Zügelstress am Gymer

Seit 2015 ist bekannt, dass die Berner Gymnasien spätestens 2023 überbelegt sein werden. Trotzdem wurde zu spät gehandelt. Jetzt ziehen die Schulen von einer Zwischenlösung zur nächsten.

Interview mit Schulleiter des Gymnasium Lebermatt, Bernhard Blank zum Thema Raumnot. Aktuell findet der Unterricht aufgrunddessen auch im Wankdorfcenter statt. 

Schulzimmer an der Wankdorffeldstrasse 102

Fotografiert im Auftrag die Online Zeitung Haupstadt Bern, neuer Berner Jouranlismus

© Dres Hubacher
An der Wankdorffeldstrasse 102 haben die Berner Gymnasien wegen Raummangel Unterricht. (Bild: Dres Hubacher)

Es ist ein Industriegebäude von 1858. Selbst das Grau der Fassade ist verbleicht, von der Schreinerei nebenan sind Sägegeräusche zu hören. Ist das der richtige Ort? Kurz Google Maps befragt: Ja, das ist die Wankdorffeldstrasse 102 in Bern.

Drinnen setzt sich das Bild fort: viel Beton und Bauplanen. Erst der zweite Stock fühlt sich nach Schule an, mit einer Cafeteria und farbigen Stühlen, einem Lehrer*innenzimmer, sauber beschrifteten Glastüren, die in lichtdurchflutete Klassenzimmer führen. 

Hier bereiten sich seit letztem August Gymnasiast*innen auf die Matura vor. Der Kanton Bern hat den Gymnasien die Halle im Wankdorf zur Zwischennutzung zur Verfügung gestellt. Denn in den städtischen Mittelschulen herrscht Platznot. Und das schon seit einiger Zeit. 

Kinderreicher Kanton Bern

2015 besuchten 107’569 Schüler*innen die obligatorische Schule. Das waren 20’000 mehr als noch fünf Jahre zuvor. Woher kamen all die Kinder innert kurzer Zeit?

«Das ist eine ganz einfache 'Milchbüechli-Rechnung'», sagt Bernhard Blank, Rektor des Gymnasiums Lerbermatt. Den Statistiken ist zu entnehmen, dass dies am starken Bevölkerungswachstum der vorhergehenden zehn Jahre im Kanton Bern liegt. Die meisten der zusätzlichen Kinder waren 2015 kürzlich eingeschult worden und besuchten jetzt Kindergärten und Primarschulen. 

Interview mit Schulleiter des Gymnasium Lebermatt, Bernhard Blank zum Thema Raumnot. Aktuell findet der Unterricht aufgrunddessen auch im Wankdorfcenter statt. 

Bernhard Blank, Schulleiter des Gymnasium Lebermatt

Fotografiert im Auftrag die Online Zeitung Haupstadt Bern, neuer Berner Jouranlismus

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Bernhard Blank beschäftigt die Raumplanung schon seit acht Jahren. (Bild: Dres Hubacher)

Als Bernhard Blank 2015 die Schüler*innenzahlen sah, ahnte er, was acht Jahre später auf ihn und die anderen Berner Gymnasien zukommen würde, wenn die damaligen Erstklässler*innen ins Mittelschulalter kommen würden. Für die Rektor*innen der vier Berner Gymnasien wurde die Schulraumplanung von da an zu einem zentralen Thema. 

Erste Station: Wankdorf 

Trotzdem platzen die Berner Gymnasien heute wortwörtlich aus allen Nähten. Das Schulhaus Neufeld beherbergt 1’500 Schüler*innen, obwohl es ursprünglich für 800 gebaut worden ist. Und im Gymnasium Lerbermatt  sitzen statt der vorgesehenen 40 Klassen heute 59. «Allein Ende dieses Schuljahres gehen zehn Klassen, und es kommen dreizehn neue, sagt Bernhard Blank. Genügend Schulzimmer, um all die Klassen unterzubringen, gibt es in den Schulhäusern nicht.

