«Die Menschen sind einfach da»

Die Berner Gemeinderätin Franziska Teuscher möchte ein städtisches Ausweispapier, eine City Card, einführen, die auch Sans-Papiers erhalten können. Kann das funktionieren?

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Vision einer «offenen und solidarischen Stadt»: City Card Bern. (Bild: Silja Elsener)

Endlich, muss man sagen, bleibt es nicht mehr nur bei der Ansage. Letzte Woche teilte die Berner Stadtregierung mit, dass sie einen Projektierungskredit von 120’000 Franken bewilligt hat, um die Einführung eines städtischen Ausweises für alle, unabhängig von ihrem rechtlichen Aufenthaltsstatus, voranzutreiben.

Nach der Projektarbeit soll klar sein, wie eine Stadtberner City Card aussehen, wie sie eingeführt und was sie kosten würde. Anfang 2024, sagt die zuständige Gemeinderätin Franziska Teuscher (Grünes Bündnis), will sie die weiteren politischen Schritte zur Einführung des Ausweises aufgleisen.

Die City Card hat – nach dem Anstoss durch die Beratungsstelle für Sans-Papiers und der Plattform «Wir alle sind Bern» – eine jahrelange Karriere in städtischen Strategiepapieren hinter sich. Zuerst fand sie sich als Punkt 13 im «Schwerpunktplan Integration 2018 bis 2021» wieder, der Gemeinderat war «bestrebt», sie einzuführen. Im neuen «Schwerpunkteplan Rassismus und Migration 2022 bis 2025» figuriert die City Card bereits als Ziel Nummer zwei auf der Prioritätenliste: «Die Stadt Bern führt einen digitalen Ausweis für alle Bewohner*innen der Stadt ein.»

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(Bild: Silja Elsener)

Instrument progressiver Städte

Jetzt also wirds konkret: Die rot-grüne Stadtregierung ist entschlossen, den migrationspolitischen Spielraum auf ihrem Gemeindeterritorium soweit als möglich zu erweitern. Salopp gesagt: Die City Card soll die Realität der anwesenden Sans-Papiers – Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus – akzeptieren und die Stadt als Ort der Offenheit und der Solidarität positionieren. Womit sie allerdings gleichzeitig politischen und behördlichen Widerstand auslöst.

Die Soziologin Sarah Schilliger, die am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern arbeitet, setzt sich seit Jahren mit migrationspolitischen Initiativen in Städten auseinander. In einer vor wenigen Wochen veröffentlichten Vorstudie fächert sie zusammen mit den Jurist*innen Alexandra Büchler und Florian Weber Chancen und Hindernisse für die Umsetzung einer City Card in Bern auf.

«Hauptsachen»-Talk im Progr: Ein Ausweis für alle Städter*innen?

Am Donnerstag, 3. November, 19.30 Uhr, findet der zweite «Hauptsachen»-Talk, eine Kooperation zwischen der «Hauptstadt» und dem Kulturhaus Progr, statt. Das Thema: Braucht und will Bern einen Ausweis für alle Städterinnen? In Bern leben rund 1000 Sans-Papiers. Könnte die Stadt das Leben dieser Menschen verbessern, wenn sie mit der City Card eine eigene Identitätskarte einführt? Wir diskutieren Pro und Contra einer fortschrittlichen Migrationspolitik auf städtischer Ebene mit einer ehemaligen Sans-Papiers, der Soziologin Sarah Schilliger und dem Co-Leiter des Polizeiinspektorats, Alexander Ott. Moderation: Jürg Steiner, Journalist «Hauptstadt».

Weltweit treiben progressive Städte die Idee einer Urban Citizenship voran, um sich der häufig konservativeren Ausrichtung der nationalen Politik entgegenzustellen. Ein bekanntes – und von der Berner Stadtregierung 2019 während der letzten Legislaturreise besuchtes –  Beispiel ist die sizilianische Stadt Palermo. Sie setzt als «Stadt der Zuflucht» ein aktives Zeichen gegen die restriktive italienische Einwanderungspolitik. «Wer nach Palermo kommt, ist Palermitaner», deklarierte der frühere Stadtpräsident Leoluca Orlando das Credo von Palermo.

