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(Bild: Jörg Kühni)

Der hohle Zahn der Schweiz

Das neue Werk «suisseminiature» von Buchpreisträger*in X Schneeberger ist eine klaustrophobische Reise durch die Geschichte der Schweiz, ihre Gräueltaten und Bunkerlandschaften.

Swissminiatur: Die Schweiz im Kleinformat. In Melide (Tessin), wo das grösste Miniaturfreilichtmuseum der Schweiz steht, beginnt X Schneebergers Text. Jede Sehenswürdigkeit bildet den Auftakt zu einem neuen Kapitel. Zwischen den Stationen der Swissminiatur driftet die Erzählung mitsamt dem Protagonist*innen-Trio in den Schweizer Untergrund ab, fährt mit einem Van über Autobahnen und Alpenpässe und gräbt in persönlichen, schmerzhaften Erinnerungen des Ausgestossenseins. 

«suisseminiature» ist X Schneebergers zweiter Roman, nach dem gefeierten Debüt «Neon Pink and Blue», für den Schneeberger 2021 den Schweizer Literaturpreis erhielt. Schneeberger, im Aargau geboren und wohnhaft in Bern, studierte literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern und tritt als Dragqueen unter dem Namen X Noëme auf. 

Stimmengewirr

Die Erzählstimme in «suisseminiature» ist mehrstimmig: Zur Sprache kommen eine Dragqueen, ein Schwarzer DJ und eine Stripperin, deren Stimmen zuweilen verschmelzen, wie ihre Körper während der expliziten und lyrischen Sexszenen. Die drei ergänzen und kritisieren sich, erleben je ein anderes Aufwachsen in der Schweiz.

Da ist das jugendliche Transkind, von den Eltern nicht akzeptiert, das sein Geld mit Sexarbeit verdient, arm und drogenaffin: «Es gab dermassen hohe Preise, je nachdem, was, wie lange und je nach Kombination von uns Jungs verlangt war. Unsere Körper waren der Spielgrund des Klassenkampfes, Homeboys und Thugs waren Statussymbole [...]»

Da ist der DJ, der in Südafrika als Schweizer und als «Farbiger» und in der Schweiz als Schwarzer und Schwuler verschiedenste Ausdifferenzierungen von Rassismus erfährt. Und die Stripperin, die nicht viel von sich preisgibt, aber darin geübt ist, sich durchzuschlagen und aufs Gaspedal zu treten.

Einig sind sich die drei immer wieder: Wir müssen aus dieser Schweizer Miniatur heraus.

Eine Schweiz in der Schweiz

Es beginnt ein Wettlauf gegen die Schweiz, nur gelingt die Flucht eine nach der anderen nicht. Und so landet der Text wieder und wieder in den Verstrickungen der Schweiz mit dem südafrikanischen Apartheidsstaat, dem Schweizer Antisemitismus, der Queerfeindlichkeit, den Verdingkindern und den Kindswegnahmen von jenischen Familien. Die Flucht vor der Geschichte, das macht Schneeberger deutlich, die gibt es nicht.

In rasendem Tempo wird die Kulturgeschichte der Schweiz heraufbeschworen, verfremdet und komisch aufbereitet: «In der Schweiz geht es gesungen immer um den Himmel. Sagst du jetzt. Ja, die Brämen, Campari Soda, Alpenflug … Belpmoos … … Bälpmoos. Anthropozän! Und in der Hymne … Hanes Härzeli wie ’nes Vögeli! Alles eis Ding.»

Die Miniatur-Schweiz ist ein mise en abyme: Eine Szene in einer Szene. Ein rhetorisches Mittel, das der Text auch immer wieder aufgreift: «Es isch emal en Maa xy, de het en hohle Zah gha [...] und dert isch gstande: Es isch emal en Maa xy, de het en hohle Zah gha [...]»

Die ewige Wiederholung und Verkleinerung ist Schneebergers Textstruktur, der Roman hat weder Anfang noch Ende. Und Schneebergers Text hat keinen Anspruch an Gradlinigkeit. Die Erzählstränge überschlagen sich, gleich wie Fakten und Fiktionen: Die queere Community etwa wird zu einer Gruppe von Hippiepreppern, sie verschanzen sich im Bunker, feiern Dragshow nach Dragshow, kiffen und nehmen Ecstasy und schauen durch ein pflanzenbewachsenes Fenster nach oben in den Himmel.

«Es gäb ja für jede Mönsch e Grund, u für ihn sigs äbä dr Undergrund»

So vermischt sich die paramilitärisch-maskuline Erzählung des Schweizer Untergrunds mit dem anderen Underground der Schweiz: Diesem der Marginalisierten, der Bedrohten und Aufmüpfigen. Die widerständig mit Baseballschlägern ausgestattet ihren Platz verteidigen. «suisseminiature» ist komisch und tragisch, belanglos und dringlich.

Fluid sind auch die Textsorten, die zwischen Gedicht und Songtext, Prosa und Parole mäandern. In «suisseminiature» ist nichts definitiv, nichts eindeutig, nichts binär. Und darauf muss man sich einlassen: Verstehen und einordnen ist nicht das oberste Gebot. Und deshalb ein kleiner Tipp an die Leser*innen: Nicht verzweifeln, wenn etwas nicht aufgeht, sondern geniessen und lernen, was es zu lernen gibt. Zum Beispiel, dass die der Wahrheit entsprechende «suisseminiature» eigentlich die Langstrasse in Zürich sei. 

Am 6. Dezember um 19 Uhr liest X Schneeberger in der Aula des Progr aus «suisseminiature».

X Schneeberger: «suisseminiature», Verlag die Brotsuppe, 284 Seiten.

 

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