Es musste eine Zwischenlösung her. Das kantonale Amt für Grundstücke und Gebäude stellte den ehemaligen Campus der Berner Fachhochschule an der Wankdorffeldstrasse 102 dafür zur Verfügung. Erfahren haben das die Schulleitungen der Berner Gymnasien nur neun Monate vor Inbetriebnahme letzten August. «Eine extrem kurze Vorbereitungszeit», meint Rektor Bernhard Blank.

Interview mit Schulleiter des Gymnasium Lebermatt, Bernhard Blank zum Thema Raumnot. Aktuell findet der Unterricht aufgrunddessen auch im Wankdorfcenter statt. 

Aussenansicht Wankdorffeldstrasse 102

Fotografiert im Auftrag die Online Zeitung Haupstadt Bern, neuer Berner Jouranlismus

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Von aussen kann man nicht erahnen, dass sich in dem alten Industriegebäude an der Wankdorffeldstrasse 102 Berner Gymnasiast*innen in den Gängen tummeln. (Bild: Dres Hubacher)

Nachfrage beim Kanton. Für die beiden zuständigen kantonalen Ämter sei erst durch die Zahlen von 2021 und 2022 ersichtlich worden, dass die Schüler*innenzahl so stark ansteigen würde, schreiben sie auf Anfrage der «Hauptstadt». Da hätten sie realisiert, dass der «im Rahmen von laufenden Bauprojekten eingeplante zusätzliche Schulraum» nicht ausreichen würde. 

Nächste Station: Liebefeld 

Die Berner Gymnasiast*innen haben jeweils für einen Morgen oder einen Nachmittag in den Zwischennutzungsräumen an der Wankdorffeldstrasse 102 Unterricht. Begeistert sind sie davon nicht: Es sei umständlich, hierherzukommen. Und einen Austausch mit den anderen Gymnasien gibt es nicht, obwohl alle auf den gleichen zwei Stöcken Schule haben. Am liebsten wären sie nicht hier, sondern in ihren gewohnten Schulzimmern, erzählen Gruppen von Schüler*innen, die in den Gängen im Wankdorf auf Sofas sitzen und auf ihre nächste Schulstunde warten. 

Doch dieser Wunsch wird sich vorerst nicht erfüllen. Denn den aktuellen Gymnasiast*innen und ihren Nachfolger*innen stehen unstete Jahre bevor: Nach zwei Jahren läuft die Zwischennutzung im Wankdorf aus. Dann sieht der Kanton vor, dass die Gymnasien Neufeld, Lerbermatt, Hofwil und Kirchenfeld ihre Klassen halbtageweise in den Businesspark an der Waldeggstrasse 51/51a im Liebefeld-Quartier einziehen lassen, um den wachsenden Flächenbedarf abdecken zu können. Für den Ausbau und die jährlichen Mietkosten hat der Grosse Rat im März dieses Jahres einen Kredit in der Höhe von 32,7 Millionen Franken gewährt. Der Vertrag läuft bis Ende des Schuljahres 2033. Über den erneuten Umzug wurden die Schüler*innen noch nicht offiziell informiert. 

Interview mit Schulleiter des Gymnasium Lebermatt, Bernhard Blank zum Thema Raumnot. Aktuell findet der Unterricht aufgrunddessen auch im Wankdorfcenter statt. 

Michelle Furrer, Geschichtslehrperson während dem Unterricht in einem Schulzimmer an der Wankdorffeldstrasse 102

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Die Geschichtslehrerin Michelle Furrer vom Gymnasium Lerbermatt unterrichtet in einem Schulzimmer an der Wankdorffeldstrasse 102. (Bild: Dres Hubacher)

Doch wenn die Gymnasien schon seit 2015 wussten, dass ein Schüler*innenwachstum und somit ein Raumproblem auf sie zukommt: Wieso musste dann eine derart kurzfristige Lösung her? Konnte man dem Problem nicht vorbeugen?