Die City Card ist ein mögliches Instrument, um Urban Citizenship konkret werden zu lassen. Sie funktioniert als städtische Identitätskarte, die laut Sarah Schilliger «Stadtbewohner*innen unabhängig von Nationalität und Aufenthaltsstatus Zugang zu städtischen Dienstleistungen gewährt und als Ausweisdokument gegenüber Behörden dient».

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(Bild: Silja Elsener)

New York vergibt seit 2015 City Cards. In der Schweiz gibt es erst zaghafte Ansätze: Die Stimmberechtigten der Stadt Zürich haben im Mai dieses Jahres die Idee, eine City Card einzuführen, hauchdünn angenommen.

Berner Migrationspolitik

Ist Bern bereit dafür? Zweifellos ist die Stadt Bern ein interessanter Fall. Einerseits hat sie seit 2008 keine eigene Polizei mehr, sondern kauft diese Leistungen bei der Kantonspolizei ein. Folge: Die Stadt kann patrouillierenden Kantonspolizist*innen nicht vorschreiben, welche Art Ausweis sie anzuerkennen haben.

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(Bild: Silja Elsener)

Andererseits verfügt die Stadt Bern in der Migrationspolitik auch über eigene Kompetenzen im Ausländerbereich. Bern hat mit der städtischen Fremdenpolizei eine eigene Migrationsbehörde, die selbständig über Aufenthalt und Niederlassung ausländischer Personen entscheiden kann, ohne dass jedoch Bundes- oder Kantonsrecht ausser Kraft gesetzt würde.

Praktisch bedeutet das: Der Stadt steht bei Härtefällen ein gewisser Handlungsspielraum offen. So etwa bei lange hier anwesenden, erwerbstätigen Sans-Papiers oder abgewiesenen Asylsuchenden, die nicht zurückgeschafft werden können. Oder zusätzlich bei Personen, welche während ihres Aufenthaltes Opfer von Menschenhandel oder Ausbeutung wurden.

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(Bild: Silja Elsener)

Alexander Ott leitet die Fremdenpolizei seit Jahrzehnten, unter ihm hat sich mit den NGOs im Migrationsbereich – der Beratungsstelle für Sans-Papiers etwa – eine pragmatische Zusammenarbeit etabliert. Ott selber fasst die Praxis auf Anfrage so zusammen: «Wir prüfen Härtefälle individuell, einzelfallbezogen und situationsgerecht, also gesamtheitlich.» Gesamtheitlich heisst, etwa der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die allermeisten Sans-Papiers arbeiten, finanziell unabhängig und nicht strafrechtlich verzeichnet sind, also vor Ort eine Nachfrage befriedigen. «Die Menschen sind einfach da, auch wenn sie es nicht sein dürften», sagt er. Es nütze nichts, davor die Augen zu verschliessen.

Aufenthaltsstatus wird nicht tangiert

Fällt die City Card in Bern deshalb auf besonders fruchtbaren Boden? Nicht unbedingt. Das arbeitet Sarah Schilliger in ihrer Vorstudie heraus: Eine City Card kann kantonales oder nationales Recht nicht übersteuern. Der Aufenthaltsstatus eines*r Sans-Papiers bleibt irregulär, auch wenn er*sie sich mit einer städtischen City Card ausweist, die über die Aufenthaltsberechtigung keine Auskunft gibt. Das bedeutet: Die permanente Angst, von der Polizei kontrolliert und vielleicht sogar zwangsausgeschafft zu werden, nähme die City Card den Sans-Papiers nicht.

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(Bild: Silja Elsener)

Trotzdem sieht die Wissenschaftlerin Schilliger in einer City Card Sinn und Potenzial. Unter der Bedingung, dass man den bisher forcierten engen Fokus, der sich auf den rechtlichen Spielraum für Sans-Papiers konzentrierte, ausweite. Es sei wichtig, hält Schilliger in der Vorstudie fest, dass die Idee der City Card in der breiten Stadtbevölkerung Fuss fasse und nicht bloss als Ausweis für Sans-Papiers verstanden werde.

