitgeteilt, dass zum Beispiel in der kardiovaskulären Radiologie in Bern Lungenknoten oder Lungenembolien durch KI-Algorithmen automatisch auf CT-Bildern erkannt und gemeldet werden, was zu einer schnelleren und genaueren Diagnose führen kann.
Weltweit durchforsten künstliche Intelligenzen Millionen medizinischer Bilddaten auf der Suche nach Hautkrebs-Melanomen oder diabetischer Retinopathie. Diese Technologien unterstützen zurzeit menschliche Ärzt*innen in ihrer diagnostischen Arbeit. Weil sie Menschenleben zu retten helfen, ist ihr Einsatz zu begrüssen.
Allerdings scheint die Zeit nicht mehr weit entfernt, da KI-Algorithmen völlig eigenständig Diagnosen stellen und Therapievorschläge machen. Und es kann sein, dass wir dann, ähnlich wie beim Go-Spiel, gar nicht mehr verstehen werden, wie sie zu ihren Ergebnissen gekommen sind.
Patient*innen, die sich in einer menschenleeren Praxis eine KI-generierte Diagnose abholen? Noch vor fünf Jahren hätte ich das für eine alarmistische Vorstellung gehalten. Heute bin ich nicht mehr so sicher.
Mehr Optimismus als Angst
Dennoch macht mir die Vorstellung einer Welt, in der Algorithmen einen Grossteil der Aufgaben übernommen haben, die heutzutage von Menschen erledigt werden, nicht nur Angst. Mehr als vielleicht jede andere technologische Neuerung stellen die verschiedenen Formen künstlicher Intelligenz eine Herausforderung für uns als Gesellschaft dar. Aber es sind mit ihnen auch grosse Chancen verbunden, die mich insgesamt optimistisch stimmen.
Der Grund dafür ist, dass künstliche Intelligenz uns zum Nachdenken darüber zwingt, was uns Menschen eigentlich auszeichnet und welche Dinge wirklichen Wert haben. Im Bereich der Medizin etwa könnte der flächendeckende Einsatz von KI-Algorithmen eine Reflexion darüber auslösen, wie wir das Verhältnis zwischen Ärzt*innen und Patient*innen gestalten wollen. Diese Reflexion könnte dazu führen, dass wir das Paradigma der Nutzenmaximierung im Gesundheitswesen verabschieden und für Ärzt*innen den Raum schaffen, den sie brauchen, um sich ihren Patient*innen wirklich zu widmen und Vertrauensbeziehungen mit ihnen aufzubauen.
Möglicherweise wäre es für Patient*innen gar nicht so schlimm, dass sie von einem Algorithmus diagnostiziert werden. Wenn sie denn im Ausgleich dazu mehr Aufmerksamkeit von ihren Ärzt*innen bekommen würden – Aufmerksamkeit, für die heutzutage gerade an Spitälern oft gar keine Zeit ist, mit dem Ergebnis, dass manche Patient*innen sich von der Schulmedizin verraten fühlen.
Zwischenmenschlicher Kontakt und Authentizität
Ich bin nicht naiv. Genauso gut kann es sein, dass Ärzt*innen mit der Einführung von KI-Technologien noch weniger Zeit haben werden, weil ihre Stellen zunehmend wegrationalisiert werden. Das ist aber keine zwangsläufige Entwicklung. Und vor allem ist es nicht ein Problem, das KI-inhärent ist, sondern eine gesundheitspolitische Herausforderung, mit der wir uns in einer Demokratie aktiv auseinandersetzen sollten.
Im medizinischen Bereich wäre es also der zwischenmenschliche Kontakt, dessen Wert uns künstliche Intelligenz vor Augen führen könnte. Im Bereich der Kunstproduktion könnte der Einsatz von KI-Algorithmen unseren Blick für den Wert von Authentizität und Individualität schärfen. Ich empfehle an dieser Stelle, ChatGPT nacheinander aufzufordern, ein Lied im Stil von Mani Matter und ein Lied im Stil von Helene Fischer zu texten.
Es ist nicht schwer zu erraten, in welchem Fall man sich leichter täuschen lassen könnte. Vielleicht wird es in Zukunft also keine Texter*innen für Schlagermusik und keine Autor*innen für Vampirromane mehr brauchen. Stattdessen könnten wir eine neue Wertschätzung dafür entwickeln, was es heisst, als Künstler*in ein Anliegen zu haben, schonungslos sich selbst gegenüber zu sein oder mit gesellschaftlichen Konventionen zu brechen.
Was bleibt, wenn Bürojobs überflüssig werden
Was bleibt dann aber für all die ehemals Beschäftigten übrig? Was ist, wenn Büros zunehmend leer werden, weil Algorithmen effizienter Akten bearbeiten und Anfragen beantworten?
Auch hier steckt eine Chance, vielleicht sogar die grösste von allen. In ihrer stupiden Effektivität, in der hohlen Zweckrationalität, mit der sie ihre Aufgaben erfüllen, werden KI-Algorithmen uns sehr bald daran erinnern, dass Akten zu bearbeiten das Leben nicht sinnvoller macht. Eher das Gegenteil ist der Fall.
Wie soll man sich aber eine Gesellschaft vorstellen, in der Millionen Menschen nach Sinn suchen, aber keine Arbeit mehr haben? Das ist die eigentliche Herausforderung von künstlicher Intelligenz.
Alle Horrorgeschichten von Robotern, die die Kontrolle über die Menschheit übernehmen, sind Kinderkram. Es geht um Folgendes: Wie wird unsere Gesellschaft damit umgehen, dass die Nachfrage nach Arbeit, die von Menschen verrichtet wird, innerhalb kürzester Zeit zusammenschrumpft? Wird es ein bedingungsloses Grundeinkommen geben? Vielleicht wird es dazu irgendwann keine Alternative mehr geben. Es ist also eine exzellente Idee, jetzt schon darüber nachzudenken. Und zwar ganz ernsthaft.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.