Die Schulleitungen sahen es kommen, der Kanton nicht

Darauf hat Bernhard Blank eine klare Antwort: «Die Schulleitungen sind dafür nicht zuständig. Sondern das Mittelschul- und Berufsbildungsamt.» Es trifft die wichtigsten Entscheidungen rund um die Zukunftsplanung der Berner Gymnasien.

«Dem Raumproblem wurde zu wenig Beachtung geschenkt», sagt der Rektor. Die Schulleitungen der anderen Berner Gymnasien und er haben gemeinsam versucht auf das Problem aufmerksam zu machen. Doch passiert sei nichts, bis es fast zu spät war.

Im Liebefeld wartet also eine zweite Zwischenlösung auf begrenzte Zeit. Bernhard Blank hat Verständnis für den Widerwillen seiner Schüler*innen. «Für eine Schule ist es weder einfach noch gut, an zwei Standorten gleichzeitig zu sein», sagt der Rektor. 

Klar ist: Für immer kann eine Zwischennutzung nicht sein. Wie geht es also weiter?

Langfristige Lösung gesucht

Aufgrund ihres Standortes mitten in der Stadt können weder das Gymnasium Kirchenfeld noch das Gymnasium Neufeld weiter ausbauen, um Platz für mehr Schüler*innen zu schaffen. Zwar hat der Berner Regierungsrat im Mai 2023 beim Grossen Rat einen Kredit von 62 Millionen Franken für Neu- und Umbauten am Gymnasium Hofwil beantragt, doch auch das wird den steigenden Flächenbedarf nicht annähernd decken können.

Interview mit Schulleiter des Gymnasium Lebermatt, Bernhard Blank zum Thema Raumnot. Aktuell findet der Unterricht aufgrunddessen auch im Wankdorfcenter statt. 

Bernhard Blank, Schulleiter des Gymnasium Lebermatt

Fotografiert im Auftrag die Online Zeitung Haupstadt Bern, neuer Berner Jouranlismus

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Bernhard Blank hofft auf weniger «Zügelstress» für das Gymnasium Lerbermatt. (Bild: Dres Hubacher)

Die genaue Beobachterin erkennt auf Google Maps ein ansehnliches Stück Wiese auf dem Grundstück des Gymnasiums Lerbermatt. Würde sich das für einen Anbau eignen?

«Theoretisch wäre das machbar. Eine solche Entscheidung liegt aber nicht bei mir», meint Bernhard Blank. 

Doch solche Pläne existieren noch nicht offiziell. Dafür geistert eine neue Idee durch Bern: ein Gymnasium in Bern West. Eigentlich wäre es logisch: Bern West ist die einzige Ecke in Bern, in der noch kein Gymnasium steht. Die Region ist somit geografisch schlechter an die schulische Infrastruktur angeschlossen.

2022 ging im Grossen Rat ein Postulat ein, das ein Gymnasium in Bern-West als Lösung für die Schulraumknappheit fordert. Der Regierungsrat stellte in seiner Antwort klar, langfristig ein weiteres Gymnasium an einem neuen Standort prüfen zu wollen. Ob das in Bern West sein könnte, liess er vorerst offen. Auf städtischer Ebene hielt der Gemeinderat in der Antwort auf ein analoges Postulat fest, dass die Stadt im Westen von Bern keine freien Grundstücke und Liegenschaften besitze, die für ein Gymnasium in Frage kämen.  

Interview mit Schulleiter des Gymnasium Lebermatt, Bernhard Blank zum Thema Raumnot. Aktuell findet der Unterricht aufgrunddessen auch im Wankdorfcenter statt. 

Eingang

Fotografiert im Auftrag die Online Zeitung Haupstadt Bern, neuer Berner Jouranlismus

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2023 im Wankdorf, 2024 im Liebefeld. Was wird die nächste Station sein? (Bild: Dres Hubacher)

Das kantonale Mittelschul- und Berufsbildungsamt arbeitet momentan an einem Projekt, um den langfristigen Schulraumbedarf abzudecken. Dafür prüft es die Zahl und das Einzugsgebiet der Schüler*innen um herauszufinden, wo ein potentiell neues Gymnasium stehen könnte. 