«Wer in Bern lebt, ist Berner*in und hat gleichberechtigten Zugang zu städtischer Infrastruktur – das ist ein starkes Statement für eine lebendige städtische Demokratie. Und es wirkt den Ausschlüssen und Stigmatisierungen entgegen, die insbesondere Menschen ohne Schweizer Pass häufig in ihrem Alltag erleben», führt Schilliger aus. Die City Card stärke «das Gefühl, als Mitbürger*in anerkannt zu werden und Teil der Stadtbevölkerung zu sein».

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(Bild: Silja Elsener)

Von Bedeutung sei dies nicht nur für die migrantische Bevölkerung, sondern auch für trans-, inter- oder non-binäre Personen, die mit der City Card ihre eigene Geschlechtsidentität wählen könnten.  «Mit der City Card wäre es möglich, sich gegenüber städtischen Behörden auszuweisen, ohne dass ständig der ausländerrechtliche Status, die Herkunft, die Geschlechtsidentität oder andere sensible Merkmale offengelegt werden müssten.»

So argumentiert auch die zuständige Gemeinderätin Franziska Teuscher «Die City Card ist ein wichtiges Symbol einer Stadt für alle», hält sie auf Anfrage fest. «Jede Person kann sich mit der City Card ausweisen und hat so die Sicherheit, dass im Kontakt mit der Behörde keine weiteren sensiblen Personendaten nachgefragt werden.» Das sei heute für Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus genauso ein Problem wie für ausländische Personen generell oder Menschen mit nonbinärer Geschlechtsidentität.

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(Bild: Silja Elsener)

Heftige Debatte

«Wir alle, mit unseren unterschiedlichen Identitäten, verschiedenen Aufenthaltsstati und Hintergründen zeigen mit der City Card, dass wir eines gemeinsam haben: unser Lebensmittelpunkt ist Bern», sagt Teuscher. Daher sollten alle so verstandenen Stadtberner*innen «als gleichwertige Bürger*innen denselben Zugang zur Behörde haben und miteinander die Stadt gestalten können».

Das gelte eben auch für Sans-Papiers, findet Teuscher. Als Stadt zeige Bern mit der City Card, dass Sans-Papiers zu Bern und zum städtischen Alltag gehörten. «Wir nutzen die City Card als Instrument, um Sans-Papiers über ihre Rechte, die sie haben, zu informieren. Und wir geben Sans-Papiers etwas in die Hand, das sie bestärkt, ihre Rechte wahrzunehmen».

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(Bild: Silja Elsener)

Sie sei gespannt, sagt Teuscher, wie sich die Debatte um die City Card in den kommenden Monaten entwickle. Kritik wird kommen. Das steht ausser Zweifel. Der kantonale Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) hat schon öffentlich klar gemacht, wie wenig er von der Idee hält.

Auch Tobias Frehner, Präsident der Berner Jungfreisinnigen, positioniert sich als entschiedener Gegner. Die City Card sei «der Versuch, das demokratisch abgesegnete Ausländerrecht auf kommunaler Ebene zu unterlaufen», hält er auf Anfrage fest. Sie löse kein einziges Problem, im Gegenteil, die City Card fördere sogar Schwarzarbeit und die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte, weil sie eine Scheinlegalität für Sans-Papiers suggeriere.

Zudem sei der Zugang zu allen staatlichen Leistungen, die auf universalen Menschenrechten gründen, heute schon gewährleistet, namentlich in den Bereichen Bildung und Gesundheit.Die Stadt versuche eine eigene Migrationspraxis zu schaffen, indem sie mit der City Card gegen Bundesrecht verstosse, sagt Frehner..

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(Bild: Silja Elsener)

Franziska Teuscher entgegnet, dass Sans-Papiers mit der City Card «einen Identitätsbeleg erhalten, der ihnen Sicherheit und Selbstvertrauen geben soll». Kritiker*innen müssten zur Kenntnis nehmen, «dass wir die City Card so konzipieren, dass sie nicht gegen geltendes Recht verstösst.» Die City Card sei Teil der Art und Weise, wie die Stadt ihre Aufgaben erfülle und für die städtische Bevölkerung arbeite.

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Diskussion

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Maja Balmer
02. November 2022 um 10:03

Schön, dass über diese city card immer mehr öffentlich berichtet wird, noch schöner, wenn sie dann hoffentlich eingeführt wird!