Chaotische Zukunft

Die Raumknappheit ist nicht der einzige Grund für die turbulente Zukunft der Berner Gymnasien: Für die Gymnasien Neufeld und Kirchenfeld stehen zusätzlich noch Sanierungen an. Konkret wird das für die Schulen eine Reihe von Umzügen über einen Zeithorizont von mindestens zehn Jahren bedeuten, weil die gesamten Schulgebäude während mehrerer Jahre überhaupt nicht genutzt werden können. 

So werden die beiden Gymnasien zusätzlich zur Zwischennutzung im Liebefeld temporär an die Schänzlihalde bei der Lorrainebrücke ziehen, wo momentan die Schule für Gestaltung Bern und Biel unterrichtet. Diese wiederum wird für zehn Jahre nach Deisswil umsiedeln. 

Langweilig wird es in den Berner Gymnasien, zumindest was die Räumlichkeiten angeht, in den nächsten zehn Jahren nicht.

*In einer früheren Version dieses Textes hiess es, der Regierungsrat habe ein interfraktionelles Postulat des Grossen Rates, das ein Gymnasium in Bern-West als Lösung für die Schulraumknappheit forderte, mit der Begründung abgelehnt, die Stadt besitze im Westen von Bern keine freien Grundstücke und Liegenschaften. Das ist falsch – Grosser Rat und Regierungsrat haben das Postulat angenommen, ausserdem war das Postulat kein interfraktionelles. Abgelehnt wurde jedoch ein analoges interfraktionelles Postulat auf Gemeindeebene, das 2022 im Stadtrat einging. Der Gemeinderat lehnte es mit der Begründung ab, die Stadt besitze im Westen von Bern keine freien Grundstücke und Liegenschaften. Wir haben den Fehler korrigiert.

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Diskussion

Unsere Etikette
Sarah Aeschbacher
04. Juni 2023 um 05:49

Ein Gymnasium Bern-Ost könnte aus einer viel grösseren Einzugsregion Schüler:innen abfangen… aber Ok; es braucht einfach ein neues Gymnasium, wo in der Stadt, ist am Ende nicht so relevant. Ausser für den Pendler:innenbetrieb.

Casimir von Arx
03. Juni 2023 um 12:56

Das Postulat "Ein Gymnasium für Bern-West als Lösung für die drohende Schulraumknappheit" wurde vom Regierungsrat nicht abgelehnt, sondern zur Annahme empfohlen. Da es sich um einen Prüfauftrag handelt, kann der Regierungsrat natürlich auch andere Lösungsansätze für einen zusätzlichen Gymnasialstandort prüfen. Der Grosse Rat nahm das Postulat diskussionslos an. (Es handelte sich überdies nicht um ein interfraktionelles Postulat.) Siehe https://www.gr.be.ch/de/start/geschaefte/geschaeftssuche/geschaeftsdetail.html?guid=10fac98e551a4ccc8c1f367695b8666e).

Die Raumknappheit am Gymnasium Lerbermatt hat teils auch einen weiteren Grund: Zurzeit befinden sich dort sechs Volksschulklassen mit entsprechendem Raumbedarf. Diese Situation können die Stimmberechtigtne der Gemeinde Köniz demnächst an der Urne neu regeln, so dass am Gymnasium Raum frei wird und weniger Gymnasiast:innen in andere Schulhäuser geschickt werden müssen.

Rahel Meyer
03. Juni 2023 um 06:23

Exakt das gleiche Problem besteht auch an vielen Volks- und Sonderschulen der Stadt Bern. Da werden Singsääle und Chemiezimmer zu Klassenzimmern, Kellerräume, Vorbereitungszimmer und Sitzungszimmer umfunktioniert, neue Gebäude sind von Anfang an zu klein und es werden Container aufgestellt. Schüler*innenzahlen werden ungeniert erhöht. Die Schulleitungen warnen und kämpfen seit Jahren... es werden jedoch häufig nur irgendwelche "Notlösungen" beschlossen. Und ausbaden dürfen es Lehrpersonen und Schüler*innen...